„Erschreckt euch nicht, wenn ich die Regeln breche. Das hier ist Indien, niemand hält sich an die Regeln“. Wir sitzen auf der Rückbank eines Pkws und rauschen über die Schnellstraße. Die Felder der Kleinbauern fliegen hinter den getönten Fensterscheiben vorbei. Unser Fahrer Deepak hat es eilig. Er drängelt wo er kann, nutzt jede sich öffnende Lücke. Die Hupe ist sein Spezialwerkzeug im Kampf um die Hoheit auf der Straße. Sie quäkt immer wieder in den Verkehr hinein, auch wenn sich für uns der Sinn oft nicht erschließt.
Wir sind das indische Verkehrschaos mittlerweile gewöhnt. Tatsächlich ist es hier auf der Schnellstraße nach Mumbai noch einigermaßen überschaubar. Keine Kühe, Ziegen oder Hunde, keine Radfahrer, keine Ochsengespanne, keine Fußgänger – eine Reihe Unwägbarkeiten sind von der Schnellstraße verbannt, doch damit ist der Verkehr nicht weniger dramatisch. In einem Land, in dem jeder auf eigene Verantwortung Fahren lernt, sind Überraschungen vorprogrammiert. Ein Motorradfahrer wechselt um Haaresbreite zwischen einem Lkw und unserer Motorhaube die Spur.
„Indien braucht einen Diktator und keinen Premierminister, damit wir endlich Disziplin lernen“, stöhnt Deepak. Er ist aufgebracht. Wir sprechen schon eine Weile über Indien und die Gesellschaft, über oben und unten, arm und reich, Karma. Dabei ist Deepak kein einfacher Gesprächspartner. Er ist begeisterter Anhänger der Regierungspartei BJP, die gerade mit hindunationalistischer Politik für einige Unruhe im Land sorgt. Unruhe, die für Deepak in mangelnder Disziplin begründet liegt. „Disziplinlosigkeit“, so sagt er unheilvoll, „ist wie ein Krebsgeschwür.“
Je länger wir sprechen, desto mehr zeigt sich Deepaks Weltbild. Muslime machen ihm Angst, er hält sie für unzivilisiert. Aber Hitler, das war ein ganz großer Mann in der Geschichte. Ein Führer, wie er auch für Indien wünschenswert wäre. Diesen verschrobenen Gedanken hören wir immer wieder. In Indien wird Hitler von vielen Menschen offen bewundert: für seine Ausstrahlung, seine Vision, seine Stimme. Wir haben aufgehört, dagegen aufzubegehren, denn den Menschen fehlt gleichzeitig der historische Kontext. Deutschland, Holocaust, Folter, Unterdrückung, Verfolgung – all das ist weit weg, geografisch aber auch verstandesgemäß. Wie führt man ein konstruktives Gespräch, wenn der Gegenüber Grundlegendes nicht weiß? Irgendwann spricht Deepak offen rassistisch. „Wenn es keine Muslime in Indien gäbe, könnten wir viel einfacher Krieg gegen Pakistan führen. Wir könnten eine Atombombe auf das Land werfen und alles wäre erledigt.” Es läuft uns kalt den Rücken runter. Die Atombombe, na klar, die Lösung aller Probleme.
Als die Sonne schon lange untergegangen ist, halten wir an einer Raststätte. Draußen vor der Tür tritt beißender Gestank in unsere Nasen. Ätzende Luft brennt in den Augen, reizt den Rachen. Wir laufen in ein geschlossenes, mit Klimaanlage gekühltes Restaurant. Unsere Schleimhäute beruhigen sich. Hier, irgendwo nördlich von Mumbai, befinden sich Chemiewerke, die rund um die Uhr ihre giftigen Dämpfe absondern. Die brennende Luft ist kein Unfall, sondern Normalität. Auf der anderen Straßenseite stehen einfache Hütten. Hier leben und arbeiten Menschen.
Mumbai, Metropole am Meer
Am nächsten Tag stehen wir mitten drin in der Metropole am Meer. Mumbai, eine der größten Städte der Welt, begegnet uns mit gläsernen Hochhäusern, Finanztürmen und kolonialen Palästen. Doch der glänzende Schein trügt. Mumbai ist ein hungriges Ungeheuer, gewaltig, gewalttätig. Es verschlingt Menschen. Aus allen Teilen des Landes kommen die Begabten, die Glücksritter, die Hoffnungsvollen. Indien schaut auf Mumbai wie auf einen leuchtenden Stern. Und Mumbai liefert: Filme für die Massen, Geld für die Wirtschaft, Fische für die Armen.
Das Stadtzentrum befindet sich auf einer Landzunge am Arabischen Meer. Hier ist man zu Hause oder in der Hölle. Mumbai ist kein Ort für Gleichgültigkeit. Mehr als sechzehn Millionen Menschen leben in der Stadt. Dazu noch ein paar Millionen im Einzugsgebiet. Genaue Zahlen weiß niemand.
Es herrscht Platzmangel. Mumbais Infrastruktur steht seit Jahren vor dem Zusammenbruch. Es ist wie ein nicht endendes Herzflimmern. Die Trinkwasserversorgung, das Gesundheitswesen, der öffentliche Verkehr, alles steht am Rand des Kollapses. Und noch immer ziehen jeden Tag Hunderte Menschen in der Hoffnung auf ein besseres Leben hierher. Sie kommen in die Stadt wie die Motten zum Licht. Manche verbrennen, andere steigen auf zu den Sternen.
Mumbai ist eine Stadt der Kunst, eine Stadt der Künstler. Überlebenskünstler, Kleinkünstler, Filmkünstler. Die Metropole ist mal König und mal Bettler. Eine Stadt des Geldes und eine Stadt der Armut. Was wir sehen, ist oft Illusion; ein Bild von dem, was wirklich sein könnte. Egal ob auf den breiten Boulevards oder in den engen, hektischen Gassen der Basare. Mumbai erregt die Fantasie und ist nebenbei Kulturzentrum mit Universitäten, Theatern, Museen, Galerien und jeder Menge Lichtspielhäusern.
Mumbai ist eine Weltstadt, ruhelos, kosmopolitisch. Fast ein Drittel der indischen Steuereinnahmen werden hier erwirtschaftet. Über den Stadthafen wird die Hälfte des indischen Außenhandels verschifft. Die Filmindustrie ist die produktivste der Welt. Ihre Stars und Sternchen wohnen in millionenteuren Villen und Apartments, während mehr als die Hälfte der Einwohner Mumbais in Slums leben.
Hier ist es feucht und heiß, Abgase stehen über der Stadt und wer sich kein gutes Leben erkaufen kann, kämpft sich durch Armut und Menschenmassen, hygienische Missstände und Perspektivlosigkeit, haust auf Mülldeponien, sammelt Lumpen. Die Stadt kennt vor allem Extreme. Schönheitskliniken und Börsenhändler auf der einen Seite, Blechhütten und Müllsammler auf der anderen.
Mumbai, vom Fischerdorf zur Weltstadt
Vor ein paar Hundert Jahren ist Mumbai ein kleines Fischerdorf. Nicht einmal die Landzunge, auf der die Stadt heute thront, existiert damals. Indigene Koli ziehen mit schmalen Booten hinaus aufs Meer, leben vom Fischfang. In der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts siedeln sich die Briten an. Sie übernehmen den geschützten Naturhafen zwischen den vorgelagerten Inseln und dem sumpfigen Festland von den Portugiesen und nennen ihn Bombay. Doch die ersten Jahre sind hart für die Neuankömmlinge. Ruhr und Cholera fordern viele Todesopfer. Damals ist man sich sicher: „Zwei Monsunregen entsprechen der Dauer eines Menschenlebens“. Nichtsdestotrotz etabliert sich die Stadt als Handelszentrum der East India Company. Kaufleute aus Goa und Gujarat ziehen ebenso hierher wie muslimische Handwerker. Bombay wächst unaufhaltsam. Von hier werden die europäischen Märkte mit den Produkten Asiens bedient.
Später dann, Bombay ist bereits eine wohlhabende Metropole, organisiert sich hier die indische Unabhängigkeitsbewegung. Und auch nach der Unabhängigkeit boomt die Stadt, ihre Einwohnerzahl explodiert; ihre Gebäude ebenso. Terroranschläge und Pogrome erschüttern Bombay. Sie sind Ausdruck wachsender Spannungen zwischen religiösen und ethnischen Gruppen.
Doch Bombay macht sich immer wieder frei. Die Stadt atmet Leben ein. Es geht weiter, immer weiter. Mitte der 1990er wird Bombay offiziell in Mumbai umbenannt. Es ist der Auftakt einer groß angelegten sprachlichen Entkolonialisierung. Die Lokalregierung streift die britische Vergangenheit ab. Plätze, Straße und Wahrzeichen erhalten neue, hinduistische Namen. Doch für viele Einwohner bleibt die Stadt weiterhin Bombay.
Das Gateway of India, der riesige Triumphbogen am Meer, ist das Tor zur Stadt. In ihm ist das stolze Selbstverständnis Mumbais greifbar. Errichtet von den Briten 1911, gehört es seit Jahrzehnten zu den beliebtesten Hintergrundmotiven der indischen Filmindustrie. Für die Seele des Landes markiert das Gateway of India eine neue Zeitrechnung. Hier marschieren 1947 die letzten britischen Soldaten auf indischem Boden zu ihren Transportschiffen. Als sie ablegen, ist Indien endlich frei.
Colaba
Hunderte Menschen schauen jeden Tag vorbei. Fotografen suchen auf dem weiten Platz vor dem Triumphbogen nach Kunden. Hinter dem Gateway of India liegt Colaba, das Touristenviertel Mumbais. Hier befinden sich Hotels und Spelunken, Restaurants, Kneipen, kolonialer Schick und urbanes Elend. In dunklen Seitengassen verfallen Wohnhäuser, Junkies vegetieren auf der Straße, Schlepper suchen geschäftsmäßig die Nähe der Touristen. Taxifahrer hocken vor ihren schwarz-gelben Ambassadors, lesen die Tageszeitung, trinken Chai. Sonnenstrahlen blitzen über die Frontscheiben. Das indische Auto ist ein Spiegelbild der Stadt. Zuverlässig, elegant, prächtig auf eine altmodische Art. Doch der glänzende Lack hat Kratzer und Dellen. Da sind abgenutzte Sitzbezüge, schiefe Kotflügel und kaputte Seitenspiegel.
Die Taxifahrer warten auf Touristen, Touristen warten auf magische Momente. Sie wollen sich von Mumbai verzaubern lassen. Biertürme werden aufgestellt. Drei Liter für zwanzig Euro, serviert im Leopold`s Café, nur ein paar Minuten vom Gateway of India entfernt. Das Leopold`s, an einer Straßenecke gelegen, ist eine Institution, halbwegs schäbig, halbwegs charakterlos ist das Café ein immer wiederkehrender Schauplatz im Roman Shantaram. Die Geschichte von Lin und seinen Abenteuern in Bombay schafft eine gewaltige Anziehungskraft und setzt der Stadt ein unvergleichliches Denkmal.
Im Leopold`s Café sitzen sie zusammen, die Reisenden und Einheimischen, sonnenverbrannte Touristen, Rast- und Ruhelose. In der großen Halle klirren bereits zur Mittagszeit die Bierflaschen. Geschirr scheppert auf Dutzenden Tischen, Stimmen schwirren umher. Die Sprachen der Welt fließen hier in babylonischem Wirrwarr ineinander.
Draußen auf der Straße ist es heiß. Die Sonne steht hoch, die Luft ist feucht, der Kopf schwer. Im tropischen Klima verschwimmt Mumbai zu einem glitzernden Fantasiewesen. Da ist die herrliche, ausladende Kolonialarchitektur: weitläufige Museen, die Universität, das Gerichtsgebäude und daneben die Boulevards, die Banken, Einkaufszentren, Straßenstände.
Über den nahen Bahnhof CST werden täglich etwa drei Millionen Fahrgäste in die Stadt geschleust. Alle paar Minuten fährt ein vollgestopfter Zug ein oder aus. Das rege Gewusel setzt sich in den engen Gassen der angrenzenden Basare fort. Getrennt nach Kaste, Zunft und Religion ist jeder Gang auf bestimmte Waren spezialisiert. In safranfarbene Kleider gehüllte Sadhus schlendern über die Basare. Tagelöhner drücken sich an Tempeln und Moscheen vorbei durch die Menschenmassen. Auf ihren Köpfen balancieren sie kiloschwere Pakete. Fünfstöckige Wohnhäuser stehen so nah beieinander, dass ihre Schatten die Straßen verdunkeln. Nur gegen Mittag fallen ein paar Sonnenstrahlen hinunter auf die Waren in den Auslagen der Marktstände.
Hier irgendwo in der Nähe wohnt Saad. Als jüngster von drei Brüdern lebt er mit seinen Eltern in einer eingezäunten Plattensiedlung. Es ist ein kleiner geschützter Raum in der großen Stadt mit eigenem Kiosk, Wäschereiservice, Chai Wallahs und einem Wachmann an der Schranke. Hohe Mauern umgeben den Komplex, die mit Glasscherben bewehrt sind. Verwaschene Fassaden und muffige Treppenhäuser gehören zu den Wohnblöcken. Nachts wühlen gigantische Ratten in überbordenden Müllcontainern und jagen Katzen durch die Dunkelheit.
Saads Familie lebt seit über dreißig Jahren hier. Zwei Wohnungen und vier Zimmer teilen sie sich im obersten Stock eines Hauses. Saads Vater war lange Zeit Vorsteher der Hausgemeinde. Hier ist er verwurzelt. Man kennt sich. Saad selbst arbeitet als Manager in einem Technologieunternehmen. Die digitale Wirtschaft sorgt gerade in Mumbai für eine stetig wachsende Mittelschicht. Gleichzeitig ist Wohnraum knapp und teuer. In keiner anderen Metropole Indiens sind die Mieten so hoch wie hier.
Saad ist ein aufmerksamer Typ, wissbegierig, eloquent und manchmal gelangweilt. Dann denkt er sich Herausforderungen aus, um die eigenen Grenzen zu testen. Einmal verzichtet Saad zehn Tage lang komplett auf feste Nahrung und verspürt seitdem kein Hungergefühl mehr. Das Gleiche versucht er auch mit Flüssigkeiten, muss aber nach enttäuschenden zwei Tagen feststellen, dass trinken doch notwendig ist.
Literaturtipps zu Indien
Zwischen Himalaja und Indischem Ozean entstehen atemberaubende Geschichten. Wenn ihr Lust habt mehr über den spannenden Subkontinent zu erfahren, bekommt ihr hier 11 Literaturtipps von uns, mit denen ihr vom heimischen Sofa in die faszinierende, ungeschminkte Welt Indiens eintauchen könnt. Und ja, Rochssare hat sie alle selbst gelesen.Marine Drive
In Mumbais Straßen ist es heiß und stickig. Schweißperlen rollen über die Haut. Es ist Nationalfeiertag und in den Häuserschluchten der Metropole drängen sich die Menschen. Lediglich am Marine Drive, der lang gestreckten Promenade am Arabischen Meer weht ein leichter Wind.
Am späten Nachmittag treffen sich hier die Einheimischen und spazieren entlang der rauschenden Brandung. Chai Wallahs und Snackverkäufer laufen mit ihre Bauchläden auf und ab. Jugendliche sitzen auf aufgetürmten Betonblocksteinen, an denen sich bei Sturm die Wellen brechen. Hier ist der Ort für Sonnenuntergänge, auch wenn sie oft im Smog verloren gehen.
Der Marine Drive verbindet Mumbais soziale Klassen. Die Schönen und Reichen kommen ebenso hierher wie die Obdachlosen der Stadt. Am südlichen Ende der Promenade befinden sich die Luxusapartments, Banken, Bürotürme und Botschaftsgebäude am Nariman Point. Ein Dreizimmerapartment mit 100 Quadratmetern Wohnfläche kostet hier mehr als einen halbe Million Euro. Damit gehören die Grundstücke und Wohnungen am Nariman Point zu den teuersten der Welt.
Ganz anders dagegen das nördliche Ende des Marine Drives. Hier am Chowpatty Strand breiten die Einheimischen bereits seit Generationen ihre Picknickdecken aus, sitzen im Sand, blicken hinaus auf die Bucht. Sie schlecken Kulfi, traditionelle indische Eiscreme oder knabbern das berühmte Bhel Puri: eine Mischung aus Puffreis, gebratenen Nudeln, Kartoffeln, Chilipaste, Tamarindenwasser, gehackten Zwiebeln und Koriander. Professionelle Ohrenreiniger rühren mit langen, dünnen Stäben in den Ohrmuscheln ihrer Klienten herum. Das Wasser des Meeres schwappt dunkel und undurchsichtig ans Ufer, zieht Plastikflaschen und Verpackungsmüll mit sich. Auch um die vielen Essensstände weht ein Hauch von Mir-doch-egal. Papierfetzen und Plastiktüten liegen im Sand. Zerrissene Zeitungen gesellen sich dazu.
Zur Linken ragen mächtige Hochhäuser entlang der geschwungenen Bucht empor. Nach Sonnenuntergang, wenn die Lichter der Stadt in der Dunkelheit glühen, lädt Mumbai zum Träumen ein. Dann versteckt sich das Schäbige der Stadt hinter einer funkelnden Fassade, die vom Marine Drive bis zu den Filmstudios von Bollywood reicht. Die indische Traumfabrik lebt von dieser Oberflächlichkeit. Mitten in Mumbai schafft sie eine bunte Melange aus Tanz und Gesang, überbordenden Emotionen, unendlicher Liebe und skurriler Geschichten.
Die Bollywood-Revolution
Die Filmindustrie ist ein gigantisches Geschäft, einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Indien. Jedes Jahr werden etwa 1200 Filme gedreht. Kein anderes Land der Welt kann da mithalten. Die Hälfte der Filme entsteht in den Studios im Norden von Mumbai. Damit produziert Bollywood jährlich ungefähr drei Mal so viele Filme wie Hollywood.
Die Produktionen sind ein Fest für die Sinne, die jahrzehntelang nach Indiens ureigenem Masalaprinzip gedreht wurden – von allem ein bisschen. Horror, Komödie, Romanze, Action, Thriller, Drama, Bösewichte und Helden in einem Film. Genregrenzen sind in Bollywood lange Zeit unbekannt. Plausible Handlungen überbewertet. Auch wenn sich aktuelle Filmproduktionen einem internationaleren Publikum verschrieben haben, um auch im Ausland lebende Inder zu erreichen, läuft in vielen Filmen noch immer einiges durcheinander. Nichtsdestotrotz steht die Qualität Bollywoods den großen Blockbustern aus Hollywood in nichts mehr nach.
Dabei bedient sich der indische Film immer wieder an seinem amerikanischen Pendant. Produzenten und Drehbuchautoren nehmen international erfolgreiche Filme zur Vorlage, schreiben die Geschichten auf indische Sehgewohnheiten um, fügen Gesang, choreografierte Tänze und Melodrama ein und feiern damit eigene Erfolge. Sie können es sich erlauben, denn die Originale sind in indischen Kinos, die fast ausschließlich nationale Produktionen zeigen, unbekannt.
Zu jedem Film gehören natürlich die passenden Lieder, die den Hauptdarstellern auf die Rollen geschrieben werden und je nach Film zu wahren Hymnen heranwachsen. Überhaupt ist die indische Musikszene eng verwoben mit der Filmindustrie. Gerade einmal fünf Prozent der im indischen Radio gespielten Lieder kommen von Künstlern, die ihre Musik nicht für einen Film geschrieben haben.
In der Traumwelt des indischen Films werden die bekanntesten Schauspieler wie gottähnliche Wesen von 1,3 Milliarden Menschen angehimmelt. Junge Frauen fallen in Ohnmacht, Männer imitieren Posen aus Filmen oder kleiden sich wie ihre Vorbilder. Shah Rukh Khan ist seit Jahren das Gesicht Bollywoods. Er ist der begehrende Held in romantischen Kinofilmen, gleichsam geliebt von Töchtern und Schwiegermüttern, ausgezeichnet, preisgekrönt und von der Presse als King Khan oder König von Bollywood gefeiert. Keine Zeitung ohne Abdruck seines Fotos, kein kitschiger Werbespot, der mit seinem Gesicht nicht zum grandiosen Erfolg wird. Dabei wirbt Shah Rukh Khan für ausnahmslos alles: Zement und Softdrinks, Tourismus in Dubai, Trockenpulver für die Achseln, Telekommunikationsunternehmen und natürlich auch für Weißmacher.
Bis heute ist helle Haut ein Status in Indien. Es bedeutet, dass man es geschafft hat. Helle Haut symbolisiert ein Leben ohne schwere körperliche Arbeit, ein Leben in klimatisierten Räumen. Es verspricht Erfolg, Reichtum, ein Leben auf der Überholspur. Helle Haut ist vielleicht die größte indische Obsession.
Alles wird besser, wenn helle Haut im Spiel ist. Auch Kinofilme. Deshalb ist Bollywood ständig auf der Suche nach hellhäutigen Statisten, die für ein oder zwei Szenen durch den Hintergrund wackeln. In Colaba casten die Agenten der Filmstudios Touristen direkt von der Straße weg. Ein paar Rupien und eine Mahlzeit aber vor allem die Gelegenheit am Set eines Bollywoodfilms dabei zu sein sind für viele Reisende Ansporn genug.
Auch wir wollen unbedingt entdeckt werden. Einmal die Luft der Traumfabriken atmen, vielleicht sogar ein bekanntes Gesicht sehen. Doch wir wissen nicht genau, wie wir es anstellen sollen. Woran erkennt man einen Agenten Bollywoods? Wir schlendern umher, vorbei am Leopolds Café, an den Hostels und Restaurants, die häufig von Touristen besucht werden. Hier irgendwo müssen sie doch sein, die Späher der Filmindustrie. Immer wieder schauen wir uns um, laufen mehrfach im Kreis. Wir suchen umherlungernde Typen, windige Charaktere, die an Straßenecken warten und Passanten Filmrollen anbieten. Zumindest stellen wir uns vor, dass es so laufen müsste.
Verrückter Gedanke. Eigentlich gehen wir solchen Gestalten aus dem Weg und nun wollen wir sie mit aller Macht finden. Doch niemand spricht uns an. Wir bleiben unentdeckt. Auch einen Tag später interessiert sich niemand für unsere Gesichter. Am dritten Tag haben wir genug. Wenn wir nicht auf die Leinwand kommen, dann setzen wir uns davor. Wir gehen ins Kino. Hunderte Lichtspielhäuser gibt es in Mumbai. Ein paar davon erzählen noch immer von goldenen Zeiten. Art déco, samtene Sessel, schwere Vorhänge. Die Stadt atmet Filmkunst.
Gerade läuft ein spektakulärer Historienfilm mit Starbesetzung: Bajirao Mastani. Bollywoods aufstrebende Schauspielgeneration ist hier vereint. Wir versprechen uns viel Tanz und Gesang, Drama und Liebe, ausschweifende Emotionen, die es unerheblich machen, den Dialogen zu folgen, die wir aufgrund der Sprachbarriere nicht verstehen.
Doch es kommt anders. Der Film ist ein Fest für die Augen. Opulente Kostüme, leuchtende Farben, pompöse Kulissen, nur die Handlung offenbart sich uns nicht. Da sind ein Held und eine Frau und ein Hofstaat, aber wo sind die Zusammenhänge? Ohne Untertitel sind wir verloren. Erst nach etwas mehr als der Hälfte des Films wird uns klar, dass es nicht eine, sondern zwei Frauen sind und der Held sich offenbar in einem Entscheidungskonflikt zwischen beiden befindet. Außerdem wird auffällig wenig getanzt und wir sind vor allem eines: konfus. Das Ende ist entsprechend wirr und offenbar tragisch. Genau wissen wir es nicht.
Bajirao Mastani wird zum Megaerfolg. Für das internationale Publikum sind die Filme Bollywoods jedoch noch immer etwas speziell. Dabei hatte auch Mumbai schon den ganz großen Wurf: Slumdog Millionaire. Die Geschichte eines Jungen aus Dharavi, dem größten Slum Mumbais, der trotz aller Widerstände der Liebe seines Lebens folgt. Typische Erzählung Bollywoods. Seitdem ist Dharavi weltweit bekannt.
Dharavi: der Eine-Milliarde-Dollar-Slum
Dort wo in Mumbai die meisten Menschen aufeinander hocken, befindet sich einer der größten Slums Asiens: Dharavi. Auf etwas mehr als zwei Quadratkilometern ist hier ein Labyrinth an engen Gassen und dunklen Gängen entstanden. Heruntergekommene Hütten, zusammengeschustert aus Beton, Holz und Plastik, rostendem Wellblech und feuchten Wänden sind zwischen zwei Bahntrassen eingeklemmt. Jedes Gebäude ist ein Unikat, ein kleines statisches Wunder, gestützt vom guten Willen der Bewohner.
Auf wenigen Quadratmetern wohnen hier mehrere Generationen zusammen. In dreistöckigen Häusern teilen sich Familien erdrückend kleine Wohnräume. Mal zu viert, mal zu acht. Ratten huschen quiekend vorbei. Mehrere Tausend Menschen teilen sich im Schnitt eine öffentliche Toilette. Beißender Geruch liegt schwer in der Luft. In offenen Abwasserkanälen mäandert eine stinkende Brühe durch den Slum. Es heißt Ruhr, Malaria und Hepatitis seien weit verbreitet. Besonders im Monsun, wenn starke Regenfälle die Abwasserkanäle überlaufen lassen und die schmutzige Brühe durch die Gassen und Wohnräume schwappt, verbreiten sich Krankheiten und Virusinfektionen. Wie viele Menschen hier hausen ist unklar. Zwischen einer halben und einer Million sollen es sein. Damit hat Dharavi die weltweit höchste Bevölkerungsdichte.
Doch Dharavi ist keine Hölle. Der Slum gehört zu den wichtigsten Produktionsstätten in Mumbai. Zwischen den baufälligen Gebäuden, dem Müll, dem Schmutz, den Menschenmassen verbergen sich Kleinunternehmen und zehntausend Minimanufakturen. In jeder sind eine Handvoll Arbeiter beschäftigt; insgesamt eine Viertelmillion. Gemeinsam erwirtschaften sie einen Jahresumsatz von einer Milliarde US-Dollar.
Die meisten Unternehmen sind mit der Abfallverwertung beschäftigt. Hier wird der Müll der Stadt gesammelt, sortiert und recycelt. Aluminium wird in den schmalen Gassen eingeschmolzen, Seifenreste wiederverwertet, Leder gegerbt und verarbeitet, Fässer und Kessel geflickt, Plastik erhitzt und in neue Formen gegossen, Lebensmittel und Kleidung hergestellt. Aber auch althergebrachtes Handwerk hat in Dharavi seinen Platz. Hunderte Töpfer formen und brennen Trinkgefäße, Schalen und Schüsseln in allen Größen – vom Chaibecher bis zum bauchigen Wasserkrug. Der kratzige Rauch des Brennofens zieht durch die Gassen, die vom Ruß bereits schwarz gefärbt sind.
Damals, im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert, als Dharavi noch ein Fischerdorf außerhalb Bombays ist, siedeln hier Landflüchtlinge, die ihr Glück in der rasant wachsenden Stadt suchen. Die ersten Zuwanderer Dharavis sind Töpferfamilien aus Gujarat, deren Nachfahren bis heute der Handwerkstradition nachgehen. Aber auch aus anderen Landesteilen ziehen die Menschen nach Dharavi. Sie kommen aus Tamil Nadu, Karnataka, Rajasthan oder Uttar Pradesh und prägen den Slum bis heute.
Die verschlungenen schmalen Gassen schlucken den Lärm der Metropole. Schon nach wenigen Biegungen ist vom Motorenlärm und dem ständigen Hupen auf Mumbais Stadtautobahnen nichts mehr zu hören. Autos haben in Dharavi sowieso keinen Platz. Hier gehen die Menschen zu Fuß über holprige Wege. Das Viertel wirkt fast dörflich. In einem winzigen Friseursalon, der gerade so Platz für einen Kunden bietet, rasiert ein Barbier weiße Bartstoppeln von der faltigen Haut eines Mannes. Hunde streunen umher. Ziegen und Kühen stehen stur in den schmalen Gassen. Knorrige Bäume wachsen zwischen den Häusern.
Bilder von Göttern und Gurus kleben an den Hauswänden. Frauen in bunten Saris sind im fröhlichen Schwatz vertieft. Männer zerren Lastenkarren durch die Gänge. Dharavi ist arm, aber nicht elendig. Hier spielen Kinder mit schmutzigen Gesichtern, aber niemand hungert, niemand bettelt in der Gosse. Hier gibt es Banken und Schulen, ein Krankenhaus, Restaurants, Dutzende Tempel, Moscheen und Kirchen sind in die engen Gassen eingelassen. Es sieht aus wie überall in Indien: nur noch komprimierter.
Leben und arbeiten findet gemeinsam auf engstem Raum statt. Dort wo Müllbeutel aufgerissen auf dem Weg liegen, flattern Krähen umher. Sie zanken sich um die besten Stücke des Unrats. Fliegen steigen träge in der Luft auf und ab. Indischer Alltag. Normales Leben.
Aber Dharavi ist auch ein Spekulationsobjekt. Der Slum liegt zentral, mitten im Herz der Megametropole und besetzt wertvolles Bauland. Wie alle Slums ist auch Dharavi illegal. Keines der einfachen Häuser hat eine Baugenehmigung. Und so wirft ein gewaltiges Sanierungsprojekt dunkle Schatten über den Slum. Die Bewohner sollen in Hochhäuser umgesiedelt werden. Elektrizität, fließendes Wasser, verbesserte Hygienebedingungen werden prophezeit. Doch für ihre Existenzen, die kleinen Unternehmen und Manufakturen gibt es dort keinen Platz. Schwer vorstellbar, dass säckeweise Müll in den dreißigsten Stock geschleppt werden, um sie dort zu sortieren, oder dass die Lederarbeiter im zwölften Stock Häute gerben. Die geplante Umsiedlung ins Vertikale mag einen höheren Lebensstandard versprechen, aber sie zerstört die Lebensgrundlage fast aller Familien in Dharavi.
Reich sein in Mumbai
Arm und Reich begegnen sich in Mumbai täglich. Baufällige Mietshäuser in den Arbeitervierteln und glänzende Hochhäuser entlang der Promenaden und Boulevards liegen nah beieinander. Von Dharavi nach Bandra sind es nur vier Kilometer. Vier Kilometer zwischen Hunderttausenden, die zusammengepfercht in dunklen Gassen hausen und den Villen der vergötterten Bollywoodstars, Politiker und Kricketspieler. Vier Kilometer zwischen den Kindern, die dem Film Slumdog Millionär eine authentische Kulisse verliehen und dem Luxusheim Shah Rukh Khans.
Doch in Mumbais Immobilienzirkus ist selbst Shah Rukh Khans Domizil eine vergleichsweise bescheidene Hütte. An der Westküste Mumbais, nur ein paar Hundert Meter vom Arabischen Meer entfernt, ragt die teuerste Wohnung der Welt in 27 Stockwerken in die Höhe. Das Gebäude sieht aus, als wäre es von einem Fünfjährigen mit Legosteinen zusammengesetzt worden. Wie Bauklötzer liegen die Stockwerke kreuz und quer übereinander. Antilia heißt die merkwürdige Konstruktion, deren Bau zwischen 50 und 70 Millionen US-Dollar gekostet haben soll. Der Milliardär und Geschäftsmann Mukesh Ambani lebt mit seiner fünfköpfigen Familien hier. Zur Ausstattung ihres Heimes gehören ein sechsstöckiges Parkhaus für die private Sammlung luxuriöser Autos, Schwimmbäder, ein Kino, ein Tempel und eine Bibliothek. Angeblich soll es sogar einen Raum geben, in dem es schneit. Auf dem Dach befindet sich ein Hubschrauberlandeplatz.
Antilia ist nach dem Buckingham Palace die zweitgrößte Privatresidenz der Welt und Mukesh Ambani einer der zehn reichsten Menschen überhaupt. Indien macht es möglich, denn hier findet Reichtum in ganz anderen Dimensionen statt als in den meisten übrigen Ländern. Die Ungleichverteilung zwischen den wenigen Reichen und der endlosen Anzahl mittelloser Inder ist unvorstellbar. „Wer in Indien reich ist“, so hören wir es immer wieder, „ist ohne jede Einschränkung überall auf der Welt reich.“
Ganz in der Nähe zu Antilia steht der Mahalakshmi Tempel am Arabischen Meer, in dem die Göttin des Wohlstandes verehrt wird. Die ganze Stadt lechzt nach ihr. Im geschäftigen Tempel warten die Pilger oft stundenlang, um mit der goldgeschmückten Gottheit zu verhandeln: Opfergaben gegen finanzielles Glück, das ist der Deal. Für die Gläubigen sind es kleine, hoffnungsvolle Schritte in ein besseres Leben, das für die meisten nur ein Traum bleiben wird. Mumbais Alltag erzählt andere Geschichten. Dennoch bleiben so viele Gaben vor dem Schrein im Mahalakshmi Tempel liegen, dass zumindest die Tempelangestellten mit dem Wiederverkauf ein profitables Geschäft machen.
Vom Mahalakshmi Tempel sind es zwanzig Minuten zu Fuß bis zum Dhobi Ghat. Direkt hinter dem Bahnhof Mahalakshmi befindet sich Mumbais größte kommerzielle Wäscherei. In riesigen, betonierten Wasserbecken wird hier gewaschen, was in den Krankenhäusern, Hotels und Gasthäusern der Stadt an schmutziger Wäsche zusammenkommt. Von einer Straßenbrücke blicken wir direkt auf die Arbeiter. Mehr als fünftausend Männer waschen hier mit bloßen Händen Bettlaken und Kopfkissen, aber auch die Garderobe aus Privathaushalten. In etwa achthundert Becken werden Hemden und Hosen, Handtücher und Uniformen für wenige Rupien gereinigt.
Ein frisch gewaschenes Bettlaken kostet etwa vier Cent. Mit diesem Lohn kauft sich niemand ein neues Leben. Auch nicht in Indien. Doch es reicht für Tagträume. Mumbai ist ein gestaltgewordenes Versprechen und zugleich ein dunkler Abgrund. Die Stadt ist extrem, nicht nur für ihre Bewohner. Eine elegante Schöne und ein garstiges Monster. Glitzerwelt und Gosse. Verdammte, fiebrige Traumstadt. Nirgendwo nehmen wir die Brüche Indiens so intensiv auf wie in Mumbai. Die Metropole fordert und wer sie übersteht, ist bereit, mehr vom Land zu erfahren.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.
Zonds,
wie habt ihr es geschafft in 2020 nach Indien reinzukommen,
unsere Visas wurden im März 2020 gecancelt von der Regierung
wegen Corönchen. (jaul)
wir wollen wieder hin
lg
Andy
Hamburg