Wir haben Zentraleuropa endlich verlassen und entfernen uns Kilometer für Kilometer von der ängstlichen Starrheit, mit der wir bis jetzt am Straßenrand zu kämpfen hatten. Zwar haben wir immer eine Mitfahrgelegenheit gefunden – auf diese aber häufig auch lange warten müssen. Statt Ordnung und Gefügigkeit hoffen wir nun auf Improvisation, Menschlichkeit und den flexiblen Geist. Jetzt sollte alles besser werden. Und einfacher. Zumindest wurde uns das von anderen Trampern versprochen, die wir bisher auf unserem Weg kennenlernen durften.
Eine Tankstelle in Belgrad ist unser Startpunkt. Trotz des wenigen Zulaufs zu dieser frühen Stunde warten wir keine 15 Minuten, bis uns ein Serbe mitnimmt und an einer nahe gelegenen Mautstation wieder aussteigen lässt. Es sind von hier aus noch gut 400 Kilometer bis in die bulgarische Hauptstadt Sofia. Wir halten etwas zögerlich unser in der Eile vorbereitetes „Bulgarien“- Schild den langsam an uns vorbeifahrenden Autos entgegen.
Und tatsächlich: Nach knapp 20 Minuten hält bereits ein Auto mit bulgarischem Kennzeichen. Der Fahrer fährt tatsächlich direkt nach Sofia. Ein Glücksgriff.
Der ältere Mann mit der gegerbten Haut und dem freundlichen Gesicht raucht viel und fährt ein klappriges, etwa gleichaltriges Auto, das vollgepackt ist mit Kettensägen und Toilettenpapier. Es ist das erste Mal, dass wir einen Fahrer haben, der kein Wort Englisch spricht. Die Kommunikation ist schwierig und wird schnell aufgegeben. Der Mann hat keine Lust auf Gespräche, die mit Händen und Füßen geführt werden. Verständlich, braucht er doch beides, um seinen Wagen in der Spur zu behalten. Die folgenden 4,5 Stunden verlaufen daher wortlos, aber keineswegs eisig. Wir teilen Obst und Käsebrote und trinken gemeinsam heißen Kaffee an einer Tankstelle an der Schnellstraße, bevor sich unsere Wege am Stadtrand Sofias trennen.
Nach Serbien befinden wir uns nun wieder in der EU. Das fünfte Land auf unserer Reise bringt das erste Mal eine Zeitverschiebung mit sich. Wir haben eine Stunde verloren und werden heute früher ins Bett gehen.
Es regnet und der Bus in die Stadt lässt sich Zeit. Als wir im Zentrum ankommen, schüttet es immer noch. Es ist kalt. Wir setzen uns zu Pommes in die berühmte Kette mit dem goldenen M – vor allem deshalb, weil es hier W-Lan gibt und wir unseren Couchsurfing-Host Jordan kontaktieren wollen. Eigentlich wollten wir einen Gemüseburger bestellen, aber die sind seit der Slowakei schon nicht mehr im Sortiment und auf Gen-Soja Chicken-Burger haben wir keinen Appetit.
Doch Jordan lässt auf sich warten. Letztendlich bekommen wir einen konfusen Anruf. Jordan kann uns nicht aufnehmen, da er heute Besuch von seinem Chef bekommt. Aber wir könnten bei dem Sohn seiner Freundin schlafen. Der 17-jährige Lubomir werde uns in einer halben Stunde abholen.
Packliste
Unsere Ausrüstung muss einiges aushalten. Seit über 7,5 Jahren sind wir dauerhaft unterwegs und strapazieren unser Hab und Gut im täglichen Einsatz. Einiges hat bei uns nur kurze Zeit überlebt, doch anderes bewährt sich mittlerweile seit Jahren und wir sind von der Qualität überzeugt. Unsere Empfehlungen könnt ihr hier nachlesen.Wir sind skeptisch, doch etwa 30 Minuten später steht Lubomir vor uns. Der Teenager misst circa 1,60 Meter. Seine Statur ähnelt der eines hart arbeitenden Mannes in den tiefen Wäldern Sibiriens. Sein überschwängliches Englisch mit dem nicht einzuordnenden Akzent stammt offensichtlich aus diversen Internet-Rollenspielen.
Mit der Tram fahren wir gemeinsam bis an den Stadtrand. Bulgarien ist das ärmste Land in der Europäischen Union. Insbesondere die überall zu sehende Altersarmut sticht ins Auge. Die Gebäude, nebst der Haupteinkaufsstraße im Zentrum, verfallen zunehmend. Es ist grau und regnerisch, als wir die Endhaltestelle der Tram erreichen. Wir steigen noch lange matschige Pfade inmitten eines Waldes hinauf und erklimmen zahllose Treppen, bis wir die Wohnung Lubomirs betreten. Seit Serbien ist es üblich, dass die Todesanzeigen verstorbener Personen an ihrer ehemaligen Haustür befestigt werden. Wir passieren ein Heer an Todesanzeigen.
Es ist nicht einfach, ein Gesprächsthema mit Lubo zu finden. Spätestens seit seiner Aussage, dass er überhaupt keinen Sinn darin sehe, zu reisen, es sei denn, es gehe um Saufurlaub, sehen wir das ein.
Dann trinkt er noch ein bis zwei Proteinshakes, entblößt seinen hochgepumpten Oberkörper und setzt sich für einige Stunden an seinen Rechner im Wohnzimmer, bevor er sich zu einer Hardcore-Party verabschiedet.
Wir erkunden Sofia am folgenden Tag. Es ist Samstag und in jeder der zahlreichen Kirchen im Zentrum wird im Akkord geheiratet, im Akkord für Hochzeitfotos posiert, im Akkord beglückwünscht.
Endlich hören die Hipster-Cafés auf. Sofias Innenstadt ist unaufgeregt und ein bisschen schäbig. Der Putz bröckelt ab, nichts wird beschönigt, nichts soll mit ein wenig Farbe und Kleister hübscher aussehen, als es eigentlich ist. Es gibt kein überbordendes Warenangebot. Die Polizei, so sagt man uns, könne man mit 10 Euro problemlos bestechen. Sofia ist keine Hübsche. Aber sie ist stolz und unkaputtbar, so wie der Löwe, das heimliche Wahrzeichen der Stadt.
Neben dem Verfall: Der Sozialismus.
Die sozialistischen Gebäude sind gemacht für die Ewigkeit. Unkaputtbar, riesig, enorm und massiv. Auch wenn in Sofia bis auf die Kirchen alles verfällt, alles von der Zeit gezeichnet ist, sehen diese Gebäude noch immer aus, wie aus dem Ei gepellt. Sie sind noch immer so unkaputtbar, riesig, enorm und massiv, wie sie es schon immer waren.
Doch hat sich ihre Bestimmung verändert. Der Kapitalismus hat Einzug gehalten. Und hier in Sofia zeigt sich die Vereinbarkeit des Unvereinbaren.
In den Regierungsgebäuden wurde ganz höflich Platz gemacht, im eigenen Haus ein Zimmer frei geräumt, für die lieben Gäste, für den Kommerz und den Konsum.
Nun thronen und regieren sie ganz offen gemeinsam mitten in der Stadt. Regierung und Shopping-Mall in dem einen Gebäude, Administration und Luxus-Hotel in dem anderem.
Vor dem Justizgebäude wachen die sehnigen, die starken Löwen, am Stadion etwas abseits des Zentrums prangt ein Zitat Schillers.
Sonntags ist Parktag. Im Borisova Gradina, dem ältesten Park Sofias, kämpfen die Arbeiter noch immer verbissen für ihre Rechte, hoch oben auf dem Sockel des riesigen Monuments. Nebenan sitzen die Eltern unter einem rostigen Pavillon, während Cinderella einen Kindergeburtstag bespaßt.
Ganz am Ende der Einkaufsmeile, rund um die Straßen Neofit Rilski und Graf Ignatiov, dann endlich das Ausgehviertel. Kneipen und Restaurants, deftiges Essen und süffiges Bier. Wir lassen uns alles schmecken, sind mit unseren Gedanken aber schon ganz woanders.
Wir stehen so kurz vor Istanbul, so kurz vor dem Tor nach Asien, dass wir es kaum erwarten können, uns wieder mit ausgestrecktem Daumen an die Straße zu stellen.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.