Der mürrische Blick lässt mich nicht los. Nicht als ich frage, ob wir ein Stück mitfahren können, nicht als ich unsere Rucksäcke in die Fahrerkabine des LKWs hieve und auch nicht, als ich neben dem Fahrer Platz nehme. Wir verlassen Adıyaman in Richtung Urfa, doch unserer Mitfahrgelegenheit scheint nicht besonders Wohl dabei zu sein, uns einsteigen zu lassen. Dennoch, der Motor des Schwerlasters brummt auf und wir rollen hinaus in die mit Feldern bestellte Weite der Südtürkei. Hier werden im Juli und August tonnenweise Weizen geerntet, doch nun liegt braunes Ackerland vor uns, das bis zum Horizont reicht.
Die Stimmung ist angespannt; auch unsere Versuche ein Gespräch in Gang zu bringen scheitern an der Verschlossenheit des Fahrers. Dann endlich bricht er sein Schweigen. Dabei streicht er sich mehrfach um das Kinn, als würde er einen imaginären Bart streicheln, deutet auf uns und schaut uns dabei noch immer finster und fragend an. Ob wir auf dem Weg nach Syrien seien und ob wir uns dem IS anschließen möchten? Wir sind irritiert.
Doch natürlich, so unwahrscheinlich ist dieser Gedanke gar nicht. Wir wollen nach Urfa, lediglich 40 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt; 40 Kilometer bis zum fundamentalistischen Krieg zwischen den Hardlinern des Islamischen Staates und den syrischen Kurden – ein Katzensprung. Mein Bart, der zugegebener Maßen wild wuchert, lässt mich in den Augen des LKW-Fahrers wohl wie einen jener Europäer aussehen, die aus ihrer heilen Welt in den Dschihad ziehen, um zu kämpfen, um zu töten, um Köpfe von Körpern zu trennen. Wir geben uns große Mühe zu erklären, dass wir tatsächlich nur das sind, wofür wir uns ausgeben: einfache Reisende. Doch völlig überzeugen können wir den alten Mann hinterm Steuer nicht.
Als wir den LKW an der Kreuzung nach Urfa verlassen, lehnt der Fahrer es vehement ab, ein Foto mit uns zu machen. Er möchte nicht mit uns auf einem Bild zu sehen sein, da er Angst hat man könne ihm später Kontakte zum IS nachsagen. Doch immerhin erlaubt er es uns ein Foto von ihm allein zu knipsen.
Als wir erneut am Straßenrand stehen, machen wir uns ernsthafte Gedanken über die Torheit unserer Reiseplanung. Ursprünglich war es nie vorgesehen, so weit in den Süden vorzudringen. Wir hatten Respekt vor dem Krieg im Nachbarland und wollten uns selbst keiner Gefahr aussetzen. Doch wen auch immer wir in der Türkei fragten: Jeder ermutigte uns diese Region zu besuchen. Südostanatolien, das türkische Kurdistan, sei sicher, versprach man uns und wir waren nur allzu gern bereit daran zu glauben. Jetzt aber, als wir uns tatsächlich nah an die Grenze wagen, überkommen uns Zweifel. Was, wenn uns die falschen Personen wirklich für mutwillige Kämpfer halten?
Der Gedanke verflüchtigt sich, als ein PKW neben uns stehen bleibt. Der Fahrer, ein junger Mann mit dunklem Schnurrbart und wohlgenährter Plauze, lächelt uns freundlich zu und lädt uns ein ihn bis nach Bozova, 80 Kilometer vor Urfa, zu begleiten. Wir führen Smalltalk, fragen nach dem Woher und Wohin. Es fallen keine Bemerkungen über meinen Bart oder den IS und so löst sich meine innere Anspannung, bis aus dem Kassettendeck im Autoradio die Worte Allahs rezitiert werden. Eine sanfte, fast mystische Stimme spricht immer und immer wieder dieselben Phrasen, lobpreist den Allmächtigen. Dazu klingt eine ruhige Melodie, die mich in Trance versetzt. Unser Gespräch verstummt. Wir nähern uns unaufhaltsam der Grenzregion.
Braunes Ackerland zieht an uns vorüber. Ich atme langsam ein und aus. Hier ist alles friedlich; die Worte des Herrn so unaufgeregt wie die Landschaft hinter der Fensterscheibe. Aber irgendwo vor uns, auf der anderen Seite einer willkürlich gezogenen Linie, ertönen hasserfülltes Geschrei und explodierende Bomben. Geographisch trennt uns wenig, doch unsere Welten könnten unterschiedlicher nicht sein. Ich versuche ein Bild in meinem Kopf entstehen zu lassen. Wie mag es dort drüben sein? Es gelingt nicht – meine Gedanken schweifen ab.
Nach einer Stunde endet unsere gemeinsame Fahrt in Bozova. Kurz vor Urfa dauert es dann für türkische Verhältnisse erstaunlich lange, bevor wir eine weitere Mitfahrgelegenheit ergattern. Nach etwa einer Stunde steigen wir in einen Obst- und Gemüsetransporter. Der junge Mann hinter dem Steuer freut sich sehr über unsere Begleitung, spendiert uns Kekse und vertreibt mit seinem lockeren, fröhlichen Wesen jegliche Unruhe aus meinem Geist. Dankbar für die Wiederherstellung meines inneren Gleichgewichts verabschieden wir uns in Urfa und treffen unsere Gastgeber Sinan und Birsen. Die beiden Englischlehrer eines Sprachinstituts verpflichten uns sogleich als Konversationspartner für ihre Klasse, in der wir vor allem über die Lieblingsspeise der Schüler sprechen: Çig Köfte – rohes Lammhack durchmengt mit zermahlenem Bulgur, Zwiebeln, Nelken, Zimt, Salz und schwarzem Pfeffer. Uns knurrt der Magen.
Doch der Unterricht verläuft unstrukturiert, zäh, scheint nicht enden zu wollen. Statt mit uns unterhalten sich die Schüler lieben untereinander, tauschen den neuesten Klatsch und reichen Smartphones hin und her. Sinan und Birsen kümmert das wenig. Bis jeder Schüler einmal in englischer Sprache zu Wort gekommen ist, vergeht viel Zeit.
Als das Licht im Klassenraum endlich erlischt, denken wir noch immer an Çig Köfte. Hunger schnürt unsere Gedanken ein und lässt die beiden Worte durch unsere Köpfe kreisen. Doch bald klopfen wir zu viert an die Wohnungstür von Birsens Eltern. Wir sind zum Abendessen eingeladen. Es gibt natürlich Çig Köfte.
Die Zubereitung dieser türkischen Spezialität, die besonders in Urfa einen ausgezeichneten Ruf genießt, ist reine Frauensache. Das Durchmengen der Zutaten und das Verkneten der Masse ist Schwerstarbeit. Jeder Muskel zwischen Fingerspitzen und Schulterblättern kommt zum Einsatz. Nicht ohne Stolz verkündet Laila, Birsens jüngere Schwester, die wir schon aus dem Englischunterricht kennen, das Çig Köfte nur von Frauen hergestellt werden könne. Männer seien dazu gar nicht in der Lage.
Hier, zusammen mit Sinan, Birsen und all den anderen Familienmitgliedern, ist es das erste Mal, dass wir auf dem Boden essen, weil das Möbelstück Esstisch gar nicht im Haushalt eingeplant ist. Die Mitte des Raumes, dort wo man sich in mitteleuropäischen Wohnzimmern üblicherweise an einem Holztisch vorbeizwängen muss, bietet großzügigen Platz. Sessel und Sofas reihen sich entlang der Zimmerwände; so weit von einander entfernt wie möglich. Es sind die einzigen Möbel im Raum. Schränke, Regale, Beistelltische, Kommoden – all das fehlt. Nichts dringt hinein in die offene Fläche, auf der wir eine große Plastikdecke über dem dicken Wohnzimmerteppich ausbreiten. Es werden Salat, Kohl, Radieschen, Brot und natürlich selbst zubereitetes und mit Rührei verfeinertes Çig Köfte serviert. Dazu trinken wir erfrischenden Ayran.
Wir essen in herzlicher Atmosphäre. Obwohl wir mit den meisten Anwesenden keine gemeinsame Sprache teilen, fühlen wir uns dennoch sehr wohl und gut aufgehoben. Birsens Vater macht Witze über meinen Bart, sagt ich sehe aus wie ein Muezzin. Als wir ihm daraufhin die Geschichte vom misstrauischen LKW-Fahrer erzählen, der nicht mit uns auf ein Foto wollte, bricht Birsens Vater in lautes Lachen aus. Offensichtlich ist es für ihn unvorstellbar, dass ich in den Dschihad ziehen würde. Ich mag den Kerl.
Es ist spät, als wir uns von Birsens Familie verabschieden. Doch anstatt nach Hause zu fahren, machen wir uns auf den Weg zu Halil. Auch den 34-Jährigen kennen wir bereits aus dem Englischunterricht. Im Klassenraum war Halil der Turm zwischen all den Teenagern; ein schüchterner Typ mit freundlichen, dunklen Augen. Jetzt ist er unser Gastgeber. Wir werden von Sinan und Birsen bei Halil abgestellt und verabreden uns für den nächsten Morgen. Da wir unser Entzücken über die türkische Küche kaum verbergen können, machen uns Sinan und Birsen einen gewagten Vorschlag. Die beiden überreden uns mit ihnen gemeinsam auf Urfas altem Markt zu frühstücken; zusammen mit den Ladenbesitzern kurz nach Sonnenaufgang.
Doch am nächsten Morgen werden nur wir vom Wecker aus den Betten geklingelt. Von Sinan und Birsen fehlt jede Spur. Unsicher, wie wir uns nun so kurz vor der Dämmerung verhalten sollen, schleichen wir durch das Wohnzimmer bis plötzlich Halil völlig verschlafen vor uns steht. „Günaydın, guten Morgen “ grüßt er mit einem breiten Gähnen, das sich noch im gleichen Augenblick in ein ebenso breites Lächeln verwandelt. Wir geben ihm zu verstehen, dass wir eigentlich auf den Markt wollten, aber von Sinan und Birsen offensichtlich versetzt werden. Kein Problem, erwidert Halil und bereitet schnell den für uns mittlerweile unentbehrlichen Çay zu.
Auf weichen, roten Polstermöbeln schlürfen wir wenig später den starken, beinahe schwarz gefärbten Tee aus kleinen Gläsern. Eine Dose Würfelzucker steht zwischen uns auf einem niedrigen Tisch. Der Tee tut uns gut, weckt unseren Geist am frühen Morgen. Halil zeigt sich nun für uns verantwortlich und gemeinsam beschließen wir eben ohne unsere eigentlichen Gastgeber auf dem Markt zu frühstücken.
In den engen Gassen des alten Marktes öffnen gerade die ersten Geschäfte. Rollläden werden nach oben geschoben, die Auslagen positioniert und riesige Säcke voller Getreide und Reis auf den Gehweg geschoben. Händler türmen gemahlene Gewürze liebevoll, beinahe andächtig zu großen und kleinen Pyramiden. Chili, Kardamom, Zimt – es sind die Gerüche des Orients, die sich in den Straßenzügen ausbreiten.
Doch noch sind die Gassen hier überschaubar. Lediglich vor den kleinen Restaurants, die hier und da in den Ecken zwischen den Geschäften sitzen, versammeln sich ein paar Männer, frühstücken, trinken Çay, berichten sich die morgendlichen Neuigkeiten.
Wir nehmen auf einer niedrigen Holzbank Platz und lassen uns eine deftige, fette Suppe mit einer Einlage aus Fleisch, Kohl und Joghurt schmecken. Den dazugehörigen Çay trinken wir wenig später im Gümrük Hanı, einem wunderschönen Innenhof mitten im Markt. Dicken Mauern trennen uns vom täglichen geschäftigen Treiben in den umliegenden Gassen. Kein Lärm dringt hier herein. Stattdessen spenden ausladende Bäume und Sonnenschirme Schatten. So früh am Morgen sind wir die einzigen Gäste. Durch einen kleinen, gemauerten Kanal plätschert ein Bächlein fröhlich an uns vorbei. Die Sonne wirft ihre ersten Strahlen des Tages in den Innenhof.
Als wir auf den Markt zurückkehren, ist dieser bereits voll belebt. Männer und Frauen schlendern gemütlich die Gänge entlang, andere zwängen sich gehetzt durch die Menge. Viele von ihnen, auch die Männer, tragen lilafarbene Kopftücher – die traditionelle Kopfbedeckung der Region.
Urfas Markt hat eine lange Tradition. Auf einer der wichtigsten Handelsrouten in den Süden gelegen werden hier bereits im 16. Jahrhundert in großem Stil Waren umgeschlagen. Auch heute finden wir auf dem Markt alles erdenklich Mögliche. Da gibt es dekorative Metallarbeiten, Gewürze, Teppiche, Decken, Stoffe und Lederwaren; aber auch Schulranzen, Messer, Schmuck, Schals und Tücher. Auf Schuhe und Handtaschen folgen Hygieneartikel, Haushaltsutensilien, Spielzeug und Anzüge. In den vielen verwinkelten Gassen versuchen wir erst gar nicht den Überblick zu behalten.
Çay-Verkäufer eilen die Gänge hinunter. Auf glänzenden Tabletts balancieren sie den süßen, dunklen Tee in kleinen Gläser durch die Masse. Eine Zigarette lässig im Mundwinkel grummeln sie mal in die eine, mal in die andere Richtung, wenn es ihnen nicht schnell genug geht. Simits, goldbraune, mit Sesam bestreute Brotkringel, warten in großen Körben darauf gegessen zu werden. Mädchen und Jungen huschen lachend durch die Beine der Erwachsenen, die hier und da vor den Geschäften stehen bleiben und die Ware begutachten. Sie feilschen, diskutieren mit den Händlern um Preise und Qualität und einigen sich am Ende doch irgendwie immer.
Wir lassen uns treiben, geraten von einer Kreuzung zur nächsten, von einer Abbiegungen zur anderen. Hunderte Händler warten vor ihren kleinen Geschäften auf ihre Kunden. Wir biegen mal nach links und mal nach rechts: Einem Gang voller Teppiche folgt ein Gang voller Herrenanzüge, folgt ein Gang voller Metallarbeiten, folgt ein Gang voller Gewürze und plötzlich stehen wir wieder zwischen den Teppichen.
In Urfa verändert sich das Gefühl, verändert sich die Türkei. Wir sind nicht mehr in der bekannten Moderne, die hier und da mit dem Orient verschmilzt und auf angenehme Weise exotisch wirkt; ohne dabei zu aufregend, zu fremd zu werden. Stattdessen sinken wir ganz langsam und unaufhörlich hinein in den Nahen Osten. In Urfa treten wir ein in die kurdische Gemeinschaft des Landes; in eine Kultur, die näher ist an Syrien, Irak und Iran als an Istanbul und Izmir. Hier sehen wir zum ersten Mal Männer im Shalwar Kamiz, einer traditionell arabischen Tracht bestehend aus einer weiten Pumphose und einem luftigen, langärmligen Oberteil, das bis zu den Knien reicht. Kufiyas, karierte arabische Kopftücher, schlingen sich um Häupter und Hälse. Auf manchen Köpfen sorgt ein Agal, eine Baumwollkordel, für einen besseren Halt. Lange weiße Bärte zieren von Falter zerfurchte Gesichter. Frauen verschleiern sich im langen, dunklen Hidschab. Die türkische Sprache macht Platz für das Kurdische und Arabische.
Wenn ihr unsere Abenteuer und Geschichten gerne auf Papier lesen wollt, dann schaut doch mal hier:
In unserem Buch Per Anhalter nach Indien erzählen wir von unserem packenden Roadtrip durch die Türkei, den Iran und Pakistan. Wir berichten von überwältigender Gastfreundschaft und Herzlichkeit, feiern illegale Partys im Iran, werden von Sandstürmen heimgesucht, treffen die Mafia, Studenten, Soldaten und Prediger. Per Anhalter erkunden wir den Nahen Osten bis zum indischen Subkontinent und lassen dabei keine Mitfahrgelegenheit aus. Unvoreingenommen und wissbegierig lassen wir uns durch teils kaum bereiste Gegenden in Richtung Asien treiben.
2018 Malik, Taschenbuch, 320 Seiten
Auf den freien Plätzen zwischen den Gängen des Marktes spielen gealterte Herren Backgammon, trinken süßen Çay. Begleitet vom Klacken ihrer Spielsteine diskutieren sie über Gesellschaft und Politik. Das von Kurden und dem IS umkämpfte Kobane im nahen Syrien ist in diesen Tagen eines der wichtigsten Themen – überall auf dem Markt, überall in der Stadt. Kobane ist zu einem Symbol geworden. Hier kämpfen Kurden für ihre Freiheit. Vor allem die Jungen zeigen viel Empathie. Freiheit für Kobane ist ein immer wieder geäußerter Slogan. Wie nah der Krieg im Nachbarland ist, erfahren wir von Halil. Auch er hat Freunde und Familienmitglieder, die hinüber auf die andere Seite der Grenze in den Kampf zogen. Es sind Väter, Onkel, Cousins – sie kämpfen und sterben nicht nur für die Freiheit einer Stadt, sondern für eine gemeinsame Identität, die die Kurden über die Grenzen von Nationalstaaten verbindet.
Auch innerhalb der Türkei ist die kurdische Identität sehr ausgeprägt. Nach Jahrzehnten politischer Repression ist man hier nicht besonders gut auf die Türken zu sprechen. Es sind Kleinigkeiten, die diese Abneigung und gleichzeitig das kurdische Wir-Gefühl sichtbar machen. Sprachpurismus trägt einen Teil dazu bei. Die Türkei wird so gut es geht aus dem Alltag verdrängt. Auf dem Markt in Urfa heißt Çay jetzt plötzlich kurdischer Tee, während türkischer Kaffee wie selbstverständlich als kurdischer Kaffee angepriesen wird. Es gibt kurdischen Kebab und kurdischen Döner, die sich natürlich überhaupt nicht von ihren türkischen Pendants unterscheiden. Uns amüsieren diese Namensänderungen, doch die Kurden meinen es sehr ernst. Zu tief sitzt der Stachel der Unterdrückung durch eine türkische Zentralregierung, die in der Vergangenheit wenig Interesse an der größten ethnischen Minderheit des Landes zeigt.
Wir verlassen das wuselige Labyrinth des Marktes und kehren hinaus auf die Straße. Die Sonne ist mittlerweile weit den Himmel empor gestiegen. Ein paar Bäume spenden hier und dort Schatten. Noch immer klacken Backgammonsteine auf Spielbretter. Der Weg zum nahen Gölbaşı-Gelände ist nicht weit. Von Rosengärten umgeben ist es wohl Urfas schönster und zugleich heiligster Ort – der Schauplatz einer Legende aus den frühen Anfängen unserer Zeitrechnung.
Hier, so heißt es, kommt der paranoide, tyrannische König Nimrod auf die Idee alle Babys, die in seinem Königreich geboren werden, zu töten, weil ihm irgendeine unheilvolle Prophezeiung nicht gefällt. Also lässt er die Neugeboren hinrichten, vergisst aber den kleinen Abraham in einer Höhle. Der Junge wächst heran, schaut sich etwas um und findet die damals moderne Götzenanbetung nicht sonderlich dufte. Stattdessen konvertiert er zum Monotheismus. Der alte Nimrod ist nicht erfreut. Es kommt zum Showdown: Jugendliches Aufbegehren gegen autoritäre Altersmanie. Am Ende wirft Nimrod Abraham ins Feuer. Doch der Gott an den Abraham glaubt, ist auf seiner Seite. Er verwandelt die Flammen in Wasser, die Holzscheite in Fische und lässt Abraham in ein nahes Rosenbeet fallen. Soweit die unglaubliche Geschichte. Seitdem gilt Abraham als Prophet – sowohl in der Bibel, als auch im Koran.
Das Wasser ist noch immer da und auch die Karpfen, die sich in dem langgezogenen Becken tummeln. Nimrod muss ein mächtiges Feuer entfacht haben, so viele Tiere zappeln unter der Wasseroberfläche. Die Fische gelten heute als heilig. Wer sie berührt erblindet, so heißt es. Auch der Rosengarten nebenan, der einst Abrahams Sturz abfedert, wird noch immer gepflegt und in der Mevlid-i Halil Moschee kann man sogar einen Blick in die angebliche Geburtshöhle Abrahams werfen.
Das Gölbaşı-Gelände ist ein religiöses Disneyland, das täglich hunderte Gläubige anzieht. Im Schatten der Bäume trifft man sich zum Picknick und alte Männer verbringen hier Stunde um Stunde, andächtig Çay schlürfend. Ein paar Männer verkaufen entlang des Wasserbeckens Fischfutter und sorgen so für ein irrsinniges Spektakel: Sobald sich auch nur jemand zu nah an den Rand des Wasserbeckens wagt, drehen die Karpfen völlig durch. Die Tiere, hungrig oder verfressen, wühlen sich durch das Wasser. Sie drängen sich so nah es geht an die vermeintliche Futterstelle, glitschen übereinander hinweg, drängen sich gegenseitig aus dem Wasser, springen mit weit aufgerissenen Mäulern über ihre Artgenossen.
Staunend betrachten Passanten die wilde Meute. Ein paar Kinder bekommen gar nicht genug von dem Schauspiel. Vor Vergnügen quiekend werfen sie immer mehr Futterkrumen in die weiche Masse aus beweglichen Körpern. Die Fische rasten noch mehr aus – die Kinder machen es ihnen nach.
Halil ist noch immer mit uns unterwegs und nachdem wir nun zusammen Urfas historischen Markt und das Gölbaşı-Gelände erkundet haben, lädt er uns ein, mit ihm aus der Stadt hinaus ins Umland zu fahren. Unser Ziel sind die Ruinen von Göbekli Tepe.
Hier, etwa 11 Kilometer von Urfa entfernt, beginnt im Jahr 1995 der deutsche Archäologe Klaus Schmidt auf einem grasbewachsenen Hügel seine Ausgrabungen. Nur wenige Zentimeter unter der Oberfläche macht er eine ungewöhnliche Entdeckung. Unter den Erdschichten befinden sich mehrere kreisförmig angeordnete Megalithen, behauene Steinblöcke aus der Vorzeit, wie sie beispielsweise unter der Bezeichnung Stonehenge Weltruhm erlangen. Nur: Irgendetwas stimmt hier nicht. Wie war das mit den bisherigen Theorien zum Verlauf der Menschheitsgeschichte? Schmidts Fund ist viel zu alt für die gängigen Überlegungen. Weit mehr als 11.000 Jahre sind die sauber gearbeiteten und mit Tierschnitzereien versehen Blöcke alt – 6.500 Jahre älter als die grob gehauenen Brocken von Stonehenge. Schnell stellt sich heraus: Göbekli Tepe ist nicht nur der älteste bekannte Tempel der Welt; es ist das älteste Beispiel menschlicher Architektur, das in seiner Komplexität eine einfache Hütte übersteigt.
Damals, mehr als 9.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, streifen die meisten Menschen noch als Jäger und Sammler in der Gegend herum. Zu dieser Zeit ist es den Bauherren Göbekli Tepes bereits möglich Gestein zu bearbeiten und 16 Tonnen schwere, fünf Meter hohe Brocken ohne die Hilfe des Rades, geschweige denn von Lasttieren zu bewegen. Dieser Komfort steht ihnen damals noch gar nicht zur Verfügung.
Wie konnten sie dennoch ein derartiges Monument errichten und in Stand halten? Es bleiben nur Vermutungen, doch eines ist sicher: Die Entdeckung Göbekli Tepes verändert die Sicht auf unsere frühesten Vorfahren grundlegend.
In der Gegenwart stehen wir auf einem hölzernen Steg, der einmal um die freigelegten Megalithringe führt. Massive Balken stützen die teilweise zerbrochenen Steinsäulen. Auf ihren Oberflächen sind Skorpione und Füchse skizziert, Gazellen und etwas, das entfernt an Kängurus erinnert. Hier stehen wir vor dem ersten Zeugnis einer unvorstellbar langen Kulturgeschichte der Menschheit. Dann heben wir den Blick, schauen hinaus in die Weite Ebene, die einst den stolzen Namen Mesopotamien trug. Dort drüben liegt Syrien. Es herrscht Krieg.
Am Abend treffen wir uns mit Sinan und Birsen bei Barfin, einer von 13 Geschwistern Birsens, und ihrem Mann. Auch Laila ist wieder mit dabei und erwartet uns schon mit stolzgeschwellter Brust. Das Abendessen verdanken wir ihr. Im Angesicht der aufgetürmten Reis-, Fleisch- und Salatberge lassen wir uns auch nicht lange bitten und gemeinsam langen wir ordentlich zu.
Wir sitzen in einem großen Wohnzimmer, das mit vielen Polstern, Decken und Kissen ausgestattet ist. Eine riesige Spielwiese ohne störende Elemente wie Tische und Stühle. Die Fenster schmücken schwere Vorhänge mit langen, fransigen Kordeln. Den Çay stellen wir auf kleinen, sechseckigen Tischchen ab. Den ganzen Abend lümmeln wir so herum. Barfin zeigt uns ihre Hochzeitsfotos, erzählt von der kurdischen Hochzeitsgesellschaft, die häufig mehrere hundert Personen umfasst – ein riesiges Fest. Dann fast Mohammad, Barfins Mann, einen abendfüllenden Entschluss. Wir sollen von der kurdischen Kultur nicht nur hören, wir sollen sie erleben. Er beginnt zu singen, Sinan stimmt mit ein, Birsen und Barfin ebenso. Laila lässt ihre Stimme trillern; und ehe wir uns versehen, tanzen wir kurdische Folklore mitten im Wohnzimmer.
Unsere Gastgeber sind nun offensichtlich auf den Geschmack gekommen und treiben unsere Kurdisierung weiter voran. Nachdem wir kurdisch gegessen, gesungen und getanzt haben, fehlt uns noch das entsprechende Outfit. Mohammad und Barfin schaffen Abhilfe. Sie reichen uns ein wunderschönes, mit goldenen Blumen verziertes Kleid und eine weite, luftige Hose. Als sie unsere Kopftücher binden, strahlen die beiden vor Freude. Auch Sinan, Birsen und Laila sind entzückt, was in einem nicht enden wollenden Fotomarathon mündet. Wir sind angekommen. Willkommen in Kurdistan.
Wenn dir dieser Artikel gefallen hat und du gerne mit uns auf Reisen gehst, dann unterstütze uns doch mit einem kleinen Trinkgeld. Spendiere uns ein Käffchen, Schokoladenkuchen oder ein anständiges Rambazamba – alles ist möglich.
Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.