Tim Lopes sitzt in einer Bar im Norden Rio de Janeiros. Vor ihm steht ein Bier, das er mit abwesendem Blick anstarrt. Eigentlich braucht er eine Auszeit. Doch die Erfolge und Auszeichnungen seiner Arbeit spornen ihn an weiterzumachen. Tim Lopes leert sein Glas und geht hinaus auf die Straßen der Favela. Wenige Stunden später ist er tot; hingerichtet und zerstückelt von der Drogenmafia.
Tim Lopes dokumentiert als Journalist 2002 den Drogenhandel in den Favelas Rio de Janeiros. Er filmt Dealer beim Verkauf von Kokain und motorisierte Milizen; zeigt, wie die Favelas von den Drogenkartellen beherrscht werden. Seine Reportagen und Dokumentationen werden prämiert und führen zu mehreren Verhaftungen. Gleichzeitig flackert das Bild Tim Lopes‘ über alle Fernsehkanäle. Die Berühmtheit wird ihm zum Verhängnis: Auf der Straße vor der Bar, nach seinem letzten Bier, erkennen zwei Mitglieder eines Drogenkartells Lopes. Der Rest ist Geschichte. Wochen später wird seine verstümmelte und verbrannte Leiche auf einem Hügel in der Favela Complexo do Alemão von der Polizei gefunden.
Damals berichten Rios Medien beinahe täglich über Gewalt und Mord in den Favelas, nur wenige Meter abseits der touristischen Sehenswürdigkeiten. Mitten in Rio de Janeiro liegen die Armenviertel dort, wo sonst niemand leben will: an den schwer zugänglichen Hängen der Berge, die der Stadt eine unverwechselbare Silhouette geben. Drogenkartelle beherrschen die illegalen Viertel. Nicht einmal die Polizei traut sich in die Favelas, in denen die Regeln des Staates ausgehebelt sind.
Stattdessen organisieren die Drogenbosse das Leben in den Favelas, bestimmen Hierarchie und Ordnung. Drogenverkäufe auf offener Straße gehören ebenso zum Alltag wie mit Maschinengewehren bewaffnete Dealer. Kokain und Marihuana werden tonnenweise umgeschlagen. Die Favelas sind das Zentrum eines blühenden Drogenverkehrs, der vor allem in die wohlhabenden Stadtviertel Rios fließt.
Das Drogengeschäft bringt auch den Bewohnern der Favelas Vorteile, denn die Kartelle finanzieren den Ausbau der Wasserversorgung, die Müllabfuhr und das Transportwesen innerhalb der Favelas. Stromleitungen werden illegal angezapft und die Elektrizität an die Menschen in den Favelas weitergeleitet. Die Energiekonzerne sind machtlos, denn die Mafia erteilt ihnen keinen Zugang in ihr Territorium.
Bewaffnete Milizen bewachen die Ein- und Ausgänge der Favelas. Die Kartelle regieren mit eiserner Faust. Diebstähle, Überfälle und Gewalt werden bestraft – je nach Ermessen der Bosse reicht das Strafmaß dabei von bloßen Prügeln bis zu Verstümmelungen und Mord. Aus Angst entsteht so ein respektables Zusammenleben.
Nichtsdestotrotz geraten die Menschen immer wieder in gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Kartellen. Auch Schusswechsel mit der Polizei fordern Opfer in den Favelas. Im Jahr 2007 sterben 19 Menschen im Complexo do Alemão bei einem Polizeieinsatz, der als Massaker in die Geschichte Rios eingeht.
Ein Jahr später ändert sich das politische Interesse. Vor dem Hintergrund der Fußballweltmeisterschaft 2014 und den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro herrscht ein neues Sicherheitsdenken. Die Weltöffentlichkeit schaut auf Rio und die Zustände in den Favelas werden zum internationalen Imageproblem für die Stadt.
2008 formiert sich der erste sogenannte ‚Befriedungstrupp‘ der Polizei am Fuß der Favela Santa Marta. Mit Panzern und schwerem Gerät wird die Favela gestürmt – live übertragen von Hubschrauberkameras. Trotz einiger entkommener Mafiabosse ist die Erstürmung der Favela erfolgreich. Rund um die Uhr patrouillieren nun 120 Polizisten durch Santa Marta und sorgen für den Schutz der Bewohner.
Nach der erfolgreichen Befreiung Santa Martas weitet die Polizei ihre Einsätze auf andere Favelas aus. Im Jahr 2010 dringt sie in den Complexo do Alemão ein und besetzt ihn dauerhaft. Ein Jahr später gelingt die Befreiung der größten Favela des Landes, Rocinha. Bis 2013, ein Jahr vor der Fußball-WM, sind alle Favelas im Zentrum Rios unter Polizeikontrolle.
In jenen Tagen sind auch wir in Rio de Janeiro und besuchen drei Favelas: Den Complexo do Alemão, den größten Zusammenschluss mehrerer Favelas des Landes; Rocinha, die größte Favela Rios und nur einen Steinwurf vom luxuriösen Ipanema entfernt und die mitten im Zentrum der Stadt gelegene Favela Santa Marta, die nicht zuletzt durch das Musikvideo zu Michael Jacksons They don’t care about us in die Schlagzeilen gelangte.
Favelas im Complexo do Alemão (70 000 Einwohner)
Der Complexo do Alemão, ein Zusammenschluss aus 25 Favelas, bildet in der Fläche den größten Slum Brasiliens im Norden Rio de Janeiros. Eine Seilbahn, nach der Vertreibung der Drogenkartelle errichtet, führt über ein Meer aus Wellblechdächern. Aus den Gondeln reicht der Blick bis an den Horizont über unverputzte, improvisierte Häuser und Hütten, die sich auf den umliegenden Hügeln eng aneinanderdrängen. Riesige Wasserkanister stehen auf den Dächern und einige Bewohner besitzen dort oben sogar kleine, eigenhändig gebaute Pools. Kinder lassen selbst gebastelte Drachen steigen. Männer stehen um einen rauchenden Grill auf dem Dach eines Hauses.
Die Seilbahn ist das einzige öffentliche Transportmittel in den Favelas. Sie verbindet alle Hügelkuppen des Complexo do Alemão, auf denen jeweils ein Polizeigebäude thront. Windschiefe, zusammengeschusterte Gebäude befinden sich an den Hängen darunter. Zwischen ihnen sind die Gänge und Treppen so schmal, dass lediglich eine Person hindurch passt.
Die Hügelkuppen, früher Schauplatz von Folter und Mord, sind heute beliebte Aussichtspunkte. Nicht nur Bewohner der Favelas lehnen hier an den Geländern, sondern auch brasilianische Touristen aus dem ganzen Land. Mit der Seilbahn gelangen sie sicher von Polizeistation zu Polizeistation, ohne sich im verschlungenen Dickicht menschlicher Behausungen zu verirren.
1800 Polizeibeamte sind im Complexo do Alemão im Einsatz. Oben auf den Hügeln patrouillieren sie zwischen den Menschen. Immer zu zweit; immer geschützt mit kugelsicheren Westen. Wir schlendern durch eine Welt ganz weit weg von Traumstränden und Körperkult. Zwischen den unverputzten Häuserwänden am Hang steht plötzlich ein ausgewachsenes Pferd; mitten in der Favela, eingequetscht zwischen den Gebäuden.
Die Ausmaße des Complexos sind kaum in Worte zu fassen. Scheinbar endlos ist das Labyrinth aus improvisierten Hütten, Gassen, Stufen und Schleichwegen. Schon nach wenigen Biegungen fühlen wir uns verloren. Ohne Blick in die Ferne sind wir orientierungslos. Unserem brasilianischen Freund Diogo beschleicht zusätzlich der Gedanke, dass zwei Gringos an seiner Seite in dieser auch für ihn fremden Welt ein leichtes Opfer darstellen. Wer wolle, so argumentiert er unsicher, könne uns jederzeit ausrauben. Die Sichtweite zu Polizisten ist ihm wichtig, denn sein Kopf ist voller schrecklicher Geschichten, die hier einst geschahen und vielleicht noch immer geschehen könnten.
Favela Rocinha (65 000 Einwohner)
Auch Rocinha, die größte eigenständige Favela Rios, weckt unser Interesse. Vor der Übernahme durch die Polizei gilt sie als eine der gefährlichsten Gegenden überhaupt. Die Bosse der Bosse waren hier zu Hause. Im Jahr 2011 vertreibt die Polizei, begleitet von Videokameras und Liveberichterstattung, die Drogendealer und etabliert die Gesetze des Staates. Viele Bewohner Rocinhas meinen, dass sich die Zustände in der Favela seitdem verschlechterten. Prügeleien und Diebstähle innerhalb der Favela seien keine Seltenheit mehr. Ein Zustand, der unter den Augen der Kartelle undenkbar gewesen wäre.
Der Polizei vertraut hier kaum jemand. Zu groß ist die Angst vor Korruption und Parteilichkeit. 700 Polizisten sind in Rocinha im Einsatz. Sie werden von fest installierten Schwenkkameras unterstützt, die noch auf 300 Metern Entfernung gestochen scharfe Bilder aufnehmen. Das ehemals gesetzlose Viertel ist in der Dauerüberwachung gläsern geworden.
Mit dem Bus fahren wir über eine Straße den steilen Hügel hinauf, an dessen Hang sich Rocinha befindet. Zu beiden Seiten säumen Wohnhäuser, Kioske, Supermärkte und Geschäfte den Weg. Wir passieren einen kleinen Lebensmittelmarkt, Kirchen und Kindergärten. Hier an der einzigen Straße in Rocinha, wirkt das Viertel, als gehöre es zur brasilianischen Mittelschicht. Nichts gibt den Anschein einer gefährlichen Armutsgegend, die Außenstehende lieber meiden sollten. Abseits der Straße beginnen die für die Favelas so typischen engen Gänge und Pfade. Vor jeder Gasse stehen eine Kiste, ein Wäschekorb oder übereinandergestapelte Schubladen. Es ist das Briefkastensystem der Favela. Das Haus an der Hauptstraße teilt die Adresse mit allen dahinter liegenden Häusern. In den Behältern türmen sich Briefe, bis sie von ihren Adressaten aus den Gassen Rocinhas abgeholt zu werden.
Von der Hauptstraße biegen wir in eine dieser schmalen Gassen. Auch Rocinha ist ein Labyrinth, in dem wir bald den Überblick verlieren. Zwischen den unverputzten, feuchten und dunklen Häuserwänden finden wir uns kaum zurecht. Immer wieder endet unser Weg abrupt vor einer Haustür oder in einer Sackgasse. Zu viele Wege und Treppen zweigen zwischen den Häusern ab.
Wir orientieren uns nur noch an der Richtung: Abwärts soll es gehen. Ein älterer Herr mit Brille und nacktem Oberkörper bietet uns Hilfe an. Er hat gerade eine Partie Schach mit einem Nachbarsjungen beendet und versucht sich nun an unserem lustigen Sprachmix aus Spanisch und Portugiesisch.
Der Mann verspricht uns zurück zur Straße zu führen, nicht jedoch ohne uns den Stolz des Viertels zu zeigen: Eine neu errichtete Schule für die Kinder der Nachbarschaft. Auch ein Krankenhaus gäbe es, erklärt er lächelnd. Gemeinsam durchqueren wir ein paar Gänge, biegen einige Male ab und stehen plötzlich wieder mitten auf der lebendigen Hauptstraße Rocinhas. Feucht und dunkel ist hier nichts mehr. Die Häuser erstrahlen in farbenfrohem Glanz. Geschäfte und Restaurants reihen sich aneinander, Klimaanlagen rattern vor den Fenstern. Rocinha wirkt hier beinahe bürgerlich.
Der neu geschaffene Mittelstand verändert die Wahrnehmung der Favela, nimmt ihr den Schrecken. Hinter Rocinha, auf der Rückseite des Hügels, wohnen immer mehr ausländische Studenten. Sie genießen den Blick auf die Bucht vor Ipanema und die moderaten Wohnpreise am Hang, der mittlerweile nur noch „Favela Gringa“ heißt.
Favela Santa Marta (7000 Einwohner)
In einer Samstagnacht zieht es uns in die Favela Santa Marta, die wir schon aus Michaels Jacksons Musikvideo kennen. Wir wollen feiern. Es ist bereits dunkel, als wir vor dem Hügel am Fuß der Favela stehen. Trotz aller Sicherheitsversprechen ist uns ein bisschen mulmig zumute. Wir betreten fremdes Land und auch für Diogo ist der nächtliche Besuch einer Favela etwas unheimlich.
Wir steigen eine steile Straße hinauf, die bereits nach wenigen Metern an einem kleinen Platz endet. Von hier führen schmale Gassen weiter in die Favela hinein. Auf Plastikstühlen sitzen mehrere Jugendliche. Sie tragen kurze Hosen, Muskelshirts, Basecaps. Keine Gangsterattitude, keine Ganzkörpertätowierungen, keine bösen Blicke – dafür ausgelassene Stimmung und Bier in Bechern. Lediglich die umherstehenden Polizisten verunsichern uns mit ihren strengen Mienen.
Die Tür zum Klub ist noch verschlossen. Wir warten auf den Einlass zu einer Baile Funk Party. Baile Funk, auch Funk Carioca genannt, ist die Musik der Favelas. In ihr kommen heiße Rhythmen und dreckige Texte zusammen, bei denen Alice Schwarzer das Herz stehen bliebe. Mit dem Funk der außerhalb Brasiliens bekannt ist, hat Baile Funk nichts gemein.
Doch noch ist es nicht so weit, also durchstreifen wir die Gassen von Santa Marta. Enge Treppen und Wege winden sich zwischen den Häusern. In der Dunkelheit, die nur selten vom Lichtschein einer Glühbirne durchbrochen wird, wirkt die Favela beklemmend. Endzeitcharakter sitzt in den Nischen und starrt uns grimmig an. Von den Wänden der Häuser blättert Putz, feucht und schimmelig sind die Mauern. Die Gassen winden sich mal nach links, mal nach rechts. Immer wieder beendet eine unerwartet auftauchende Häuserwand unseren Weg, sodass wir regelmäßig neue Abzweigungen suchen müssen. Ab und an treffen wir auf Bewohner Santa Martas, die uns Fremden interessiert hinterherschauen.
Auf einem Vorplatz stehen wir plötzlich mitten in einer kleinen Feier. Eine Band interpretiert Songs von Michael Jackson. Wir huschen vorbei und die steilen Treppen weiter hinauf. Von einem öffentlichen Balkon blicken wir auf die umgebende Favela. In unmittelbarer Nähe halten Polizisten mit Maschinengewehren drei Jugendliche an, die sich Leibesvisitationen bis unter die Basecaps gefallen lassen müssen. Gefunden wird offenbar nichts. Die Einsatzkräfte sind hier verhasst. Die selbst ernannte Friedenstruppe gilt vielen Menschen in den Favelas nur als eine andere Form der Besatzung.
Wir erklimmen weitere Stufen, vorbei an einer Kirche, Kakerlaken, einem Schönheitssalon und einer fetten Ratte, die quietschend aus dem Dunkel an uns vorbei läuft. Wenige Schritte weiter versperrt ein Hund Zähne fletschend den Weg. Es ist Zeit umzukehren. Zurück auf dem Platz warten wir auf den Einlass zur Baile Funk Party. Gegen 2 Uhr öffnet der Klub und ist wenige Augenblicke später zum Bersten gefüllt.
Die Tanzfläche ist voller junger Menschen. Eine Altersbeschränkung gibt es offensichtlich nicht. Vor uns steht ein etwa 15-Jähriger, der wie selbstverständlich jedem vorbeikommenden Mädchen auf den Hintern klatscht. Junge Männer tanzen einstudierte Choreografien, während junge Frauen halb auf dem Boden hockend, lasziv die Hintern kreisen.
Es geht heiß her; sowohl auf der Tanzfläche als auch in den Köpfen. Zum Höhepunkt der Nacht entwickelt sich ein Wettstreit auf der Bühne zwischen mehreren Frauen und einem Transvestiten, die gemeinsam ihre Kunst des Hinternkreisens vom grölenden Publikum bewerten lassen.
Der Complexo do Alemão, Rocinha und Santa Marta gehören zu den mehr als 500 Favelas in Rio de Janeiro, die Schlagzeilen machten. Das strahlende, sonnenverwöhnte Image der Stadt trug blutige Flecken von Brutalität, Folter und Mord in den Favelas. Auch nach der Vertreibung der Drogenkartelle löst ein Besuch in Rios Favelas noch immer einen erhöhten Herzschlag aus.
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung ist groß, denn sie wissen, dass es bei der Befriedung der Favelas nie um sie ging, sondern um die Großereignisse Fußballweltmeisterschaft und Olympische Spiele. Während unserer Zeit in Rio hören wir immer wieder von der Angst vor einer Rückkehr der Drogenkartelle, sobald die Weltöffentlichkeit nicht mehr auf Rio de Janeiro blickt.
Diese Angst war nicht unbegründet. Zwar haben die Drogenkartelle von früher heute weniger Macht in den Favelas, dafür sind nun hochgerüstete Milizen in den Straßen unterwegs. In fast allen Favelas außerhalb des Zentrums sind sie präsent, erpressen Schutzgeld und sollen noch brutaler morden, als die Drogenkartelle zu Beginn der 2010er-Jahre. Sie rekrutieren sich aus ehemaligen und suspendierten Polizisten und Feuerwehrleuten, sind organisiert und haben Kontakte ins Stadtparlament bis zum Senator von Rio de Janeiro Flavio Bolsonaro, dem Sohn des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro.
Sollte es einen Hoffnungsschimmer auf ein friedliches Leben in den Favelas gegeben haben, so ist er bereits nach kurzer Zeit wieder erloschen.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.