Drachenmarkt, Ahmedabad, Titel
Der Patang Basar und das Übel der indischen Masse

Auf dem Drachenmarkt in Ahmedabad


2. Oktober 2020
Indien
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Bereits Wochen vor dem großen Fest ist Ahmedabad in heller Aufregung. In kleinen, improvisierten Wohnzimmer-Manufakturen oder in den professionellen Betrieben: Überall werden in Dauerrotation Drachen gebastelt, mit bunten Fransen beklebt, grell leuchtende Schnüre auf grell leuchtende Spulen gezogen.

Es ist Mitte Januar. Der Winter ist zu Ende und traditionell wird der Beginn der Erntesaison gefeiert. Hier in Gujarat, Indiens westlichstem Bundesstaat, nennen sie das Fest Uttarayan. In Ahmedabad, der größten Stadt in Gujarat, steigen Tausende bunte Drachen in die Höhe. Auf dem Patang Basar, dem berühmten Drachenmarkt, werden rund um die Uhr Drachen und Schnüre in großem Stil verkauft, geflickt und ausgebessert. Es herrscht ein undurchsichtiges Tohuwabohu aus verwinkelten und überfüllten Gassen.

Bereits eine Woche vor Uttarayan strömen die Besucher durch die voll bepackten Straßen, kaufen Drachen, die im Akkord zusammengesetzt werden. Besonders interessiert sind die Besucher an der speziellen Drachenleine Manja. Bewehrt mit einer Mischung aus Klebstoff und Glasstaub ist sie die wichtigste Waffe im Kampf um die Hoheit in der Luft. Mit ihr versuchen die Drachenkämpfer in luftiger Höhe die Schnüre ihrer Rivalen zu durchtrennen, um diese zum Absturz zu zwingen.

Die Vorfreude auf das Drachenfest ist überall in Ahmedabad zu spüren. Schon jetzt kämpfen die Menschen hoch oben auf den Dächern der Stadt mit ihren Drachen über das Vorrecht am Himmel. Auch in den Straßenzügen, am Flussufer und auf öffentlichen Plätzen herrscht eine ausgelassene Stimmung. In der Drachensaison, die in Ahmedabad bereits im November startet, verändert sich das Verkehrsbild der Stadt. Dann krümmen sich provisorische Metallbügel im hohen Bogen um fast jede Motorradlenkstange. Sie sollen die scharfen Lenkschnüre der Drachen abfangen, denn immer wieder kommt es zu Kollisionen mit den scharfen, praktisch unsichtbar gespannten Schnüren.

Drachenmarkt, Patang Basar, Ahmedabad, Indien
über offenem Feuer werden die mit Glausstaub benetzten Manjas gehärtet
Drachenmarkt, Patang Basar, Ahmedabad, Indien
dichtes Gedränge auf dem Patang Basar

Krieg der Drachen

Die Tage um Uttarayan sind fröhlich. Bereits um fünf Uhr morgens werden auf den Dächern der Stadt die ersten Drachen losgelassen. Familien frühstücken die süßesten Süßigkeiten der Welt, Gulab Jamun und Laddu, während das für Uttarayan typische Gemüsegericht Undhiyu im traditionellen Erdofen langsam zubereitet wird. Auf den größten Terrassen trifft sich die Nachbarschaft. Aus ihrer Mitte steigen die Drachen empor, führen ihre Zweikämpfe am Firmament.

Auch wir versuchen uns an der Kunst des Drachensteigenlassens und verbringen Stunden mit Dev auf seiner Dachterrasse. Unser Gastgeber, 30-Jahre alter Junggeselle mit Beamtenjob, verwandelt sich in ein großes Kind, das lachend versucht, so vielen Drachen wie möglich vom Himmel zu holen. Das Eliminieren gegnerischer Flugobjekte ist ein Sport, den wir hingegen nicht gewohnt sind. Naiv und ungeübt verlieren wir Drachen um Drachen, die langsam und leise gen Boden schwanken. Manchmal eilt uns Dev in letzter Sekunde zur Hilfe. Dann wird aus unserem gejagten Drachen plötzlich ein Jäger, der selbst nach Beute lechzt. 

Uttarayan, Ahmedabad
Drachen über den Dächern von Ahmedabad

Auf dem Patang Basar in Ahmedabad

Später am Abend besuchen wir mit Dev und Eureka, einer Freundin unseres Gastgebers, den Patang Basar. Der seit Tagen rund um die Uhr geöffnete Markt ist zum Bersten gefüllt. Im Getümmel verlieren wir Dev und Eureka bald aus den Augen, werden immer weiter in die Gassen des Marktes geschoben. Wir gleiten hinein mitsamt der drängenden Masse, die sich kontinuierlich in dieselbe Richtung bewegt. Fremde Körper sind eng aneinandergeschmiegt, heißer Atem bläst in unbekannte Nacken. Wir versuchen aus dem drängelnden Pulk zu gelangen, müssen aber ungeduldig einsehen, dass wir nicht mehr selbstbestimmt handeln. Es bleibt nichts anderes übrig, als dem Strom zu folgen, der träge und zugleich mit unbändiger Kraft vorwärtstreibt. Immer wieder streifen fremde Hände meinen Körper, ob gewollt oder ungewollt mag ich nicht beurteilen, doch klammere ich mich hilfesuchend fester an Mortens Hand.

Plötzlich spüre ich die unangenehmen Blicke einer uns entgegenkommenden Männergruppe auf mir. Bald schon quetschen sie sich unausweichlich eng an uns vorbei. Eine Hand grapscht mir abgebrüht zwischen die Beine, gefolgt von der Nächsten, gefolgt von der Nächsten. Die gesamte Männergruppe nutzt meine ohnmächtige Lage, aus der ich mich mit unkontrollierten Schlägen zu befreien versuche. Verzweifelt ohrfeige ich jeden, der sich in meiner Nähe befindet. Aufruhr. Es ist mir völlig egal, ob ich Männer treffe, die ungewollt in den Tumult geraten sind. Verdutzte Gesichter starren mich an, doch die Bedrängungen und das Gegrapsche hören nicht auf.

Ich bin den Tränen nah, will weg; will, dass die gierigen Hände von meinem Körper lassen. Morten schiebt beharrlich jeden der Männer aus dem Weg, die mir zu nahe kommen, doch es gelingt ihm kaum die Menge auf Abstand zu halten. Wir versuchen aus den engen Gassen auf eine breitere Straße zu gelangen. Ich klammere mich von hinten an Morten, spüre Dutzend Hände überall auf meinem Körper. Den schmalen Gang, den Morten mithilfe ungestümen Körpereinsatzes öffnet, schließt sich schwitzend und drängend hinter mir.

Drachenmarkt, Patang Basar, Ahmedabad, Indien
Drachenmarkt, Patang Basar, Ahmedabad, Indien
Drachenmarkt, Patang Basar, Ahmedabad, Indien

Wir treffen auf Dev, der unsere Situation erkennt und mich von hinten umklammert, während ich mich weiter fest an Mortens Rücken drücke. Dev dirigiert uns in eine Seitengasse. Wir kommen kaum voran, wabern mit den Bewegungen der Masse, die sich wie ein Meer durch die überfüllten Straßen ergießt. Ich habe Schwierigkeiten mich auf den Beinen zu halten, schwanke bedrohlich, bin unfähig meine Bewegungen zielgerichtet zu lenken.

Bald gleiten Dev Hände unter meine Kleidung, umklammern die nackte Haut um Taille und Bauch. Ich ignoriere die unangebrachten Berührungen, bis Devs Hände weiter nach oben wandern und sich fest um meine Brüste schließen. Ruckartig drehe ich mich um und starre in die kleinen Augen eines alten, beinahe tattrigen Mannes, die mich lüstern anblicken. Ich habe gar keine Zeit zu reagieren, da stößt Dev den alten Mann zur Seite. Der reagiert nur mit trotzigem Blick und zuckenden Schultern. 

Endlich erreichen wir Devs parkendes Auto, in dem Eureka bereits auf uns wartet. Ich bin geladen. Adrenalin rennt in meinem Körper Marathon, als ich in die vermeintliche Sicherheit des Autos schlüpfe. Es dauert ein paar stille, tiefe Atemzüge, bis ich Eureka aufgelöst vom gerade Erlebten berichte. Still und erschreckend unaufgeregt folgt sie meinen Ausführungen. Schließlich zuckt sie gleichgültig mit den Schultern. „Ja, das passiert hier immer.“, lässt sie mich wissen. „Darum habe ich heute extra meine große Handtasche dabei, damit ich sie mir vor den Schritt halten kann.“

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Drachenmarkt, Patang Basar, Ahmedabad, Indien
Drachenmarkt, Patang Basar, Ahmedabad, Indien
Drachenmarkt, Patang Basar, Ahmedabad, Indien

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