Markha Tal, Ladakh, Indien, Titel
Schneeblind im Himalaja

Das Markha Tal: Wandern in Ladakh


3. September 2020
Indien
Schreibe etwas

Ich sitze auf einem Stuhl im Behandlungszimmer des Militärkrankenhauses in Leh. Zumindest ist es das, was mir erzählt wird. Meine Augen sind verschlossen. Eng anliegende Bandagen verdunkeln mein Sichtfeld. Seit drei Tagen bin ich nun schon blind, nehme je nach Sonnenstand nicht mehr als helle Flecken oder vollkommene Dunkelheit wahr. „Die Leute machen Platz für dich.“, heißt es. Ich muss echt beschissen aussehen, denke ich.

Hände, von denen ich hoffe, dass sie zum Krankenhauspersonal gehören, fummeln an meinem Gesichtsverband herum. Schicht für Schicht tragen sie die Bandagen ab. Doch meine Augen bleiben verschlossen, verkrustet, verklebt, verbrannt. „Du musst die Augen öffnen.“, sagt eine Stimme, bevor Fingerkuppen irgendeine Creme auf meine Netzhaut schmieren wollen. So wie in den vergangenen Tagen. Geholfen hat es nicht. Stattdessen rollen Tränen über meine Wangen. Ich bin blind. Scheiße!

Zehn Tage zuvor ist die Welt noch in Ordnung. In der buddhistischen Bergregion Ladakh schlendern wir durch das Städtchen Leh. Zu unserer Linken erheben sich weit entfernt die Gipfel des Himalajas und zu unserer Rechten die des Karakorums. Dazwischen befinden sich eine Handvoll kleinerer Gebirgsketten, die immer noch weit über sechstausend Meter in den Himmel emporragen.

Wir nippen an Zitronentee mit Ingwer und Honig. Leh ist ein friedlicher Ort, gemütlich genug, um es hier Wochen und Monate auszuhalten. Doch wir wollen wandern, wollen tagelang durch die Natur stapfen. Nur wir und unser Zelt, umgeben von alten Gompas und Chorten, schroffen Felsen, schneebedeckten Gipfeln und Bergpässen. Abenteuerromantik. Wir freuen uns auf die Zweisamkeit mitten in den Bergen.

Das Markha Tal ist unser Ziel. Mehr als einhundert Kilometer führt die Wanderung südlich der Stok-Bergkette durch eine Handvoll buddhistischer Dörfer. Sie überwindet zwei Bergpässe und gilt aufgrund der Höhenlage und steilen Anstiege als anspruchsvoll. Dennoch zählt sie zu den beliebtesten Touren in Ladakh. Jetzt, Ende Mai, sind die Pässe auf der Zufahrtsstraße von Manali nach Leh allerdings noch immer von Schnee und Eis blockiert. Nur wenige Touristen befinden sich mit uns in der Bergregion.

Gebetsmühlen, Markha Tal, Ladakh
Gebetsmühlen im Markha Tal

Die Ödnis im Hochgebirge

In Spituk beginnt unsere Wanderung. Sieben Kilometer von Leh entfernt sind wir mitten im kalten, trockenen Hochland. Lediglich der Indus durchschneidet die Ödnis. Aus Tibet kommend windet er sich durchs Gebirge, fließt durch Pakistan und mündet im Arabischen Meer. Der Fluss ist unsere Konstante in der Höhe. Immer wieder folgen wir in den zurückliegenden Wochen und Monaten seinem Lauf durch die Schönheit der Berge.

Bei Spituk überqueren wir den Indus über eine monströse Metallbrücke. Hunderte buddhistische Gebetsfahnen flattern im Wind. Ihre Farben sind stumpf, verblichen im Sonnenlicht, verdreckt von Sand und Staub. Aus ihnen wehen Mantras hinaus in die Berge, die Wanderer und Hirten gleichermaßen auf ihren Wegen beschützen.

Saftig grüne Pappeln stehen am Ufer des Indus. Dahinter liegt alles braun in grau. Berge und Täler, Felder und Wege. Schneebedeckte Kuppen erheben sich unter einem diffusen, wolkenverhangenen Himmel. Die Spituk Gompa, ein buddhistisches Kloster, schmiegt sich seit dem elften Jahrhundert an einen nahen Hang und überblickt die Ebene bis nach Leh.

Wanderer im Markha Tal, Ladakh, Indien
in Spituk beginnen wir die Wanderung zum Markha Tal
Indus, Ladakh, Indien
buddhistische Gebetsfahnen am Ufer des Indus
Wanderin in Ladakh, Indien
Zinchan, Ladakh, Indien
entlang des Zinchans durchs Gebirge

Die Gegend hier ist menschenleer. Gerade einmal drei Einwohner pro Quadratkilometer leben hier. Die meisten von ihnen sind Hirten. Um uns herum liegt karges Land. Nichts als Staub und Sand und eine asphaltierte Straße, die wie ein graues Band durch die Ebene führt. Braun, Ocker und Kaki sind die Farben der Saison.

Kilometer um Kilometer folgen wir dem Asphalt. Erst entlang des Indus und dann in die Schlucht des Flusses Zinchan. Hier beginnt der Hemis Nationalpark. In ihm streifen Schneeleoparden, Braunbären, Luchse und Wölfe durch das Hochgebirge. Sie machen Jagd auf wilde Schafe und Ziegen, Steinböcke, Murmeltiere und manchmal auch auf die Herden der einheimischen Hirten.

Kalter Wind treibt uns Sand in die Augen. Nichts erfreut unseren Blick. Da ist kein Ziel, keine Aussicht, kein Ansporn. Jeder Schritt wird zur Herausforderung. Schön ist hier nichts, nicht einmal die Ödnis. Stunde um Stunde wandern wir durch die trostlose Landschaft. Durchhalten. Dann ist der Kopf leer und das Wandern wird zur Meditation.

Bei Zinchan endet der Asphalt. Der Weg wird schmaler, steiniger, wilder. Roter Fels formt eine enge Schlucht. Geröll reicht von beiden Seiten bis an den Pfad. An niedrigen Sträuchern sprießen mickrige Blättchen. Ein verfallener Chorten neigt sein steinernes Haupt. Weit hinter der Schlucht ragen verschneite Gipfel empor.

Zinchan, Rumbak, Yurutse heißen die Siedlungen, zu denen oft nicht einmal eine Handvoll weiß getünchter Häuser gehören. Bleiche Schädel mit prächtigen Hörnern zieren die Gehöfte. Sie sollen böse Geister erschrecken. Yaks trotten mit zotteligem Fell umher, suchen die leckersten Halme im nährstoffarmen Gras. Die Dörfer sind oft menschenleer. Ganz selten sehen wir irgendwo in der Ferne einen Hirten oder eine Bäuerin. Gekleidet in wollene Pullover und robuste Stoffe trotzen sie dem strengen Klima in der Höhe. Es ist kalt und doch versengt die Sonne bereits nach kurzer Zeit die Haut. Besonders die eisigen Nächte im Zelt machen uns zu schaffen. Erst gegen Mittag steigen die Temperaturen auf ein wohliges Maß. Seit drei Tagen wandern wir und sind bereits auf über viertausendeinhundert Höhenmeter gestiegen.

zelten in Ladakh, Indien
Wanderung zum Markha Tal, Ladakh, Indien
auf dem Weg ins Markha Tal erheben sich bunte Berge
Manimauer, Markha Tal, Ladakh, Indien
buddhistische Mantras zieren Manimauern am Rand des Pfades
Siedlung im Hochgebirge, Ladakh, Indien
Wanderung zum Markha Tal, Ladakh, Indien

Ganda La, der Pass und die Murmeltiere

Hinter Yurutse geht es steil bergauf. Der Pfad führt zum Ganda La, einem knapp fünftausend Meter hohen Bergpass. In der Gerölllandschaft kommen wir nur langsam voran. Yaks zupfen dunkle Blätter von niedrigen Sträuchern. Trockenes Gras wächst dazwischen. Wenn die winterlichen Temperaturen gegen Ende Juni allmählich nachlassen, sprießen hier herrliche Weiden mit duftenden Wildblumen. Doch jetzt, einen Monat zuvor, gleicht die kalte Steppe einer Wüste. Minerale treten aus dem schroffen Gestein und kleiden die umliegenden Hügel mal in dunkles lila, mal in leichtes grün.

Murmeltiere suchen auf dem kargen Untergrund nach Gräsern und Kräutern. Uns bleibt die Luft weg. Kurzatmig sacken wir auf einem Felsrücken zu Boden. Einatmen, ausatmen. Würzige Erdnüsse sollen uns Energie liefern und doch bleibt jede Bewegung ein Kraftakt. Ich würde gerne sitzen bleiben; für immer oder wenigstens für ein paar Tage. Doch unser Weg ist noch weit und im Hochgebirge, das haben wir bereits zu Beginn der Wanderung begriffen, ist Willenskraft entscheidend.

Fünfeinhalb Stunden brauchen wir von Yurutse bis hinauf auf den achthundert Meter höher gelegenen Ganda La. Gefrorener Schnee knirscht unter unseren Füßen. Gebetsfahnen knattern im pfeifenden Wind. Es ist bitterkalt. Am Horizont erheben sich die Ladakhgebirgskette und die imposanten Zanskarberge, die in den Himalaja übergehen.

Yak, Markha Tal, Ladakh, Indien
Yak hinter Yurutse
Wanderin im Hochgebirge, Markha, Ladakh, Indien
Pause im Hochgebirge
Murmeltier, Markha Tal, Ladakh
Murmeltier am Ganda La
Wollhasen, Markha Tal, Ladakh
Tibetische Wollhasen hoppeln über das Geröllfeld am Ganda La
Markha Tal, Ladakh
Abstieg ins Markha Tal

Hinter dem Ganda La liegt das Markha Tal. Der Abstieg gelingt uns wesentlich leichter. Die Müdigkeit nimmt ab. Unsere Atmung normalisiert sich. Bharals, Gebirgsziegen, zupfen an einem Hang Blätter von dürren Zweigen. Ganz weit entfernt glauben wir, einen Luchs zwischen den Fels zu erkennen. Vielleicht ist es sogar ein Schneeleopard, der hier um den Ganda La noch vergleichsweise zahlreich vorkommt. Auch Wölfe und Füchse sind in diesen Bergen beheimatet. Doch alles, was wir von ihnen sehen, ist die Beute. Tibetische Wollhasen huschen durch die Geröllwüste.

Hinter dem Ganda La wandern wir durch eine schmale, schroffe Schlucht. Karg und unfruchtbar ist sie. Chorten, Manimauern und Gebetsmühlen schmücken die Siedlungen Shingo und Skyu, die in der unwirtlichen Gegend ausharren. Dann erreichen wir das Markha Tal. Schwerbeladene Esel kommen uns entgegen. Im unwegsamen Gelände sind sie die zuverlässigsten Transportmittel. Zwei Bauern folgen ihnen mit leichten Schritten. Sie grüßen uns mit freundlichem Nicken. Worte bedarf es hier nicht.

Packliste

Packliste

Unsere Ausrüstung muss einiges aushalten. Seit über 7,5 Jahren sind wir dauerhaft unterwegs und strapazieren unser Hab und Gut im täglichen Einsatz. Einiges hat bei uns nur kurze Zeit überlebt, doch anderes bewährt sich mittlerweile seit Jahren und wir sind von der Qualität überzeugt. Unsere Empfehlungen könnt ihr hier nachlesen.

Das Markha Tal

Der Markha Fluss plätschert durch ein steiniges Bett. Sanddorn wächst in Ufernähe und zwischen den dornigen Sträuchern grasen ein paar Schafe und ein Yak. Der Ort Markha liegt bereits wieder auf dreitausendsiebenhundertsiebzig Höhenmetern. Fünfundzwanzig Häuser bilden das mit Abstand größte Dorf in der Region. Hinter der Siedlung führt das eintönige Tal weiter durch die Berge. Seit Tagen haben wir keine satten Farben mehr gesehen. Selbst die bunten Gebetsfahnen entlang des Weges sind verblasst.

Wir folgen dem Pfad entlang des breiten Flussbettes bis ins Dorf Hankar auf knapp viertausend Höhenmetern. In fünf Tagen sind wir etwa vierundachtzig Kilometer durch die Einöde gewandert. Die Höhe und die Anstrengung haben uns zugesetzt. Im Haus einer Bäuerin essen wir Linsen und Reis und zelten in der Nähe ihres Grundstücks.

Das Abenteuer beginnt am nächsten Morgen. Fünfzehn Zentimeter Neuschnee schmiegen sich an unser Zelt. Über Nacht ist aus der trockenen Ödnis ein weicher weißer Teppich geworden und noch immer fallen dicke Flocken vom grauen Himmel. Frierend sitzen wir in unseren Schlafsäcken. Draußen liegt ein Winterwunderland und es schneit so stark, dass wir nicht wagen aufzubrechen. Erst gegen Mittag reißt die graue Wolkenwand auf. Die Flocken bleiben aus. Wir machen uns auf den Weg.

wandern im Markha Tal, Ladakh, Indien
Siedlung im Markha Tal, Ladakh
die Siedlung Hankar im Markha Tal
Siedlung im Markha Tal, Ladakh
rustikale Küche in rustikaler Landschaft
Siedlung im Markha Tal, Ladakh
unsere Gastgeberin in Hankar
Neuschee im Markha Tal, Ladakh
Neuschee im Markha Tal

Am Nachmittag ist vom Schnee nichts mehr übrig. Wir wandern weiter durch ein schmales Tal, steigen immer weiter, kommen vorbei an Hochlandweiden und ummauerten Feldern. Eisschollen bedecken gurgelnde Bäche. In den letzten Sonnenstunden beginnt es erneut zu schneien. Matschige Flocken fallen auf uns herab. Wind pfeift in Böen um kantige Felsen und noch immer befinden wir uns auf dem stetig ansteigenden Pfad. Wir kommen kaum voran. Die Kälte tut ihr Übriges.

Als es bereits dämmert, erreichen wir eine Hochebene. Dunkle Wolken hängen tief über uns, während sich in der Ferne mächtige Gipfel erheben. Am Ufer eines kleinen Hochgebirgssees schlagen wir unser Zelt auf. Die Nacht auf viertausendfünfhundert Metern ist frostig. Unser Atem vereist das Innenzelt. Es ist so kalt, dass es am nächsten Morgen nicht einmal schwerfällt den Schlafsack zu verlassen, weil wir sowieso schon am ganzen Leib zittern.

Doch draußen vor dem Zelt ist die Kälte plötzlich nebensächlich. Eine atemberaubende Aussicht reicht bis zu weit entfernten Gipfeln und weißen Gletschern. Es ist so still, dass ich eine Gänsehaut davon bekomme, die nichts mit den eisigen Temperaturen gemein hat. Der zivilisatorische Geräuschteppich aus Musik und Motorenlärm liegt weit hinter uns.

Als Küstenkind waren mir Berge immer egal. Ich war noch nie in den Alpen und für viele Jahre war meine einzige Gebirgserfahrung eine Wanderung auf den Brocken. Doch hier auf der Hochebene, umgeben von prächtigen Bergkuppen, lächle ich mit euphorischer Ruhe in mich hinein. War der Weg bisher noch mäßig, bin ich nun fasziniert von der Schönheit der Natur. Sie versöhnt mich mit all den Strapazen, der Kälte, der Anstrengung. Natur hat mich noch nie enttäuscht.

wandern im Markha Tal, Ladakh, Indien
zelten auf 4.500 Höhenmetern
wandern im Markha Tal, Ladakh, Indien
Hochgebirgssee, Ladakh, Indien
Hochgebirgswandern, Ladakh, Indien
Hochgebirgswandern, Ladakh, Indien

Verloren auf der Hochebene

Die Sonne schiebt sich immer höher den Himmel hinauf. Ihre Strahlen heizen unser Zelt, lassen das Eis im Inneren schmelzen. Die Wärme breitet sich auch in unseren Gliedern aus. Heute, das spüre ich, wird ein guter Tag. Weil wir auf der schneebedeckten Ebene die Pfade nicht mehr erkennen können, orientieren wir uns an aufgetürmten Steinhaufen. Sie weisen uns den Weg, davon sind wir überzeugt. Doch nach ein paar Stunden haben wir uns weit von der Richtung entfernt, von der wir glauben, dass es die richtige ist.

Die Sonne steht bereits hoch am blauen Himmel und wir gruseln uns ein wenig. Verloren im Hochgebirge; das scheint etwas zu viel Abenteuer zu sein. Wir suchen nach Anhaltspunkten und Fährten, die uns den richtigen Weg weisen könnten und finden Hufspuren. Bingo. Wo Pferde sind, sind Hirten, wo Hirten sind, sind Behausungen und im Idealfall das Camp Nimaling zu dem wir heute wandern wollen. Wir haben uns gerade selbst gerettet.

Doch die Hufspuren entpuppen sich als Sackgasse. Sie führen in ein Seitental, wo wir nach etwa einer Stunde zwar die Pferde finden, aber keine Hirten. Die Tiere grasen tiefgekühltes Grün. Von Behausungen fehlt jede Spur. Frustriert kehren wir um. Seit fünf Stunden irren wir bereits orientierungslos durch die schneeweise Landschaft. Zugegeben, die Sache mit dem Fährtenlesen hat nicht so gut geklappt.

Als wir aus dem Seitental zurück sind, erblicken wir auf einem nahen Hügel einen Hirten mit seiner Schafherde. Zwanzig Minuten später stehen wir neben dem alten Mann und fragen nach Nimaling. Der Hirte deutet auf entfernte Berge und ist davon überzeugt, dass uns mit seiner vagen Armbewegung ausreichend geholfen sei.

Mittlerweile ist es Nachmittag, graue Wolken hängen am Himmel. Ohne die Kraft der Sonne ist es eisig kalt. Wir steuern auf die Berge zu, auf die der Hirte gewiesen hatte und müssen uns bald zwischen mehreren Abzweigungen entscheiden. Wir wählen einen ansteigenden, mit Steintürmchen markierten Pfad, denn erstens wollen wir über einen Pass, also müssen wir nach oben und zweitens haben uns diese Türmchen heute schon einmal in die Irre geführt. Es wäre lachhaft, wenn das ein weiteres Mal passieren würde. Die geringe Sauerstoffkonzentration hier oben führt zu faszinierend dummen Gedanken.

Hochgebirgswandern, Ladakh, Indien

Wir steigen bergauf. Es beginnt zu schneien – erst leicht, dann in dicken Flocken. Obwohl es noch ein paar Stunden bis zum Sonnenuntergang sind, ist es schon erstaunlich dunkel. Mühsam schleppen wir uns den steilen Hang hinauf. Windböen peitschen um uns, treiben die Schneeflocken mit scheidender Kälte in unsere Haut. In Minuten wird aus den Böen ein heftiges Schneetreiben. Wir können kaum etwas erkennen und verlieren die Steintürmchen völlig aus dem Blick. Umtost von Wind und Schnee stehen wir verlassen am Hang. Sollen wir weitergehen und hoffen, dass wir zufällig den richtigen Pfad erwischt haben oder umkehren und einen anderen Weg suchen?

Es ist der Überlebensinstinkt, der uns die Entscheidung abnimmt. Wir kehren um. Es ist bereits siebzehn Uhr. Wir haben heute weder gegessen noch getrunken. Unsere Vorräte sind aufgebraucht. Durst haben wir mit Schnee gelöscht. Wir sind körperlich und emotional am Ende. Ausgelaugt, mit vor Kälte schmerzenden Gliedern und brennenden Augen.

Voller Zweifel erreichen wir die Hochebene und da, weit entfernt, spazieren zwei Hirten mit ihren Schafen. Mit letzter Anstrengung reißen wir die Arme in die Luft, schreien, bis die Kehle schmerzt und tatsächlich bleiben die beiden Hirten stehen.

Sie kennen den Weg zum Camp Nimaling. Eine halbe Stunde entfernt liegt es. Erschöpft schleppen wir uns hinter ihnen her. Nach etwa fünfundvierzig Minuten erreichen wir das große Teezelt von Nimaling, wo bereits eine Gruppe junger Franzosen mit ihrem Guide heißen Tee schlürft. Auch uns werden zwei Tasse in die zitternden Hände gedrückt.

Langsam entspannen sich unsere Körper. Wenig später liegen wir im Zelt und bevor ich die Augen schließe, denke ich noch, was wohl passiert wäre, wenn wir die beiden Hirten nicht getroffen hätten.

Camp Nimaling, Markha Tal, Ladakh
das Camp Nimaling am Fuß des Kongmaru La
Camp Nimaling, Markha Tal, Ladakh
Schafherde im Hochgebirge

Schneeblind über den Kongmaru La

Am nächsten Morgen wecken mich stechende Augenschmerzen. Meine Lider sind verkrustet. Es fühlt sich an, als lägen dicke Sandkörner auf meiner Netzhaut. Fremdkörper, für die ich absolut keine Verwendung habe. Mein Blick ist verschwommen.

Ich torkle aus dem Zelt. Die Sonne ist bereits aufgegangen. Einer der Franzosen kommt mir entgegen. Sein Gesicht ist unscharf, nicht mehr als eine hautfarbene Masse. Ich erkenne weder Konturen noch Details. Die Welt um mich ist bis zur Unkenntlichkeit verwischt.

Es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass ich nicht träume. Und es dauert noch ein bisschen länger, bis ich begreife, dass das keine guten Nachrichten sind.

Mit vor Kälte steifen Fingern packen wir unsere Sachen zusammen, was ohne klaren Blick sehr viel mehr Zeit in Anspruch nimmt als üblich. Die jungen Franzosen sind mit ihrem Guide schon auf dem Weg zum letzten Pass und auch wir schultern endlich unser Gepäck. Schnee und Sonne sind so grell, dass der Blick geradeaus bestialische Schmerzen verursacht. Mit zusammengekniffenen Augen betrachte ich den weißen Untergrund direkt vor meinen Füßen. Mehr ist nicht drin.

Wir orientieren uns an den Fußspuren der Franzosen. Dank des frischen Schnees ist es einfach ihnen zu folgen. Manche Schritte mache ich mit geschlossenen Augen. Das lindert den Schmerz, aber dafür verliere ich den Weg. Nach zweieinhalb Stunden erreichen wir den Kongmaru La. Über dem Pass auf fünftausendeinhundertfünfzig Metern hängen Hunderte bunt leuchtende Gebetsfahnen im lauen Wind. Die Gipfel der Ladakh- und Zanskarberge ragen majestätisch empor. Ganz in der Nähe sticht der sechstausendvierhundert Meter hohe Kangyaze in den wolkenbehangenen Himmel. Die Aussicht muss beeindruckend sein. Ich kann das nicht beurteilen, denn meine Augen sind so stark angeschwollen, dass ich sie kaum noch öffnen kann. Aus Solidarität wachsen meine Nase und meine Lippen gleich mit.

Kongmaru La, Markha Tal, Ladakh
Aufstieg zum Pass
Kongmaru La, Markha Tal, Ladakh
Kongmaru La, Markha Tal, Ladakh
verquollen auf dem Kongmaru La

Der Abstieg ist steil und bald verlieren wir nicht nur die Fußspuren der Franzosen aus den Augen, sondern auch den Pfad. Stattdessen rutschen wir in einer engen Schlucht über einen zugefrorenen Fluss talabwärts. Mit eingeschränktem Blick ist es erstaunlich, wie viele Überraschungen der Weg bereithält. Felsbrocken, Eisschollen und Abzweigungen kann ich erst erkennen, wenn ich genau davor stehe. Dann ist da plötzlich dieser Tatzenabdruck im knirschenden Schnee. Hier in der Gegend soll es Braunbären geben.

An manchen Stellen müssen wir klettern und weil ich nicht erkenne, wohin ich meine Füße setze, verliere ich immer wieder Halt. Irgendwann weitet sich die Schlucht. Die Schmerzen in meinen Augen werden stärker. Sonnenlicht und die diffuse Reflexion der Wolken halte ich kaum aus. Mit einem T-Shirt über dem Kopf versuche ich mir zu helfen. Es wirkt wie ein Vorhang vor meinen Augen. Ich bin frustriert und am Ende meiner Kraft, doch noch liegen ein paar Kilometer vor uns.

Gegen achtzehn Uhr erreichen wir das Dorf Shang Sumdo und zelten auf einem Grundstück in der Nähe eines Flusses. Die Nacht auf dreitausendsiebenhundertdreißig Metern ist vergleichsweise angenehm. Doch am nächsten Tag bin ich bereits im Morgengrauen wach. Der stechende Schmerz in meinen Augen lässt mich nicht schlafen. Meine Lider sind so stark verkrustet, dass ich sie erst mithilfe von eisigem Flusswasser öffnen kann. Mein Blick ist noch schlechter geworden. Ich erkenne weder Formen noch Strukturen, egal aus welcher Distanz.

Markha Tal, Ladakh
Abstieg vom Kongmaru La
Markha Tal, Ladakh

Zwei Stunden später sitzen wir im Bus. Der Typ neben mir, ich glaube es ist ein älterer Herr, starrt mich unentwegt an. Zumindest kommt es mir so vor, als würde er immer wieder seinen Kopf in meine Richtung drehen. Nach zwei Stunden holperiger Fahrt erreichen wir Leh. Mein Sitznachbar zeigt plötzlich aus dem Fenster. „Hospital“, ist das Einzige, was er sagt.

Im Krankenhaus, es ist das militärische Krankenhaus in Leh, fragen wir nach einem Arzt. Dutzende Menschen warten hier auf medizinische Versorgung, doch wir werden an allen vorbeigeleitet. Ich bekomme Creme auf die Netzhaut und Bandagen über beide Augen. Die Diagnose: Schneeblindheit, verursacht durch starke UV-Strahlung. Ein Sonnenbrand auf den Augen. „Kommen sie morgen wieder.“, sagt der Arzt – er sagt es auch am nächsten Tag und am Tag darauf.

Die kommenden Tage verbringen wir im Bett und hören Hörbücher. Ich bin ein Pflegefall. Der Weg zur Toilette, selbstständiges Essen – nichts gelingt mir ohne Hilfe. Dafür erfahre ich die Welt mit einem Sinn weniger. Ich lerne Menschen kennen und entscheide nur am Klang ihrer Stimme, ob sie mir sympathisch sind. Ich bin ganz nebenbei strukturierter, weil ich mir genau einpräge, wo ich etwas hinlege. Und dennoch ist der Zustand deprimierend. Ich lege immer größere Hoffnung in den nächsten Tag. Morgen ist alles wieder gut, sage ich mir. Doch das ist es nicht. Nach drei Tagen mit bandagierten Augen bin ich emotional angeschlagen. Ich zweifle an mir, an der Wiederherstellung meiner Sehkraft, an der Kompetenz der Ärzte.

Und dann kommt Tag vier: Die Krankenschwester wickelt erneut meine Bandagen ab. Meine Lider sind noch immer verkrustet, aber der Schmerz hat nachgelassen. Mit Anstrengung öffne ich die Augen und schließe sie sofort wieder. Es ist zu grell in diesem Behandlungszimmer. Aber in diesem kurzen Moment konnte ich eine Uhr an der gegenüberliegenden Wand erkennen. Es trifft mich tief: Da hängt eine Uhr an der Wand und ich kann sie sehen. Ich öffne meine Augen noch einmal, diesmal ein bisschen länger. Ich schaue in Gesichter mit Nasen und Lippen und Brauen und Ohren und fange vor Freude beinahe an zu weinen. Augenlicht ist eine Sensation.

Wenn dir dieser Artikel gefallen hat und du gerne mit uns auf Reisen gehst, dann unterstütze uns doch mit einem kleinen Trinkgeld. Spendiere uns ein Käffchen, Schokoladenkuchen oder ein anständiges Rambazamba – alles ist möglich.

Schneeblind
SWA – Schneeblind With Attitude


Dieser Beitrag wurde unterstützt von Dr. Walter Versicherungen. Wenn du länger in der Welt unterwegs bist, kannst du dich mit Protrip World bis zu 24 Monate krankenversichern. Unsere Meinung bleibt von dieser Kooperation unbeeinflusst.


Und jetzt du!

Um uns vor Spam zu schützen, bitten wir dich die markierten Felder auszufüllen. Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.