Goa – Sehnsuchtsort. Ein Traumland voller Legenden und Mythen, das El Dorado der Moderne, das Shangri La der Hedonisten. Seit den 1960er-Jahren verzaubert und hypnotisiert der Landstrich im Südwesten Indiens zuerst die Hippies, dann die Raver und schließlich all jene, die bis heute das Paradies suchen.
Auf der Überlandroute, dem alten Hippie Trail, ist Goa die sagenumwobene Endstation. Über Istanbul, Kabul und Lahore führt die Reise hinaus aus der bürgerlichen Enge hin zu Freiheit, Nacktheit, Unbekümmertheit. Zwischen den Bergen der West Ghats und dem Arabischen Meer finden die ersten Hippies eine Welt, die ihnen auf unerwartete Weise bekannt ist.
Erst wenige Jahre zuvor, 1961, endet die etwa 450-jährige portugiesische Kolonialherrschaft über Goa und noch immer ist der mediterrane Einfluss deutlich spürbar. Weiß getünchte Wohnhäuser mit Schindeldächern zieren die Städte, das Christentum ist weit verbreitet, überall ragen Kirchen aus der tropischen Vegetation hervor, die einheimische Elite spricht Portugiesisch, Sadhus rauchen Haschisch.
Kokosnussplantagen erstrecken sich entlang der sandigen Küste. Fischerdörfer liegen darin versteckt, Reisfelder leuchten im satten Grün zwischen den Palmenwäldern, Flüsse mäandern durch das fruchtbare Land. Für die Hippies ist der Kulturschock gering und die Freiheit unbeschreiblich. Keine Zwänge, keine Tabus. Dafür traumhafte Sonnenuntergänge über dem Meer, feinstes Cannabis im Blut, Vollmondnächte, die in ihrer Schönheit den Kopf explodieren lassen und faszinierend-exotische Praktiken wie Yoga und Meditation. Die Rolling Stones waren hier, ebenso die Beatles und Madonna.
Bis heute hat sich wenig geändert. Anders als der Rest des Landes ist Goa noch immer europäisch geprägt. Die Dörfer und Städtchen sind sauberer und aufgeräumter. Vor allem die Hauptstadt Panjim schmückt sich bis heute mit kolonialen Gassen, die hier und da auch einen etwas heruntergekommenen Charme versprühen. Der Lebensstandard ist verhältnismäßig hoch, die Menschen sind gebildeter und aufgeschlossener gegenüber dem westlichen Verhaltenskanon, denn die Globetrotter lassen es seit Jahrzehnten krachen: Psytrance, Goa-Trance, nächtelange Strandpartys, LSD, später MDMA, Sex, Hemmungslosigkeit. Was einst als politischer Akt begann, wird immer mehr zum Exzess, sinnlich, triebhaft, ausschweifend, skandalös. Und dann, auf dem Höhepunkt der Ekstase, ist es vorbei. Goa bricht das Versprechen, von dem die Freigeister annahmen, es würde ewig bestehen. Heute ist der Bundesstaat im Wandel, befreit sich von der alten Haut wie die Kobra im Reisfeld.
Arambol – die Hippieenklave
Arambol, im Norden Goas, ist ein Überbleibsel alter Tage, heißt es. Eine letzte Bastion oder so etwas Ähnliches. Hier klimpern langhaarige Menschen in Leinenhemden auf Handpans herum oder verrenken ihre Glieder in akrobatischen Yogaposen. Gebräunte Körper spazieren in neonfarbenen Stringhöschen durch den Sand. Halb nackte Menschen rollen mit alten Mopeds über die staubige, parallel zum Wasser verlaufende Straße. Sie passieren Souvenirgeschäfte und Restaurants, einfache Unterkünfte, Kioske und Marktstände. Schütteres, verfilztes Haar wallt in Dreadlocks von den Köpfen, tätowierte Haut spannt über vom Wohlstand erschaffenen Fettreserven. Hier entsagt man gemeinsam dem Mainstream.
Arambol schmiegt sich an einen weichen, breiten Sandstrand. Viele russische Familien haben sich hier im alternativen Dresscode niedergelassen. Es scheint, als ob die junge Internationale Russlands gemeinsam auf Klassenfahrt geht. Es gibt russische Kindergärten und selbst die einheimischen Obstverkäufer sprechen fließend Russisch.
In kleinen Baracken werden luftige Batikkleider und Strandtücher verkauft. Flyer kleben an Laternenpfählen, an Hauswänden und Zäunen. Sie werben für Psytrance-Partys, Feuer- und Zirkusvorführungen, Yogakurse und Healing-Angebote, Ayurveda-Behandlungen, Tarot-Wahrsagungen und Massagen. Wer will, kann ganz tief eintauchen in die Spiritualität und den Hokuspokus aus Esoterik und Bauerfang.
Hölzerne Fischerboote liegen am Ufer. In einer mäßigen Brise gleiten Kitesurfer über das Meer. Fußballspieler und Volleyballer vergnügen sich im Sand. Wer es nicht sportlich mag, prostet sich auf Strandliegen mit Kingfisher zu. Am späten Nachmittag, wenn die sengende Kraft der Sonne nachlässt, versammelt sich die Hippie-Gemeinde am Strand. Jongleure, Didgeridoo-Spieler und Hula Hoop Begeisterte zelebrieren ihre Existenz. Sie tragen Stirnbänder, Fellwesten, Lederröcke. Auf ausgebreiteten Tüchern werden Ohrringe, Armreifen und gehäkelte Bikinis präsentiert, die in irgendeinem Kämmerlein während des heißen Tages angefertigt wurden.
Eine Saxofon-Band spielt, daneben preisen Hare Krishna Sänger mit gesungenen Bahjans ihren Gott. Doch die meiste Aufmerksamkeit erhält eine Trommelgruppe, die mit schnellen, tanzbaren Rhythmen in kurzer Zeit ein großes Publikum um sich ringt. Netzoberteile und Hotpants gehören zur Strandbekleidung. Am Wasser, das sich jeden Abend ein paar Meter zurückzieht, steht ein Mann mit einer Peitsche in der Hand. Immer wieder lässt er den ledernen Riemen in Richtung des Meeres schnalzen, so als würde er die ganze Welt herausfordern.
Hier sind sie alle zusammen, die asketischen Hippies der ersten Generation, die auszogen, um ihren Platz in der Welt zu beanspruchen und ihre modernen Nachfolger, die die Welt als ihr Zuhause begreifen. Und während sie in wildem Tanz durch den Sand hüpfen, sinkt hinter ihnen die Sonne feuerrot ins Arabische Meer. Goas Sonnenuntergänge sind magisch. Berühmt für ihre klare Schönheit und so normal, dass sie kaum noch beachtet werden.
Im Abendlicht sortieren einheimische Fischer ihre Netze und bereiten die Boote für die nächste Fahrt vor. Dann, in der Dämmerung, wirbeln Jongleure Flammen durch die Luft. Ganz in der Nähe stehen Hunderte Tische am Strand. Kerzen leuchten. Dahinter liegt der Fang des Tages auf Eis. Schaulustige betrachten einen kleinen Hammerhai in der Auslage, doch niemand möchte essen. Totenstimmung. Die Tischkerzen werden zu Grablichtern. Eines für jeden Fisch auf Eis.
Am nächsten Morgen sind die ersten Strandliegen mit Handtüchern reserviert. Malle in Goa. Die Spießigkeit erobert die Freiheit zurück. Der traurige Niedergang der Hippiekultur macht auch vor Arambol nicht halt. Die Protestbewegung ist bloße Erinnerung. Auch ihr letzter politischer Funke ist erloschen. Hippie ist heute ein Lifestyle. Und dennoch weht ein Hauch von Unabhängigkeit über den Strand. Salziger Wind streicht durch lockiges Haar. Wer mit den Augen eines Kindes sehen kann, ergötzt sich noch immer an Arambol und den eigenartigen Charakteren, die hier zuhause sind.
Da sind die hageren, sehnigen Aussteiger, die in einem Leben voller Liebe und Freiheit irgendwann das Essen vergessen haben. Daneben ragen die dicken Bäuche des Kapitals im wohligen Gefühl des Sich-leisten-Könnens über den Bund der Badehosen. Dennoch ist es erstaunlich, wie sehr man hier unter sich ist. Am Strand lassen sich kaum Einheimische blicken. Nur an den Wochenenden streifen ein paar betrunkene Gaffer durch den Sand, die in ihrem antrainierten Sexismus und der eigenen unausgeglichenen Geilheit fremde Körper begutachten.
In Arambol bin ich skeptisch. Ich kann nicht so recht glauben, was sich vor meinen Augen abspielt. Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit halte ich für Maskerade. Ich sehe Menschen, die zu Trommelrhythmen am Strand tanzen, weil das so hippiesk ist. Mit bunt flatternden Kleidern und wilden Haaren stellen sie ihre Abkehr von Konventionen zur Schau. Wer ist echt und wer versteckt sich vor der eigenen Spießigkeit?
Hier will niemand zur Masse gehören. Originalität ist ein Paradigma. Es ist der Beweis für die eigene Individualität, auch wenn diese lediglich eine rebellische Idee kopiert. Vom ersten Tag an vergleiche ich Goa mit dem, was es einmal war. Dabei blicke auch ich in Arambol in den Spiegel. Auf welcher Seite stehe ich? Wie viel Authentizität trage ich in mir? Ich finde keine Antwort.
Anjuna – von den Hippies zum Rave
Anjuna, weiter südlich die palmenbestandene Küste hinunter, ist weit weniger alternativ. Hier kugeln keine ausgelassenen Menschen durchs ufernahe Wasser. Stattdessen liegen sie in der Tropensonne, bemüht um einen gleichmäßig perfekten Teint. Sonnenschirme und gepolsterte Strandstühle befinden sich im Sand. Strandbars verkaufen Flaschenbier und Cocktails. In bunt angemalten Bambushütten befinden sich Cafés und Unterkünfte.
Anjuna, das war mal was. Vollmondparty. Psytrance, psychedelischer Elektrowumms aus Goa. Hippies, Aussteiger, Rucksacktouristen formen hier einen Musikstil, der sich von Anjunas Stränden in die Welt aufmacht. Wuchtig stampfende Stakkato-Rhythmen gehören dazu. Der Synthesizer mischt hypnotische Klänge mit indischen Melodien. Bis in die 1990er-Jahre ist Anjuna ein Pilgerort für die vollendet Ausgestiegenen und solche, die es werden wollen. Kein spießiger Bausparmuff, keine sonntägliche Autowäsche. Stattdessen fluoreszierende Farben, fantasievolle Kleidung, Halluzinogene, Sonnenbrand.
Doch so sehr sich die Raver und Freigeister in ihrem Rausch begeistern, so einschlägig wird der Ruf Goas. Immer mehr Menschen kommen und längst nicht alle haben Freude an der Szene in Anjuna. Die Dissonanzen häufen sich, bis die Politik mit ihrer Bürgerlichkeit einschreitet. Erst werden die Verstärker verboten, dann öffentliche Musikveranstaltungen am Strand nach 22 Uhr.
Es ist das Ende einer Ära. Mit der Musik verschwindet das Publikum, sucht sich andere Strände, andere Länder. Goa-Trance findet neue Domizile in Europa und Israel. Nur ein kleiner Rest bleibt zurück und ist noch immer da. Die Althippies, Altaussteiger – sonnengetrocknet in Goa. Sie haben die Partys verloren und sind nun selbst die Attraktion. Anjunas vitales Zentrum ist vom Strand ein paar Meter landeinwärts gewandert. Dort, wo Buden und Bretter, Planen und Planken schmale Gassen bilden, ist jeden Mittwoch Markttag; Flohmarkttag. Ein grandioser, von Kokospalmen umstandener Erfolg.
Flohmarkt in Anjuna
Weite Tücher sind zwischen Bäumen gespannt, sorgen für Schatten in den provisorischen Gängen. Schmuck, Taschen, Hängematten und Strandkleidung werden hier ebenso angeboten wie jede Menge billig produzierte Massenware. Die immer gleichen Hippiesouvenirs, wie sie auch in Hampi oder Kathmandu verkauft werden: lockere Kleider in grellen Farben, bunte Lampenschirme, Mützen mit Ohrenklappen, für die es in Goa keine Verwendung gibt, Trance-CDs und Räucherstäbchen. Der Markt ist riesig. Die Händler kommen aus alle Ecken Indiens, von Rajasthan bis Tamil Nadu. Sie bringen Klangschalen und tibetischen Masken, Marionetten, Traumfänger und gefälschte Paschmina-Schals mit. Es riecht nach Ingwer, Zimt und Kardamom.
Zwischen den belanglosen Waren blitzen immer wieder Perlen auf. Anjunas Flohmarkt hat eine erstaunliche Antiquitätensammlung. Da sind Grammophone, Taucherglocken, uralte Gabeltelefone und Fernrohre, Taschenuhren und Kompasse, Sextanten und Sanduhren. Strahlend poliertes Messing und Kupfer. Aber auch Handarbeiten, traditionelles Kunsthandwerk und Selbstgeschneidertes gehört zum Markt. Die Qualität ist so hoch wie die Preisvorstellungen der Verkäufer. Erst recht bei den Händlern, die zur Aussteigerszene gehören; zu jenen Westlern, die schon vor langer Zeit in Goa eine neue Heimat gefunden haben. Allein von Freiheit und Liebe können auch sie nicht leben. Die, die einst Hippies waren, suchen nicht nur nach Selbstverwirklichung, sondern auch nach einem wirtschaftlichen Fundament.
Junge Frauen in pastellfarbenen Bikinis flanieren durch die Gassen. Männer tragen Leinenhemden, lange Haare sind zu Zöpfen geflochten, ab und an wippt ein Cowboyhut durch die Reihen. Ein Italiener verkauft Falafel und Sandwiches. Sein Dreitagebart zieht sich vom Kinn bis zu den Schläfen, wo er in ebenso kurzes Haupthaar übergeht. Freundliche Augen ruhen über einem Mund, der in mediterraner Geselligkeit zu reden beginnt. Zwei Monate Goa, vier Monate Griechenland, sechs Monate Tel Aviv lauten die Stationen seines Jahres. Aber demnächst gehört vielleicht auch Südamerika dazu, Costa Rica oder Peru. Wer weiß schon, was die Zukunft bringt.
Das Gefühl der Unverbindlichkeit ist den Menschen hier eigen. Alles kann, nichts muss. Da ist kein Druck im Kessel, kein angespanntes Schaffenmüssen, keine Eile. Trotzdem ist der Flohmarkt ein durch und durch kommerzialisiertes Produkt – eine Massenveranstaltung, zu der Hunderte Touristen in Dutzenden Bussen herangekarrt werden. Standgebühren werden nach Metern berechnet und angeblich müssen selbst Bettler einen Obolus zahlen, wenn sie auf dem Markt ihre Hände aufhalten wollen.
Hinter dem Flohmarkt führt eine Straße parallel zum Strand. Kioske und kleine Geschäfte säumen den Weg. Gelangweilte Männer sitzen darin und warten auf Kundschaft, die nicht kommt. Stattdessen raunen sie in gleichgültigem Ton ihre Spezialangebote herüber: Marihuana, Kokain, MDMA. Die Drogenszene ist in Goa noch immer groß und Anjuna traditionell ihr wichtigster Umschlagplatz. Russische, nigerianische, israelische und natürlich indische Kartelle teilen sich den Drogenmarkt. Sie verkaufen an ihre jeweiligen Landsleute, waschen an den feinen Sandstränden ihr Schwarzgeld und sollen selbst in die lokale Politik verstrickt sein.
Packliste
Unsere Ausrüstung muss einiges aushalten. Seit über 7,5 Jahren sind wir dauerhaft unterwegs und strapazieren unser Hab und Gut im täglichen Einsatz. Einiges hat bei uns nur kurze Zeit überlebt, doch anderes bewährt sich mittlerweile seit Jahren und wir sind von der Qualität überzeugt. Unsere Empfehlungen könnt ihr hier nachlesen.Goa-Trance in Vagator
In einem Café mit Blick auf den Strand und die seicht heranrauschenden Wellen finden wir einen Flyer, der für den Abend eine Party ankündigt. In einem Klub am Strand von Vagator, nördlich von Anjuna, wollen wir feiern. Gegen 21 Uhr stehen wir vor der Tür und sind wenig überraschend die ersten Gäste. Wir sitzen, trinken, rauchen. Psytrance wummert im Hintergrund. Etwa vier Stunden später erreicht die Party ihren Höhepunkt. 30 Menschen befinden sich auf der Tanzfläche. Zwei halb nackte Russinnen gehören dazu, die von ein paar Indern unentwegt angestarrt werden.
Unter normalen Umständen wäre diese Party eine furchtbare Veranstaltung. Aber wir sind in Goa und die Legenden von ausschweifenden Feiern tanzen in unseren Köpfen mit. Es ist der furchtlose Versuch, in die Vergangenheit zu gleiten. Wir wollen uns einer Erinnerung nähern, die nie unsere war. Niemand verlässt den Klub, es wüsste auch keiner wohin. In einer Mittwochnacht im Februar ist auch in Goa das Unterhaltungsangebot stark begrenzt.
Der elektronische Klangteppich isoliert mich. Brachiale Bässe vibrieren durch meinen Körper, doch in meinem Kopf herrscht dumpfe Stille. Ist das hier wahrhaftig? Ist das Goa? Ein Zerrbild des Vergangenen? Die Realität verschwimmt, ich hole mir ein Bier. Es ist drei Uhr morgens, als im Klub in Vagator die Musik aus und die Lichter angehen. Wir spazieren zurück nach Anjuna, trinken irgendwo ein Bier am Straßenrand und warten auf den Sonnenaufgang am Strand.
Velha Goa und Portugiesisch-Indien
Nur zwanzig Kilometer weiter südlich landen im beginnenden sechzehnten Jahrhundert die Portugiesen in der Bucht von Mormugao. Vasco da Gama hatte ein paar Jahre zuvor zum ersten Mal indischen Boden betreten und nun erobert Afonso de Albuquerque für die portugiesische Krone das Land.
Unter seiner Führung wird Velha Goa, wenige Kilometer landeinwärts am Fluss Mandovi gelegen, zur Hauptstadt Portugiesisch-Indiens und in wenigen Jahren zum wichtigsten portugiesischen Handelszentrum in Asien. Von hier koordinieren die Portugiesen ihre Flotten entlang der Malabarküste, in der Straße von Malakka und um Ceylon und Macau. Über die Straße von Hormus kontrollieren sie den Seeweg nach Europa. Velha Goa entwickelt sich zu einer reichen, ansehnlichen Stadt. Kathedralen und Kirchen erheben sich ehrfurchtsvoll über schwankende Palmen.
Heute erobert der Urwald die Stadt zurück. Ihre Gebäude sind gezeichnet von Jahrhunderten im tropischen Klima. Der frühere Glanz ist verschwunden, aber noch immer lässt sich erahnen, welche Pracht hier einmal herrschte. Touristen und Pilger kommen in Scharen, um zu sehen, warum die UNESCO Velha Goas als Weltkulturerbe würdigt. Sie finden gewaltige Fassaden, charmant verwaschene Kirchengemäuer, goldglänzende Altäre und das Grab des heiligen Franz Xaver, der hier als Missionar zur Berühmtheit wurde.
Doch Velha Goa ist Geschichte. Wortwörtlich. Hier ruht die Vergangenheit, friedlich, freundlich, schläfrig. Es ist nicht mehr viel los in der einstigen Hauptstadt Portugiesisch-Indiens. Seitdem die Hippies sich in Goa niedergelassen haben, liegt die Aufmerksamkeit auf den Stränden.
Israelis im Rausch
Wie das damals in den Sechzigern wohl war? Geprägt vom Kriegstrauma ihrer Elterngeneration wünschten sich die Hippies vor allem Frieden – innen wie außen. Etwas, dass sie vermutlich mit den erschöpften israelischen Soldaten gemein haben, die nun Jahr für Jahr an den Stränden Goas feiern. Junge Menschen, die nach dem Militärdienst an der Front einen Weg zurück in eine Wirklichkeit suchen, die nicht ständig durch Bomben und Raketen zerstört zu werden droht. Indien ist ihre gruppenindividuelle Behandlungstherapie.
Goa, das Paradies, ist fester Bestandteil israelischer Rucksackreiserouten. Haare und Bärte wachsen wild, zeigen die Abnabelung von militärischer Disziplin und Ordnung. Im Drogenrausch kommen die einstigen Rekruten dem Leben wieder ein Stück näher. Zwanglos und ungebunden wollen Soldaten wieder Zivilisten werden. Dabei sind die jungen Israelis überall zu finden: an den Stränden, in den Bars, auf dem Mittwochsflohmarkt von Anjuna. Mit flatternder Mähne fahren sie auf geliehenen Mopeds über die Küstenstraßen Goas. Immer gemeinsam. Nur wenige reisen allein.
In Arambol haben sie einen Anker. Unterstützt von der israelischen Antidrogenbehörde, befindet sich hier eine Einrichtung, die den jungen Menschen Halt und Hilfestellung geben soll. Aber es geht auch um schnelles Eingreifen. Nicht jede traumatische Erinnerung aus dem Militärdienst lässt sich mit Drogen auflösen. Wer in Halluzinationen aufgeht und psychotisch reagiert, wird von hier direkt in die Heimat geschickt.
Solche Zentren jüdischen Zusammenseins gibt es überall dort, wo es israelische Rucksackreisende gibt. Es ist ein informelles Netzwerk, das in Argentinien ebenso wie in den Bergen Nordindiens oder in Thailand zu finden ist.
Palolem und das Prinzip der Gemütlichkeit
Ganz im Süden Goas rauscht das Wasser an die schönsten Strände der indischen Westküste. Leicht geschwungene Buchten schmiegen sich an wogende Palmenwälder. Wo einfache Hütten und Gasthäuser in lockerer Ordnung zwischen den Bäumen stehen, befindet sich Palolem. Eine Straße führt durch den Ort. Restaurants und Bars reichen bis an den Strand. Hier rekelt sich der Gegenentwurf zur Hippiekultur in Arambol. Kaum elektronische Musik, keine Weltentfremdung – stattdessen Rock’n’Roll und die Ikonen des 20. Jahrhunderts: Elvis, Guns’n’Roses, Iggy Pop, Iron Maiden, Kiss, Nirvana. Dazu Premier League und gelegentlich grölende Briten.
Der feine, von mächtigen Felsbrocken flankierte Sandstrand Palolems gehört zu den schönsten Orten in Goa. Vor den bunten Stelzenhütten am weichen Sand liegen die Auslegerboote der Fischer auf dem Ufer. Die warme Luft der Tropen weht den salzigen Geschmack des Meeres herüber. Weit hinter uns erheben sich sanft geschwungene Hügel aus dem grünen Palmendach.
Über lang gezogene Straßen rollen wir mit einem Moped durch die Palmenhaine. Hippies, Raver, Sonnenanbeter, Proleten, Esoteriker – das alles lassen wir hinter uns. Irgendwo in relativer Nähe zu Palolem graben wir die Füße in den Sand eines menschenleeren, kilometerlangen Strandes. Wellen branden leicht ans Ufer. Ein Hund spaziert durchs flache Wasser. Hier sind wir bei uns. Keine Ablenkung, keine Skurrilität, kein individueller Expressionismus.
Niemand ist da, um die eigene Freiheit in experimenteller Körperlichkeit auszuleben. Für einen Moment ist es ein tolles Gefühl, und dann ist uns langweilig. Ohne die verrückte Meute ist selbst Goa nur ein Küstenstreifen am Meer. Immer noch überdurchschnittlich schön und doch erst durch die Menschen interessant, die hier ihre eigenen Selbstbilder erschaffen.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.