Am östlichen Rand der Wüste Thar, kurz bevor sich das Land zum Arvalligebirge erhebt, liegt Jodhpur eingebettet im weichen Sand. Das Mehrangarh Fort, die größte Festung Rajasthans, ragt gewaltig auf einem Felsrücken über die Stadt empor, die mit ihren blau gestrichenen Häusern einen Farbklecks in die monotone Wüste setzt.
Jodhpur ist enorm, wuchtig in den Dimensionen. Das Fort ist ein Gigant. Während Jaisalmer im Westen mit feinen Formen beeindruckt, mit eleganten Steinmetzarbeiten und detailreichen Verzierungen, präsentiert sich Jodhpur mit unbändiger Kraft.
Auf halber Strecke zwischen Bikaner und Udaipur ist die zweitgrößte Stadt Rajasthans nicht elegant, sondern mächtig. Seit dem fünfzehnten Jahrhundert Hauptstadt des Fürstentums Marwar, regiert hier der Clan der Rathore-Rajputen. Von den lukrativen Märkten aus Delhi und dem Sultanat Gujarat fließt ein steter Karawanenstrom durch Jodhpur. Mit dem Handel von Opium, Kupfer, Seide, Sandelholz und Datteln füllen die Marwaris, die einheimischen Kaufleute, ihre Kassen. Dabei vermehren sie den Reichtum so gekonnt, dass sie weit über die Stadtgrenzen hinaus für ihr Verhandlungsgeschick berühmt berüchtigt sind.
Die Marwaris von Jodhpur
Marwar ist das größte Reich im Land der Rajputen und mit seiner Macht ein Dorn im Auge der Mogulherrscher aus Delhi. Um die Handelszölle entlang der Karawanenstraßen zu drücken, entsendet Akbar eine Armee nach Jodhpur. Der Mogulkaiser fordert zum offenen Kampf, in dem seine Truppen den Kriegern Marwars klar überlegen sind. Doch die Rajputen verschanzen sich in ihrer Festung Mehrangarh, die für Akbars Männer unüberwindlich und so gut versorgt ist, dass eine Belagerung zu keinem Ziel führt. Aus diesem Patt befreien sich die Kontrahenten im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert mit einem Pakt. Der Rathore-Clan bleibt in Jodhpur an der Macht, ist dem Mogulreich von nun an aber tributpflichtig.
Das Abkommen bringt Jodhpur unerwarteten Nutzen. Mit dem Anschluss an das Mogulreich öffnen sich neue Handelswege, die für die Marwaris bis nach Bengalen reichen. Selbst als die Briten das Land besetzen, können die Marwaris noch immer Vorteil daraus ziehen und ihre Geschäfte über den gesamten Subkontinent ausweiten.
Bis heute ist Jodhpur eine Handelsmetropole geblieben. Vieh, Salz und landwirtschaftliche Produkte werden von hier bis in weit entfernte Ecken des Landes vertrieben. Das Herz des Handels schlägt im Sardar Markt, mitten in der Stadt. Rund um einen mehrstöckigen Uhrenturm greifen Marktstraßen hinein in die Altstadt. Saris und Armreifen werden verkauft, Gewürze türmen sich zu bunten Hügeln. Obst und Gemüse liegen in geflochtenen Körben. Es riecht nach Chili und Ingwer. In den verwinkelten Gassen drängen sich die Menschen, handeln um die besten Waren. Hier ist das Feilschen eine Kunst.
Früh am Morgen wimmelt es in den Marktgassen. Rikschafahrer parken in der Nähe des Uhrenturms. Sie frühstücken Omelett an kleinen Kiosken, die nebenbei auch Bonbons und Zigaretten verkaufen. Hunderte Eier sind in Papppaletten übereinandergestapelt. In improvisierten Küchen aus rostenden Blechkanistern und umgedrehten Getränkekisten, die als Arbeitsfläche dienen, brutzeln Omeletts über offenen Gasflammen in rußgeschwärzten Pfannen. Das Masala Omelette kommt mit Chili und Zwiebeln. Dazu ein heißer Chai. Wir sitzen zusammen mit den Marwaris und Taxifahrern auf abgenutzten Hockern an einer staubigen Straße. Im kühlen Wüstenmorgen beginnen die Männer hier ihren Tag. Raue Pullover und schwere Wolldecken, die sie um ihre Körper schlingen, schützen vor der Kälte, die noch aus der Nacht in den Tag hinein reicht.
Der Schatten des Uhrenturms fällt bis vor die Hocker des Omelettbüdchens. Ein alter Wärter öffnet gerade die eisernen Tore. In seiner viel zu weiten Kleidung sieht der schmale Mann aus, als ob er bald aus dem Leben schrumpft. Das dunkle, fleckige Jackett füllt er schon lange nicht mehr aus und selbst die Hosenbeine schlackern luftig umher. Der Mann ist so dürr, dass er wohl irgendwann gänzlich in seiner Kleidung verschwindet. Dann bleiben nur noch die abgewetzten Schuhe zurück, auf denen der Staub vergangener Jahre liegt.
Graue Bartstoppeln sprießen um das Kinn und die markanten Wangenknochen des Wärters, die von einer dunklen, rauen Haut überzogen sind. Auf dem Kopf trägt er eine dicke Wollmütze. Sichtlich stolz führt er uns herum. Drei Stockwerke weiter oben stehen wir hinter dem Ziffernblatt, wo die Zahnräder des Uhrwerks seit 1912 ineinander klacken.
Unter uns auf dem Vorplatz haben Obst- und Gemüsehändler ihre Waren unter Sonnenschirmen ausgebreitet. Ihnen gegenüber befinden sich große Kleiderstapel und Haushaltsgegenstände. Dazwischen warten die Rikschafahrer nach dem Frühstück auf Kundschaft. Vom obersten Rang schauen wir über die Gebäude des Sardar Marktes und die Flachdächer der Altstadt bis hinauf zum Fels, auf dem das mächtige Mehrangarh Fort ruht.
Shiva und der blaue Hals
In Rajasthan und darüber hinaus ist Jodhpur nicht nur als Handelsstadt, sondern auch als die Blaue Stadt bekannt. Überall in den verwinkelten Gassen säumen blau gestrichene Häuser den Weg. Einst lebten in ihnen Brahmanen, Mitglieder der Priesterkaste und ganz oben in der hinduistischen Hierarchie. Die Farbe symbolisiert die Verbundenheit zum Gott Shiva, der sich in einer düsteren Legende selbst vergiftet.
Die Geschichte erzählt vom Milchozean, dem Urmeer der hinduistischen Mythologie. In einer Zeit, in der die Menschen noch nichts zu melden haben, prügeln sich Dämonen und Götter immer wieder über die verrücktesten Schlachtfelder. Das ist trotz mancher Superkräfte schmerzhaft bis tödlich, und so wird die Suche nach einem Lebenselixier immer bedeutsamer. Amrita heißt der Trank, den Götter und Dämonen gleichermaßen begehren und für beide unerreichbar im Milchozean verborgen liegt.
Weil sie keinen anderen Ausweg sehen, gehen Götter und Dämonen eine Zweckgemeinschaft ein und beginnen den Ozean zu quirlen. Eintausend Götterjahre, so heißt es, arbeiten sie zusammen und befördern ungeahnte Schätze aus der Tiefe ans Licht. Der Mond, die Göttin Lakshmi und die Wunschkuh Kamadhenu sind nur ein paar der Wunderdinge, die aus dem Verborgenen des Milchozeans kommen. Doch bevor endlich das Lebenselixier emporsteigt, dringt ein Gift an die Oberfläche, das die mythologische Welt zu vernichten droht.
Der Retter in der Not ist der Gott der Götter. Shiva nimmt sich dem Gift an, schluckt es bis zum letzten Tropfen und überlebt nur knapp. Das Gift, das stark genug ist, um die Welt zu zerstören, färbt den Hals des mächtigsten Gottes blau. Seitdem trägt Shiva den Beinamen Nilakantha, Blauhals.
Heute ist die blaue Farbe nicht mehr nur der Priesterkaste vorbehalten. Wer immer in Jodhpur Shiva verehrt, streicht sein Haus in sattem Indigo. Häufig strahlen außerdem Fensterrahmen und Türen in den Farben gelb, pink oder grün. Sie symbolisieren die Göttinnen Sarasvati, Lakshmi und Parvati, die ihrerseits die weiblichen Energien der Götter Brahma, Vishnu und Shiva darstellen. In den hinduistischen Religionen ist der Glaube an die Dualität von männlich und weiblich immanent, weshalb jeder Gott in beiden Formen auftaucht.
Hoch über den farbenfrohen, eng zusammenstehenden Häusern ragt die Mehrangarh Festung. Schattige Gassen führen bergauf, winden sich um Häuserecken. Motorräder quetschen sich zwischen den Mauern hindurch. Junge Männer spielen Kricket in schmalen Gängen, kleine Kioske besetzen Nischen in den Häusern. Rostrote Paanflecken bedecken den Boden.
Die Altstadt Jodhpurs ist ein Labyrinth aus Kurven, Abbiegungen und Gabelungen. Sie bietet unendliche Möglichkeiten, sich vom Weg ablenken zu lassen. Jeder Winkel ist fotogen: der Straßenköter auf dem klapprigen Motorroller, das abgestellte Fahrrad an der Wand, die verwitterte, verblichene Holztür und natürlich die stoischen Kühe, die in Indien einfach immer dazugehören. Jodhpur setzt sich selbst in Szene und wir laufen komparsengleich durch eine beeindruckende Kulisse.
Das Mehrangarh Fort in Jodhpur
Dann stehen wir vor steinernen Stufen, die steil zum Mehrangarh Fort hinauf führen. Die Häuser der Stadt bleiben unter uns zurück. Kühe grasen an den bewachsenen Hängen abseits der Treppenstufen. Über uns reichen die Schutzmauern aus Sandstein bis an die Klippen des Felsens heran.
Die Mehrangarh Festung ist eine der größten Wehranlagen in ganz Indien. Wer hier unbefugt eindringen wollte, musste einst sieben Verteidigungstore überwinden, von denen das Loha Tor als besonders herausfordernd galt. Es befindet sich noch heute hinter einer scharfen Kurve und bietet Angreifern nur wenig Platz, um mit Schwung einen Durchbruch zu wagen. Die massiven Torflügel sind mit langen, eisernen Stacheln beschlagen, die sich in die Köpfe angriffslustiger Kriegselefanten bohren sollten.
Für uns ist der Weg in die Festung wesentlich angenehmer. Musiker spielen mit Flöten und Trommeln die traditionelle, quietschende Folklore Rajasthans. Sie begleiten die letzten Meter des Aufstiegs, so als wäre es ein festlicher Empfang zu Ehren weit gereister Gäste.
Weit oben in enormer Höhe dekorieren Erker und Balkone die Mauern der Wehranlage. Elegante Kuppeldächer befinden sich darüber. Doch von unten betrachtet, ist die Pracht weit entfernt. Uneinnehmbar. Keine fremde Macht hatte hier jemals militärischen Erfolg. Noch bis ins Jahr 1943 wohnt die fürstliche Familie im althergebrachten Luxus der Maharadschas. Heute sind die Festungsgebäude Museen. Sie zeigen mit silbernen Elefantensätteln, Sänften, Säbeln, Musketen, Wasserpfeifen, Wandgemälden, Buntglasfenstern, goldbesetzten Säulen und Decken und einer erlesenen Turbansammlung den Reichtum der Rajputen.
Entlang der Innenhöfe schmücken verzierte Jalis, in Stein gemeißelte Fenstergitter, die herrschaftlichen Gemächer. Sie erlauben den Blick nach außen, ohne den Blick nach innen zu ermöglichen. Oben auf den Festungsmauern sind schwere Geschütze ausgerichtet. Sie zeigen über die zusammengewürfelten Flachdächer Jodhpurs hinweg zum Umaid-Bhavan-Palast, den der fürstliche Rathore-Clan heute bewohnt. Unser Blick schweift über die Stadt. Mit uns schauen Dutzende Inder hinaus ins Land. Das uneinnehmbare Mehrangarh Fort ist dem Volk zugänglich und bietet mit seiner prachtvollen Kulisse Platz für Selfies und Familienfotos. Was von der Vergangenheit bleibt, ist der mit ihr verbundene Stolz einer Region. Jodhpur, Marwar, Rajasthan – im Land der Könige ist die Erinnerung immer Teil der Gegenwart.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.