Vom Wind erfasst, kräuselt Sand über der Fahrbahn, zieht vorbei an niedrigen Bäumen mit mickrigen Blättern und Ziegen, die so dürr sind wie ihre Hirten. Trockene Äste sind zu runden Hütten verflochten, die den Menschen hier draußen in der Wüste Thar Unterschlupf gewähren. Achtzig Kilometer vor der Stadt Bikaner stehen wir mitten drin in der sandigen Weite, die sich vom Norden Rajasthans bis hinüber nach Pakistan erstreckt.
Zwischen einer Menge bunter Stoffballen erreichen wir mit einem schweigsamen Sariverkäufer Bikaner. Aus der Stille des Fahrzeugs treten wir in eine laute Stadt. Motoren heulen. Hundertfaches Hupen quakt durch die Straßen. Es ist Teil der nonverbalen Kommunikation, Ausdruck von Emotionen, Zeitvertreib: Wer hupt, grüßt einen alten Bekannter, beschwert sich über den stockenden Verkehr, überholt, biegt ab, fährt über eine Kreuzung, fordert andere zum Handeln auf oder will eben jenes verhindern, vertreibt Hunde, Schweine, Hühner, Ziegen oder Fußgänger von der Fahrbahn. Manchmal animiert auch ein Lied im Radio. Selbst die heiligen Kühe sind nicht davor gefeit, angehupt zu werden. Das Hupen ist so präsent, dass es von allen Verkehrsteilnehmern ignoriert wird. Wer nur einmal hupt, meint es ohnehin nicht ernst. So wie bei einem Klingelstreich, bei dem man nach dem ersten Ton auflegt.
Das konsequente Hupkonzert auf Indiens Straßen, geht den Fahrern in seiner kakofonischen Melodie in Leib und Blut über. Bikaner rauscht in unseren Ohren. Gegründet 1488, war die Stadt einst eine wichtige Station für Kaufleute, die mit ihren Karawanen durch die Wüste zogen, um die vielen Fürstentümer der Rajputen mit allerlei Waren zu beliefern.
Heute liegt Bikaner im Abseits. Die großen Städte Rajasthans – Jaipur, Jodhpur, Jaisalmer – prägen mit ihren wuchtigen Festungen, reichen Palästen und farbenfrohen Gassen die Provinz. Auch Bikaner steht ihnen mit dem Junagarh Fort kaum nach, empfängt aber nicht annähernd so viele Touristen wie die übrigen Städte.
Enge, dunkle Gassen führen vorbei an Märkten und Tempeln zu Havelis, in denen einst reiche Kaufleute residierten. Müllberge lehnen an rostenden Abfalltonnen. Kühe bahnen ihren Weg durch faulende, halbvergorene Lebensmittelreste. Krähen hüpfen über aufgeplatzte Müllbeutel, die ihren Inhalt wie Eingeweide präsentieren. Beißender Geruch hängt darüber. Alles versinkt im Unbehagen.
Plötzlich sprintet ein Mann herbei. Anzughose, Hemd, Hornbrille. Ein helles Tika schmückt seine Stirn oberhalb der Nasenwurzel. Ohne zu zögern, steigt er in den Müll, wo gerade eine heilige Kuh ihre Blase entleert. Der Mann beugt sich vor, fährt mit der Hand in den Urinstrahl und betupft mit den nun nassen Fingern seine Stirn. Die Kuh schaut dümmlich an die gegenüberliegende Wand. Vom Segen, den ihre Erleichterung bringt, ahnt sie nichts. Mit warmem Rinderurin im Gesicht geht der Mann seines Weges, ohne Eile, ohne Aufregung, aber mit der Gewissheit, dass die Götter ihm beistehen.
Rund um Bikaner ist das eine angenehme Vorstellung. Bis an die pakistanische Grenze, wo etwa 120.000 indische Soldaten stationiert sind, ist es nicht mehr weit. Zwei Erzfeinde, zwei Atommächte – quer durch die Wüste gehört das Gebiet zwischen Rajasthan und dem pakistanischen Punjab zu den am schwersten bewachten Grenzen der Welt. Gewaltige Windparkanlagen liefern ausschließlich Strom für die indischen Streitkräfte und die Grenzzaunbeleuchtung.
Ein Gott, der sich besonders zur Verehrung im Grenzgebiet eignet, ist Ganesh. Der Elefantenköpfige gilt als Wächter der Türen und Herr der Hindernisse, als klug und geschickt. Keine schlechten Eigenschaften, wenn die Armee nebenan auf heißen Kohlen sitzt.
Außerdem ist Ganesh der Beschützer der Reisenden, weshalb wir dem schlauen Vielfraß zugewandt sind. So wie wir wandert auch Ganesh über den indischen Subkontinent. Allerdings bemüht er nicht den Daumen. Ganesh reitet durch die Welt – auf dem Rücken einer Ratte. In Indien geht so etwas und hier in Bikaner ist die Ratte ebenso heilig wie ihr Reiter.
Packliste
Unsere Ausrüstung muss einiges aushalten. Seit über 7,5 Jahren sind wir dauerhaft unterwegs und strapazieren unser Hab und Gut im täglichen Einsatz. Einiges hat bei uns nur kurze Zeit überlebt, doch anderes bewährt sich mittlerweile seit Jahren und wir sind von der Qualität überzeugt. Unsere Empfehlungen könnt ihr hier nachlesen.Der Rattentempel Shri Karni Mata
Im Dorf Deshnok, dreißig Kilometer südlich von Bikaner, steht der Shri Karni Mata-Tempel hinter rosafarbenen Mauern. Italienischer Marmor ziert den Eingang zu einem lichtdurchfluteten Innenhof. Dunkle Winkel und schattige Arkaden führen durch den schmucklosen Tempel. Nur mit Mühe gewöhnen sich die Augen an das dumpfe Licht. Mauerritzen und Nischen zeichnen sich in der Dunkelheit ab. Und dann erblicken wir die Ratten. Überall. Zu Tausenden fallen sie durch die Löcher der Tempelwände, huschen entlang der Mauern, stoßen ineinander; kurze Kämpfe, hastig, wuselig, schnell.
Sie huschen durch Türen und über Treppenstufen, klettern bis auf die Balken unterm Dach, marschieren hin und her auf der Suche nach was weiß ich. Körner, Essensreste und Rattenkot liegen überall verstreut.
An den Wasserstellen verharren die Tiere einen Augenblick. Dunkle Knopfaugen schauen aus verfranztem Fell hervor. Geknickte Schwänze schleifen über den Boden. Der Andrang ist groß, von hinten wird geschoben, vorne gibt es keinen Halt mehr. Platsch, die erste Reihe fällt geschlossen in die Wasserschüssel, aus der die Tiere flink wieder heraus paddeln.
Während wir dem wilden Treiben zuschauen, haben die ersten Ratten schon unsere Hosenbeine geentert. Mit trippelnden Pfoten laufen sie über unsere Füße, zwicken in unsere Zehen. Die Ratten kennen keine Scheu. Ganz im Gegenteil. Große Rattenknäule kugeln in den Ecken. Die Tiere kraxeln auf Absperrgitter, toben und balgen durch den gesamten Tempel. Hoch oben über dem Innenhof ist ein Netz gespannt, das die Ratten in ihrem Eifer vor Raubvögeln schützen soll.
Das alles ist schon skurril, doch wir wären nicht in Indien, wenn es keine abgefahrene Geschichte zum Shri Karni Mata-Tempel gäbe. Die Ratten werden von der hier lebenden Charan-Gemeinde als Ahnen verehrt. Der Kult reicht zurück ins beginnende fünfzehnte Jahrhundert. Damals lebt Karni Mata, eine Frau, der allerlei Wunder und Wiederbelebungen nachgesagt werden. Sie gilt als Inkarnation der Göttin Durga, der weiblichen Urkraft, ist die Schutzpatronin der Rajputen in Bikaner und Jodphur und in ihrer Zeit eine kleine Berühmtheit.
So geschieht es, dass sie von ihren Anhängern, den Charan, gerufen wird, weil ein Kind im Sterben liegt. Karni Mata macht sich auf den Weg, doch sie kommt zu spät. Der Körper des Kindes ist verwelkt, die Seele im Reich der Toten. Von dort fordert sie Karni Mata zurück, doch Yama, der Totengott, hat schlechte Nachrichten: „Hör zu“, sagt er, „ich kann dir die Seele nicht zurückgeben. Sie wandelt bereits in neuer Gestalt auf der Erde.“ Nichts zu machen. Karni Mata ist wütend. Sie verfügt in ihrem Trotz, dass alle Mitglieder der Charan-Gemeinde fortan als Ratten wiedergeboren werden; denn auf die Seelen der Ratten hat Yama keinen Zugriff.
Seitdem bevölkern die Nager den Shri Karni Mata-Tempel in Deshnok. Etwa zwanzigtausend sollen es sein. Es sind Väter und Großväter, Mütter und Tanten. Sie sind Teil der Familie, verbunden durch den Glauben an die Inkarnation. Wenn eine Tempelratte stirbt, so erzählen es die Einheimischen in Deshnok, wird sie als Mensch in der Charan-Gemeinde wiedergeboren. Es ist ein ewiger Kreislauf.
Pilger kommen von weit her und opfern Lebensmittel im Tempelinneren. Kekse und Chips liegen da, aber auch Früchte, Reis, Gemüse. Die Ratten knabbern sofort drauf los. Was die Tiere auf den silbernen Tellern verschmähen, bleibt für die Menschen. Es soll Glück bringen, die Reste der Rattenmahlzeit zu essen. Im Getümmel gibt es außerdem eine Handvoll weißer Ratten. Wer sie erblickt, gilt als gesegnet. Manche Gläubige verbringen Stunden vor einer Mauerritze in der Hoffnung, dort eines der seltenen Tiere zu erblicken.
Auch wir betrachten die Ratten. In ihrem Wuseln erscheinen sie uns wie ein Modell des großen Indiens. Zu viel Trubel, zu viel Durcheinander. Lagerkoller. Das Fell ist borstig und zerschlissen, viele Tiere machen keinen gesunden Eindruck. Aber heilig ist heilig. In Indien gibt es nichts Wichtigeres. Ob eine heilige Ratte auch eine gesunde Ratte ist, interessiert niemanden. Die Spiritualität schert sich nicht um rationale Gedanken.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.