Tony ist ein komischer Kauz. So einen wie ihn trifft man nicht oft. Ein witziger Typ, charmant, verliebt in die Physik und mit einem Grinsen ausgestattet, das schon von Weitem den Schalk in seinem Nacken erkennen lässt.
Wir lernen Tony in Auroville kennen. In der Kommune im Süden Indiens arbeiten wir gemeinsam an einem Projekt zum nachhaltigen Hausbau und erleben, wie junge indische Frauen schwärmend zu seinen Füßen liegen, weil Tony, der Franzose aus Paris, für sie der Inbegriff romantischer Liebe ist.
Hier in Varanasi sehen wir uns wieder. Monate sind vergangen, seit wir uns zuletzt trafen und doch fühlt es sich an, als wäre es erst gestern gewesen. Zusammen wohnen wir für einige Wochen in einem heruntergekommenen Wohnhaus, das irgendwann einmal ein Gasthaus für Rucksackreisende sein wird. Doch bis dahin gibt es noch viel Arbeit. Wir schleifen und bemalen Fensterrahmen, reparieren Möbel, richten den ersten Stock des Hauses so behaglich wie möglich her.
Doch oft liegen wir einfach nur unter einem riesigen Ventilator. Kurz vor der Regenzeit ist es heiß in Varanasi, die Luft ist schwül, stickig und schwer. Schon im Sitzen tritt der Schweiß aus den Poren und selbst nachts ist die Hitze noch so drückend, dass wir regelmäßig auf dem Dach schlafen, weil es im Haus nicht auszuhalten ist. Am späten Nachmittag, wenn die Temperaturen ihr bleiernes Gewicht ein wenig abschütteln, machen wir uns auf den Weg zum Ganges. Dann tuckern wir in einer Rikscha durch das indische Großstadtgewühl. Bebender Motorenlärm, rußige Abgaswolken, wildes Hupen und Geschrei begleiten uns. Ohne Ohrstöpsel gehen wir schon lange nicht mehr aus dem Haus. Immer wieder staut sich der Verkehr – entweder an einer Ampel oder an einer Kuh, die es sich mitten im Chaos auf der Fahrbahn gemütlich gemacht hat.
Der Ganges, rituelle Reinheit und Faulbecken
Kurz vor dem Assi Ghat, einem von über 80 Badestellen in Varanasi, steigen wir aus. Die letzten Meter bis zum Ganges gehen wir zu Fuß. Aus einer schmalen Gasse kommend öffnet sich plötzlich die Stadt. Das weite Ufer des Ganges liegt vor uns. Hierher kommen die Pilger in der beseelten Hoffnung, ihre Sünden im heiligen Wasser fort zu waschen. Für sie ist der Ganges mehr als nur ein Fluss – er ist die göttliche Reinheit, ein Symbol für Spiritualität und eng verwoben mit der hinduistischen Mythologie.
Für alle anderen ist er der schmutzigste Fluss der Welt. Eine Kloake.
Wenn der heilige Fluss die Höhen des Himalajas hinter sich lässt, mäandert er durch die nordindische Tiefebene, eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt. Rishikesh, Haridwar, Varanasi, Kalkutta – insgesamt 114 Städte liegen an seinem fruchtbaren Ufer. Der Fluss spendet Trinkwasser, ist Arbeitsplatz und Massengrab. Er ist die Lebensader Indiens. Millionen Menschen – etwa jeder 13. auf der Welt – sind direkt vom Ganges abhängig.
Auch eine ganze Reihe bedeutender Industriezweige hat sich in seiner Nähe angesiedelt. In Kanpur, 300 Kilometer stromaufwärts von Varanasi, leiten Hunderte illegale Gerbereien ihre toxischen Abwässer direkt in den Fluss. Dann, nur noch 120 Kilometer vor Varanasi, mündet die Yamuna mit dem Dreck aus der Hauptstadt Neu-Delhi in den Ganges. Neben den ungeklärten Abwässern aus unzähligen Fabriken gelangen zudem noch Pestizide und Düngemittel aus der Landwirtschaft und die Fäkalien und Abfälle von Millionen Haushalten ungefiltert in den heiligen Fluss – vier Milliarden Liter jeden Tag. Dazu kommen allein in Varanasi täglich Dutzende Leichen, die mehr oder weniger stark verbrannt dem Wasser übergeben werden.
Das Gift fließt mit dem Ganges. Es gibt wohl kein Bakterium, das sich nicht im Ganges finden lässt. Bei Varanasi wird allein der landesweite Grenzwert für die Belastung durch Kolibakterien im Wasser um das Dreitausendfache überschritten. Auch die Messwerte für Arsen, Blei, Zink, Chrom und Quecksilber sind hier gefährlich hoch. Cholera, Ruhr, Hepatitis-A und Typhus sind immer wieder auftretende Erkrankungen an den Ufern des heiligen Flusses.
Zurück am Assi Ghat dauert es nicht lange, bis Bootsmänner uns ihre Dienste anbieten. Bettler sitzen auf den Stufen zum Ganges, heilige und scheinheilige Männer meditieren im späten Nachmittagslicht oder entzünden im Schatten eines Baumes harzig duftendes Charas.
Teeverkäufer bieten süßen Chai in winzigen Pappbechern an, junge Männer verkaufen Haschisch, alte Frauen in bunten Saris stehen knietief im Wasser des heiligen Ganges, tauchen prustend unter und vollziehen so ihre rituellen Waschungen. Ganz in ihrer Nähe schöpft ein Mann mit den Händen Wasser aus dem Ganges und gießt es sich bedächtig über Kopf und Schultern. Dann träufelt er sich ein paar Tropfen in den Mund.
Jede Bewegung ist langsam, dem tropischen Klima geschuldet. Kühe trotten lustlos umher, kauen an aufgeweichten Pappkartons. Dazwischen versuchen von weither angereiste Touristen mit großen Augen einen Sinn in dem Durcheinander zu erkennen. Unzählige Menschen sind hier unterwegs. Ein paar Studenten der Kunstfakultät skizzieren das Geschehen.
Wir schlendern entlang der Ghats, schlürfen süßen Tee, lassen uns von noch mehr Bootsfahrern ansprechen. Der heilige Fluss glitzert im Sonnenlicht und gemächlich flanieren wir an seinem Ufer. „Wir sollten im Ganges baden.“, schlägt Tony unvermittelt vor und wischt sich den Tropenschweiß aus dem Gesicht.
Tatsächlich sieht der Ganges einladend aus; schlammig vielleicht, aber erfrischend. Der Horror bleibt unter der Oberfläche. Aber aus dem Sinn ist er nicht. Selbst Pilger, die sich hier im Ganges reinigen, werden von Durchfallerkrankungen geplagt. Uns ist nicht wohl, doch Tony ist von seiner Idee begeistert: Ein Bad im Ganges – ganz so, wie es die Gläubigen machen, die bis zum Nabel im heiligen Wasser stehen und dreimal nacheinander untertauchen, um sich ihrer Sünden zu entledigen.
Ganga Mata, die Göttin
Der Ganges ist einer von insgesamt sieben heiligen Flüssen im Hinduismus. Tatsächlich wird er jedoch verehrt wie kein anderer. Ganga Mata – Mutter Ganga – nennen ihn die Hindus. Seit Jahrtausenden huldigen sie dem Fluss wie einer Göttin. Zugleich behandeln sie ihn wie ein Faulbecken. Der mythologisch reine Ganges ist faktisch ein stinkender Abwasserkanal.
Obwohl wir, im Gegensatz zu Tony, noch immer mit der Idee hadern, im Ganges zu baden, schmieden wir einen Plan. Etwa auf Höhe des Assi Ghats biegt der Ganges nach Osten. Dort, am gegenüberliegenden Ufer, ist das Wasser zwar von genauso schlechter Qualität wie überall, aber immerhin, so glauben wir, schützt uns die Biegung vor der Strömung und den Leichenteilen aus der Flussmitte.
Am nächsten Morgen machen wir uns schon früh auf den Weg zu den Ghats. Wir wollen den Sonnenaufgang auf dem Ganges erleben, wollen sehen wie die morgendliche Sonne Varanasi in warmes Licht taucht.
In einem hölzernen Kahn sitzen wir mit Tony, Sime und Kirtan, die wir in unserer Unterkunft kennenlernen. Sanft und gleichmäßig rudert der Bootsmann durch das trübe Wasser und bewegt uns langsam über den mächtigen Strom. Am Ufer erwacht die Stadt. Dort waschen Frauen ihre bunten Kleider, schäumen Alte und Junge ihre Körper mit Seife in den schmutzigen Fluten. Chai-Wallahs verkaufen würzig-süßen Milchtee. Barbiere rasieren die Köpfe der Gläubigen. Eine Anwohnerin schöpft Wasser für den Tee aus dem Ganges.
Weiter flussaufwärts lodern Flammen am Manikarnika Ghat. Rauchschwaden steigen langsam in die Höhe. Überall streunen Hunde, Ziegen und Kühe umher. Wasserbüffel, die mit ihrem Hirten irgendwo im Labyrinth der Altstadtgassen leben, kühlen ihre massigen Körper im heiligen Fluss. Dahinter erheben sich die Fassaden einer jahrtausendealten Stadt. Leben und Tod reichen sich vor uns die Hände.
Vielleicht liegt es an der Magie Varanasis, in der alle spirituellen Wünsche in Erfüllung gehen sollen. Vielleicht liegt es an der Hitze, die uns ganz leicht degeneriert. Was es auch ist, unsere leichtsinnige Idee im Ganges zu baden stellen wir nicht mehr infrage. Die vielen Menschen, die jeden Tag in den heiligen Fluss steigen, kommen doch auch vollständig mit allen Körperteilen wieder heraus – mehr Glaubwürdigkeit benötigen wir nicht.
Baden im Ganges
Der Bootsmann rudert uns an die Flussbiegung gegenüber dem Assi Ghat. Tony klettert zuerst ans Ufer, reißt sich das T-Shirt vom Körper und sprintet ins Wasser. Wir folgen ihm, obwohl die Magenschmerzen schon einsetzen, bevor wir überhaupt das Wasser berühren.
Schritt für Schritt steigen wir tiefer in den trüben Fluss. Unter der braun schimmernden Oberfläche ist nichts zu erkennen. Ich versuche nicht an die Hinterlassenschaften aus Hunderttausenden Hocktoiletten zu denken, die ebenfalls durch den Fluss treiben. Im schlammig weichen Untergrund versinken unsere Füße. Irgendwann trete ich auf etwas, das sich wie ein Stück Stoff einfühlt. Unwillkürlich erinnere ich mich an die weißen, goldenen und roten Leichentücher am Manikarnika Ghat. Will ich wirklich wissen, was sich gerade unter mir befindet?
Am Ufer schauen uns eine Handvoll Einheimische vergnügt dabei zu, wie wir durch den heiligen Ganges staken und gleichzeitig versuchen nicht übermäßig nass zu werden. Nur Tony grinst über das ganze Gesicht, er schwimmt bis in die Mitte des Flusses, taucht dort sogar unter Wasser. Auch ich möchte mir den Segen von Mutter Ganga abholen, aber weiter als bis zu den Schultern wage ich mich nicht. Das Kopfkino beginnt spätestens ab dem Bauchnabel. Ich bin mir nicht sicher, ob die Übelkeit, die in mir aufsteigt, nur psychisch ist oder bereits von all den Krankheitserregern im Fluss stammt.
Kirtan traut dem Wasser des Ganges genauso wenig wie ich und befindet sich dabei im Zwiespalt. Als Hindu ist der Ganges für ihn natürlich heilig und ein Bad im Fluss ein spirituelles Erlebnis – theoretisch. Doch Kirtan scheint in diesem Moment nicht viel für Spiritualität übrig zu haben. Es ist Tony, der unserem jungen Freund die Sünden vom Körper wäscht. In einem unbeobachteten Moment stürzt er sich auf Kirtan und drückt ihn lachend unter Wasser. Als Kirtan mit geweiteten Augen wieder auftaucht, kann er sein erstes Bad im Ganges noch gar nicht fassen. Alles Schlechte in seinem Leben treibt nun mit dem Fluss davon und so richtig unglücklich darüber sieht Kirtan nicht aus.
In der Hocke krebse ich ein bisschen durch das Wasser. Immer wieder berührt mich irgendetwas unter der Oberfläche. Ich kann nicht erkennen, was die Strömung gegen meinen Körper drückt und das beunruhigt mich. Wie fühlt es sich wohl an, wenn mich Leichenteile im Fluss streifen? Im weichen Schlamm des Flussbettes ertaste ich immer wieder etwas Festes, Hartes und rede mir ein, dass es nur Steine seien. Doch dann trete ich auf etwas Spitzes und unwillkürlich schießen Bilder von zersplitterten Knochen durch meinen Kopf. Mehr spirituelle Reinigung ertrage ich nicht.
Die göttliche Reinheit des Flusses
Den vielen Tausend Gläubigen, die jeden Tag in Varanasi in den Ganges steigen, sind solche Gedanken wahrscheinlich völlig fremd. Für sie ist die Verschmutzung des Flusses oft nicht einmal ein Thema. Sie glauben daran, dass Ganga dazu dient die Menschen zu reinigen und nicht, dass die Menschen dazu da sind, Ganga rein zu halten. Das, so sagen sie, schaffe die Göttin von selbst.
Einige Wissenschaftler und auch die indische Regierung sind da anderer Meinung. Schon seit den 1980er Jahren gibt es Pläne zur Reinigung des Flusses. Genützt haben sie bisher wenig. Mangelhafte Umsetzung und vor allem die ausufernde Korruption torpedieren jeden Versuch die Wasserqualität des Ganges zu verbessern. Entweder erreichen die freigegebenen Gelder gar nicht erst ihren Bestimmungsort oder Unternehmen widersetzen sich den Gesetzen, bestechen die örtliche Polizei und leiten weiterhin ungeklärte Abwässer in den Ganges.
Währenddessen ist die einfache, oft arme Bevölkerung am Ufer kaum in der Lage auf den Fluss zu achten. Ihr täglicher Kampf um das Notwendige erfordert ihre ganze Kraft. Die Verschmutzung des Ganges gehört für sie zu den entfernteren Problemen. Sie waschen weiterhin ihre Wäsche im Ganges, entnehmen ihm Trinkwasser, waschen sich in einem Fluss, der so lebendig ist wie ein Abwasserkanal.
Mittlerweile steht die Sonne über Varanasi. Die Hitze des Tages drückt auf die Stadt. Wir steigen aus dem Ganges und lassen uns tropfend zurück ans Assi Ghat rudern. Auf der anderen Seite sind wir bereits trocken. So stark brennt sie Sonne auf uns herab. Wir wollen frühstücken, trauen uns aber nicht mit unseren vom Ganges umspülten Händen etwas Essbares anzufassen. Was wir jetzt brauchen, ist eine saubere Dusche.
Varanasi in vier Teilen
Teil 1: Totenkult in Varanasi
Teil 2: Ein Bad im Ganges, dem schmutzigsten Fluss der Welt
Teil 3: Gassen, Ghats und Ganga Aarti
Teil 4: Babas, Bhang und Bagaluten
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.
Da muss euch aber tatsächlich ziemlich viel Sonne auf den Kopf geschienen haben. Ich bekomme schon vom Lesen Magenbeschwerden. 🙂