Bunte Pünktchen tanzen am Himmel hin und her. Violett, blau, grün, orange, gelb, rot – als wäre ein Regenbogen in unzählige kleine Teile zerbrochen. Jeder Farbklecks hängt an einer unsichtbaren Schnur, die oft Hunderte Meter lang hinunter auf die Flachdächer von Ahmedabad führt.
Es ist der Morgen des 14. Januars. Die Sonne ist gerade erst über den Horizont gekrochen und doch ist Ahmedabad schon lange wach. Um uns auf den Dächern der Stadt hocken Menschen und dirigieren flatternde Fetzen im warmen Wind. Familien schauen gemeinsam zum Himmel, suchen ihre Drachen oben in der Luft.
Sie feiern Uttarayan, das Drachenfest. Zehntausende Papierdrachen steigen in den Himmel und machen die Stadt zum Schauplatz eines der größten Drachenfeste der Welt. Selbst internationale Gäste lassen hier kunstvolle Drachen aus Japan, China und Malaysia, Italien oder den USA steigen.
Traditionell kennzeichnet Uttarayan den Übergang vom Winter zum Sommer in Indien und ist bereits in den fünftausend Jahre alten Veden, den überlieferten Texten der hinduistischen Religionen, erwähnt. Es ist der Beginn der Erntesaison, der überall im Land gefeiert wird. Im Süden heißt er Pongal, im Nordosten Bihu, doch Drachen fliegen vor allem zu Uttarayan hier im Bundesstaat Gujarat.
Uttarayan und die Drachen
Schon Monate im Voraus werden Tausende Drachen für das Festival in improvisierten Geschäften und Kiosken präpariert und verkauft. Es heißt, dass etwa 60.000 Menschen in Gujarat von der Drachenherstellung leben. Allein die Hälfte von ihnen stammt aus Ahmedabad. Geschickte Hände fertigen die Drachen aus wiederverwerteten Resten und Werkstoffen – Plastik, Holz, Metall und Nylon gehören dazu. Doch zum Uttarayan werden die Drachen auf traditionelle Weise aus leichtem Papier gebastelt. Mit einem einfachen Bogen, der über eine Bambusachse gespannt ist, sieht der fertige Drachen aus wie eine Raute.
In den Tagen vor dem 14. Januar sind die Märkte der Stadt mit Drachenverkäufern überfüllt. Auf dem Patang Basar, dem rund um die Uhr geöffneten Drachenmarkt, gibt es alles von buntem Papier und Bambusrahmen bis zu gigantischen Spulen, auf denen Drachenschnur, Manja genannt, in Kilometerlänge aufgewickelt ist. Wer hier kauft, kauft in großen Mengen.
Drachenlenker und Siegesgebrüll
Wir sind noch immer auf dem Dach in Ahmedabad. Dev steht neben uns. Der junge Mann in den beginnenden Dreißigern führt eine Schnur durch seine Hände. Am anderen Ende steigt ein roter Drachen in die Höhe, wiegt hin und her, tanzt schon bald mit den anderen Drachen am Himmel.
Solange er denken kann, lässt Dev Drachen steigen. Uttarayan ist für ihn das größte Fest des Jahres. Dutzende Drachen lagern bereits seit Wochen in seiner Wohnung. Auf dem Dach ist er in seinem Element. Der junge Mann wird wieder zum Kind und mit ihm alle anderen auf den benachbarten Dächern. Große und kleine Knirpse rufen aufgeregt durcheinander. Es gibt nur sie und die Drachen. Augenblicke des Glücks, aber auch des Ehrgeizes. Höher, schneller, weiter. Nachbarn wetteifern untereinander und immer wieder dringt ein elektrisierendes, lang gezogenes „CUUUUUUUUUUUTTTTTTT“ über die Dächer.
Uttarayan ist kein friedliches Miteinander. Viele Drachen sind Jäger, die mit flinken Manövern Konkurrenten vom Himmel drängen. Ihre Waffen sind in Klebstoff und Glasstaub gewälzte Schnüre. Einmal getrocknet sind sie messerscharf. Mit präzisen Bewegungen versuchen die Drachenlenker die Schnüre anderer Drachen zu kappen, um diese abstürzen zu lassen. Jeder gefallene Drachen wird vom Sieger mit jubelndem „CUT“-Gebrüll gefeiert.
Schon jetzt, am noch immer frühen Morgen, dringen die Rufe aus allen Richtungen herüber, während weit über den Dächern ein paar Drachen in wackeligem Zickzack zurück zur Erde taumeln.
Armut, Arbeitskraft, Ahmedabad
Es ist Zeit für das Frühstück. Chai und Chapati. In Devs dreistöckigem Haus, das er allein bewohnt, sorgen ein Koch und zwei Küchenhilfen für sein leibliches Wohl. Jeden Morgen bereiten sie innerhalb weniger Stunden drei Mahlzeiten zu, mit denen Dev durch den Tag kommt. Selbst kochen musste er noch nie.
Was auf uns dekadent wirkt, ist in Indien der wohlwollend akzeptierte Lauf der Dinge. Arbeitskraft wird kaum entlohnt und wer bereits ein kleines bisschen Wohlstand erreicht, stellt Haushaltshilfen ein, die putzen, kochen und die Kinder betreuen. Im überbevölkerten Land entstehen so dringend benötigte Arbeitsplätze. Knapp die Hälfte der 1,3 Milliarden Inder leben an der Armutsgrenze. Die meisten von ihnen darunter. Für sie ist jede Arbeit – und sei sie noch so schlecht bezahlt – besser als nichts. Auf der anderen Seite vergewissert sich der allmählich wachsende Mittelstand mit der Beschäftigung von Personal nicht Teil der prekären Arbeiterschaft zu sein. Auch für Dev gehört es zum Selbstwertgefühl, dass jemand für ihn arbeitet.
Ahmedabad ist das wirtschaftliche Zentrum Gujarats. Vollgestopfte Straßen führen an Fabriken und Wolkenkratzern vorbei. Jahrhundertealte Moscheen und Tempel geben der Stadt ein historisches Fundament, das mit einem indo-islamischen Architekturstil bereits im sechszehnten Jahrhundert für Furore sorgt. Damals gilt Ahmedabad als schönste Stadt im ausgedehnten Mogulreich. Heute balanciert sie zwischen Mittelalter und Moderne. Ahmedabad ist berühmt für Textilproduktion, hohe Luftverschmutzung und ethnisch-religiös motivierte Gewalt, die zuletzt 2002 über eintausend Tote forderte.
Wir sind unterwegs in der Stadt. Motorräder kommen uns entgegen, an denen Metallbügel über den Lenkstangen angebracht sind. Sie rahmen die Fahrer bis über die Köpfe und sollen vor den vielen Drachenschnüren schützen, die unsichtbar überall in der Stadt gespannt sind.
Uttarayan an der Uferpromenade
An der Uferpromenade des Sabarmati Flusses versammeln sich die Bewohner Ahmedabads. Einem Volksfest gleich amüsieren sich hier mehr als eine halbe Million Menschen. Drachen steigen über dem Fluss auf. An mobilen Essensständen werden süße Jalebis und Chikkis verkauft. Die kulinarische Spezialität zum Drachenfestival ist jedoch Undhiyu – Jamswurzeln, Bohnen und anderes in der Erde gegartes Gemüse, das mit einem in Öl gebackenen Fladenbrot gegessen wird.
Wir laben uns an den Köstlichkeiten, doch dann ist es erneut Zeit für die Drachen. Ein ganzes Rudel befindet sich in einer vollgepackten Reisetasche, mit der wir auf der Promenade stehen. Um uns herum wuselt es bereits eifrig. Dutzende Drachen steigen nacheinander in die Höhe und vereinen sich weit oben mit der bunten Herde über der Stadt.
Auch wir wollen endlich unsere Drachen in ihr Element entlassen. Doch das ist gar nicht so einfach. Meinen letzten Drachen habe ich vor weit mehr als zwanzig Jahren in die Luft gehoben. Dass mir das tatsächlich einmal gelungen ist, scheint angesichts meiner kläglichen Bemühungen unglaubwürdig. Zwischen all den Profis in Ahmedabad, bin ich ein talentloser Anfänger. Doch nach einigem Ziehen und Zerren erhebt sich auch mein Drachen, steigt empor, bis er sich mit seinen Artgenossen im Wind tummelt.
Packliste
Unsere Ausrüstung muss einiges aushalten. Seit über 7,5 Jahren sind wir dauerhaft unterwegs und strapazieren unser Hab und Gut im täglichen Einsatz. Einiges hat bei uns nur kurze Zeit überlebt, doch anderes bewährt sich mittlerweile seit Jahren und wir sind von der Qualität überzeugt. Unsere Empfehlungen könnt ihr hier nachlesen.Jäger und Gejagte
Doch dann dröhnt ein lang gezogenes, martialisches Gebrüll herüber: „CUUUUUUUUUUTTTT“. Nur ein paar Meter entfernt steht ein Junge, vielleicht zehn oder elf Jahre alt, auf einem Mauervorsprung. Sein strahlendes Gesicht kann die Aufregung der Jagd nicht verbergen. Vor Freude hüpfend zeigt er in den Himmel und meine angsterfüllten Augen folgen in die gleiche Richtung. Der Drachen, den ich so mühsam in die Höhe brachte, taumelt wie ein Betrunkener zwischen den anderen Fliegern umher. Die Schnur in meinen Händen hängt schlaff zu Boden. Scheiße!
Neuer Versuch. Diesmal starten wir drei Drachen gleichzeitig. In der Gruppe sind wir stärker. Tatsächlich halten wir uns wesentlich länger in der Luft und jagen selbst dem einen oder anderen Drachen nach. „CUUUUUUUUUUUUUUTTTTTTTTTTT“, diesmal bin ich es, der vor Freude schreit. Es ist Zahltag. Die Rache ist Mein. Und so segelt die erlegte Beute langsam über den Fluss dahin, bis sie irgendwo die Erde berührt. Es ist ein Schicksal, das früher oder später jeden Drachen ereilt. Immer häufiger dringen die „CUUUUTTTT“-Rufe herüber.
Wir haben vier Drachen verloren. Zeit für eine Pause. Am Ufer des Sabarmati lassen wir die Beine baumeln, beobachten das träge dahinfließende Wasser und die Drachen, die darüber in der Luft spielen. Um uns herum wetteifern erwachsene Männer wie unbedarften Jungen. Manche entwickeln einen fast schon verbissenen Ehrgeiz. Hochkonzentriert steuern sie ihre Drachen, die in Kinderhänden nichts zu suchen haben. Der Nachwuchs schaut gelangweilt zu.
Tukals und Himmelslaternen
Bis weit hinein in die Dämmerung gleiten die Drachen am Himmel hin und her. Selbst in der beginnenden Dunkelheit sind noch immer ein paar von ihnen in schwindelerregender Höhe unterwegs. Gegen 19 Uhr ist unser letzter Drache gekappt.
Das Uttarayan-Festival endet am Abend des 15. Januars. Tukals, mit Lichtern bestückte Drachen, hängen über Ahmedabad. In der Dunkelheit sieht es aus, als ob Sterne in den Himmel steigen. Feuerwerkskörper explodieren pompös in ihrer Nähe.
Jedes Jahr ziehen auch immer wieder chinesische Himmelslaternen in die Höhe. Die Lampions, die durch Auftrieb in die Luft steigen, sind wesentlich billiger als die traditionellen Tukals. Zugleich ist ihr Gebrauch gefährlich, weil sie nicht wie die Drachen gesteuert werden können. Einmal in der Luft sind sie den Winden willkürlich ausgesetzt. Immer wieder geraten die Himmelslaternen in Lagerhallen und Fabriken, wo sie verheerende Brände verursachen. Offiziell sind der Einsatz und der Verkauf chinesischer Himmelslaternen in Ahmedabad verboten, doch die Ladenbesitzer arrangieren sich mit der örtlichen Polizei. Geld schmiert in Indien jedes Rad.
Das Drachenfest in Ahmedabad ist ein faszinierendes Erlebnis, eines, das unvergessen bleibt. Die Bilanz erscheint am folgenden Tag abgedruckt in der Zeitung. Das Uttarayan 2016 fordert allein in Ahmedabad drei Tote, die während des Drachenfliegens von Dächern oder Terrassen stürzen. Rund einhundert Personen werden mit Kopf- und Halsverletzungen in Krankenhäuser eingeliefert, weil sie in die Manjas, die messerscharfen Lenkschnüre der jagenden Drachen gerieten. Ein Motorradfahrer verletzt sich so schwer, dass er mit insgesamt zweihundert Stichen genäht werden muss. Andere kommen glimpflicher davon, brechen sich bei Stürzen dennoch Schultern und Rippen.
An den zwei Januartagen des Festivals verwunden die Drachenschnüre außerdem mindestens 1.728 Vögel. Vor allem Pelikane, Kraniche, Bengalgeier und Graugänse gehören zu den verletzten Tieren. Etwas weniger gefährlich ist der von einer chinesischen Himmelslaterne entfachte Grasbrand auf dem Flughafen von Ahmedabad. Die Schadensmeldungen lassen Dev schmunzeln. Uttarayan hat eine lange Tradition, erklärt er. In Gujarat und vor allem in Ahmedabad gibt es kein größeres Fest. Kollateralschäden gehören unweigerlich dazu.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.