Medellín, Kolumbien, Titel
Ewiger Frühling im Schatten Pablo Escobars

Medellín


3. April 2021
Kolumbien
2 Kommentare

Me·ta·mor·pho·se, die; Metamorphose, Metamorphosen; (geh.) die Wandlung von etwas (in eine andere Gestalt oder in einen anderen Zustand)

Jeden Abend zwischen zehn und elf Uhr erwacht der Pate von Medellín wieder zum Leben. Das kolumbianische Privatfernsehen wiederholt pünktlich zum 20. Todestag der Hauptfigur die populäre Serie Pablo Escobar – Patron des Bösen.

In über 110 Folgen wird erzählt, wie aus dem Sohn eines kolumbianischen Viehzüchters einer der mächtigsten Drogenbosse der Welt wurde. In den 1970er-Jahren baute Escobar in seiner Heimatstadt Medellín ein Drogenimperium auf. Ende er 80er-Jahre war er laut dem Forbes-Magazin der siebtreichste Mann der Welt und kontrollierte 80 Prozent des internationalen Kokainmarktes.

Man sagt über Pablo Escobar, dass er den Drogenhandel perfektioniert und industrialisiert habe. Auch heißt es, dass Escobar Geld nicht mehr zählen, sondern wiegen ließ. So viel war es. Am Eingang seiner riesigen Hacienda Nápoles nahe seines Heimatortes steht, einem Denkmal gleich, das Sportflugzeug, mit dem er die erste Ladung Kokain in die USA schmuggelte. Am Ende einer fragwürdigen Karriere reichten Sportflugzeuge nicht mehr. In einer umgebauten Boeing 727 exportierte Escobar zehn Tonnen Kokain auf einmal.

Anfang der 1990er-Jahre erreichte der Drogenkrieg in Medellín den Höhepunkt. Verschiedene Kartelle kämpften gegeneinander, und gegen den Staat. Im Schnitt ermordeten sie täglich 20 Menschen. Medellín galt als eine der gefährlichsten Städte der Welt und Pablo Escobar als ihr gewalttätiger Pate. Rund 500 Polizisten und 30 Richter ließ er töten. Doch im Dezember 1993 beendete eine Kugel die Ära Escobar, die prägend für ganz Kolumbien und darüber hinaus war. An Escobars Beerdigung nahmen über 20.000 Menschen teil.

Platz im Zentrum von Medellín, Kolumbien
Palast der Kultur in Medellín, Kolumbien
Palast der Kultur in Medellín

Medellín zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Heute, Jahrzehnte später, sind in Kolumbiens zweitgrößter Stadt die Spuren von Pablo Escobar noch immer sichtbar. Und sie sind zum Geschäft geworden. Besucher lassen sich zu den wichtigsten Stationen in Escobars Leben führen und lernen dabei sogar dessen älteren Bruder Roberto kennen. Sie kaufen T-Shirts mit dem Konterfei des Drogenbarons, die von seinem Sohn Juan Pablo verkauft werden, der unter falschem Namen in Buenos Aires lebt. Für das Armenviertel Barrio Pablo Escobar ist der Patron Namensgeber.

Doch die Bewohner Medellíns sind verärgert, wenn man über den wohl berühmtesten Sohn der Stadt sprechen möchte. Jeder, so hören wir, trägt eine persönliche Geschichte mit sich, die von Escobar handelt. Doch niemand möchte sie erzählen – zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an die wohl dunkelste Zeit Medellíns. Pablo Escobar war allgegenwärtig. Fast die gesamte heutige Mitte-40er-Generation hat Kinderfotos aus dem Zoo im Familienalbum. Bilder entstanden auf dem Landsitz Escobars, wohin der Kopf des Medellín-Kartells die verschiedensten Tierarten einfliegen ließ. Hier lebt bis heute die größte Nilpferdpopulation außerhalb Afrikas; ebenfalls ein Erbe Escobars.

Inzwischen hat sich Medellín gewandelt, erhielt vom Wall Street Journal den Titel Innovativste Stadt der Welt; noch vor der Konkurrenz aus New York und Tel Aviv. Das Stigma Escobar soll verblassen und so steckt die Stadt 25 bis 30 Prozent der Haushaltsausgaben in Kultur, Erziehung und Soziales. Es sind untypische Zahlen, denn Kolumbien investiert seit Jahren lieber in die Armee und Polizei. Die Verwaltung Medellíns ließ stattdessen zahlreiche Bibliotheken, Spielplätze und Parks in sogenannten Problemvierteln errichten. Sechs Universitäten befinden sich hier.

Die Metro, eine überirdische Schnellbahn, gehört zu den modernsten Nahverkehrszügen Lateinamerikas. An der Haltestelle Acevedo bietet sie einen Übergang zur Gondelbahn, die über die unverputzten Ziegelhäuser des Armenviertels Santo Domingo gleitet. Sie soll vor allem den Bewohnern des am Hang gelegenen Viertels den mühseligen Aufstieg erleichtern. Die Paisas, die Bewohner der Region, sind stolz auf ihre Hauptstadt Medellín; stolz auf eine der fortschrittlichsten Städte Kolumbiens.

Blick über Medellín, Kolumbien
T-Rex in der Metro, Medellín
T-Rex in der Metro
Gondelbahn über Santo Domingo, Medellín
Gondelbahn über Santo Domingo
Mann macht Seifenblasen, Medellín, Kolumbien

Der ewige Frühling in Medellín

Pablo Escobar hat als berühmtester Sohn der Stadt ausgedient. Ein anderer muss her. Wie wäre es mit Fernando Botero, den Freund und Verfechter der üppigen Masse? Mitten in Medellín befindet sich die Plazoleta de las Esculturas, auf der 23 Bronzestatuen des kolumbianischen Künstlers ausgestellt sind. Hierher kommt, wer richtig dicke Dinger sehen möchte. Da reitet ein dicker Mann auf einem dicken Pferd neben einem dicken römischen Soldaten. Da ist eine dicke Katze, ein dicker Kopf, eine dicke Frau, ein dicker Mann. Alles voluminös.

Zwischen den posierenden Touristen preisen mobile Verkäufer an, wofür Menschen üblicherweise nur im Urlaub Geld ausgeben: Strohhüte. An anderer Stelle packen Marktfrauen unreife, in Scheiben geschnittene Mangos in kleine Tütchen und würzen sie mit Salz, Pfeffer und Zitronensaft. Frisch gepresster Ananassaft wird ebenso über den Platz geschoben wie Popcorn.

Medellín erregt unsere Aufmerksamkeit. Nicht nur das Snackangebot ist uns sympathisch, auch kulturell ist einiges los. Es laufen acht Festivals gleichzeitig, lesen wir an einer der vielen Info-Tafeln in den blitzblanken Metrostationen. Musik, Poesie, Kleinkunst, Literatur, Unterhaltung für Kinder und Familien, Fotografie. Die meisten Veranstaltungen sind kostenfrei und finden unter freiem Himmel statt.

Plaza de las esculturas, Medellín
Plaza de las esculturas, Medellín
Plaza de las esculturas, Medellín
Plaza de las esculturas, Medellín
Plaza de las esculturas, Medellín

Draußen. Das ist überhaupt die Parole der Stadt. Das Leben findet auf den unzähligen schönen Plätzen und in den Parks statt. Dabei handelt es sich nicht um dieses gezwungene Draußensein, weil es drinnen heiß und stickig ist. Hier in Medellín sind die Menschen draußen, weil es draußen einfach perfekt ist. „Wir leben in der Stadt des ewigen Frühlings“, sagen die Bewohner. Ihr Frühling ist ausgesprochen angenehm. Das ganze Jahr herrschen Temperaturen von etwa 27 °C.

Die Sonne scheint. Das Leben ist schön. Regen gibt es kaum. Und wenn, dann ist er nicht von Dauer. Regnet es mal eine Stunde am Stück, gucken die Paisas bereits verdutzt in den Himmel. Im Botanischen Garten liegen Studenten lesend im Gras, Pärchen turteln auf den Schrägen des Parque De Los Deseos, Musiker zupfen an ihren Instrumenten. Nachts werden hier Filme auf eine Wand projiziert.

In Medellín findet jeder seinen Platz. Der Parque Periodista ist genau wie in Bogotá der inoffizielle Kiffer-Treffpunkt. Anders als in der Hauptstadt Kolumbiens ist er keine grüne Wiese mit vielen Jugendlichen, sondern eine Ansammlung von Beton- und Steinbänken mit verdächtigen Gestalten. Dagegen versammeln sich im Parque de Bolivar in der Altstadt morgens die Rentner und nachmittags die Transvestiten.

Im Parque de los Pies Descalzos, dem Barfuß-Park, sorgen Fußreflexzonenwege und kalte Fußbäder für Entspannung. Die ist auch notwendig, denn Medellín lässt sich am besten zu Fuß erleben. Nebenan wird gerade eine Bühne aufgebaut. Hier wird eines von drei Konzerten gespielt, die heute Abend stattfinden.

Medellín fordert und fördert alle Sinne. Überall in der Stadt gibt es etwas zu entdecken und so auch im Museo Interactivo. Einen ganzen Tag verbringen wir hier. Völlig ungeplant. Wir sind gebannt von unzähligen Experimenten, die uns zeigen, wie flott unsere Gehirne funktionieren, wie schnell wir laufen, wie laut wir schreien, wie komplex wir denken und bei welcher Windstärke wir nicht mehr stehen können.

Parque Periodista, Medellín
Parque Periodista
Parque De Los Deseos, Medellín
der Parque De Los Deseos ist einer der beliebteste Treffpunkte der Stadt
Parque De Los Deseos, Medellín
Parque De Los Deseos, Medellín
Parque de Bolivar, Medellín
Parque de Bolivar mit der Catedral Metropolitana

Bandeja Paisa und die obere Ebene

Medellín hat nicht nur die großartige Idee der Ein-Sitz-Sitzbank ins Stadtbild gebracht (es muss ja nicht immer gesellig sein), sondern erfreut uns auch mit Einwohnern, die offener, freundlicher und extrovertierter sind als im übrigen Land. Fragen wir nach dem Weg, wird uns nicht nur eine kurze Erklärung entgegen gemurmelt. Nein; ausnahmslos alle Menschen ändern für uns ihre ursprüngliche Zielrichtung und begleiten uns plaudernd bis zu unserem Ziel.

Diese Freundlichkeit liegt sicher auch am guten Essen. Mit vollem Magen ist die Stimmung ja immer besser. Das ist eine Wahrheit – a posteriori. Und voll müssen die Mägen der Menschen hier sein. Ein typisches Paisa-Frühstück sieht in unseren Augen aus wie ein deftiges Mittagessen für zwei Personen. Nur die dazu gereichte heiße Tasse Kakao erinnert an den frühen Morgen. Das berühmteste Gericht ist die hochgelobte und heiß beworbene Bandeja Paisa. Ein Teller randvoll gefüllt mit Rinderhack, Wurst, gebratenem Schweinebauch, roten Bohnen, Reis, gebratener Banane, Arepa, Spiegelei und Avocado. Die Bandeja Paisa ist mehr als eine Mahlzeit, fast schon ein Heiligtum. Sie zu verschmähen gleicht einer Provokation und dazu gibt es keinen Grund. Bandeja Paisa ist so lecker wie reichhaltig.

In Medellín sind wir zu Gast bei Luz. Mit ihr betreten wir einen hohen Turm, in dem zwei Aufzüge vom Wachpersonal beaufsichtigt werden. Die Mechanik führt uns in eine andere Welt. Kolumbiens Gesellschaft ist in 6 soziale Klassen gegliedert. Abhängig vom Einkommen hat jede Klasse eigene Regeln für den Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung. Das klingt einerseits fair und teilt andererseits die Menschen im Land, denn jede soziale Klasse wohnt in ihren eigenen Zonen. Haben wir in Cali noch in der sozialen Klasse 2, einer der niedrigsten in Kolumbien gewohnt, steigen wir mit dem Aufzug nun hoch in die soziale Klasse 5. Oben angekommen führt uns eine Stahlbrücke mit Rundumblick auf Medellín in ein geschütztes Wohnviertel. In Apartmenthochhäusern leben hier die Wohlhabenden unter sich und teilen Sauna, Dampfbad, Pool und Fitnessraum miteinander.

Hochhäuser in Medellín, Kolumbien

El Peñol, der Fels am See

Spannender als das abgeschirmte Domizil ist unser Besuch in Guatape. Das kleine Städtchen außerhalb Medellíns ist bekannt für kunterbunte Betonverzierungen und Reliefs, die die Sockel der Wohnhäuser zu einem netten Hingucker machen. Es ist eine kreative Art, die Hühner davon abzuhalten, in die Wände zu picken. Hier ragt ein gigantischer Granitmonolith 200 wuchtige Meter in den Himmel. Sein Name lautet El Peñol, der Stein. Ihn zu besteigen braucht Zeit und Kondition. Die ersten 100 von insgesamt 659 Stufen sind mit im Versuch griechischer Anmut gestaltet. Danach ging es den Treppenbauern vermutlich wie allen anderen, die hoch hinauf wollen. Die Form folgt der Funktion. Schönheit wird zur Nebensache, denn der verbleibende Aufstieg beeindruckt uns mit der Ehrlichkeit eines unverputzten und provisorisch wirkenden Treppengeländers.

Im Zickzack führen die Stufen hinauf. Endlich oben schweift der Blick über ein atemberaubendes Panorama. Ein Stausee überflutet Felder und Ackerflächen. Seit den 1980er-Jahren treibt er die Turbinen des Wasserkraftwerks San Carlos an und sorgt für einen Großteil der kolumbianischen Stromgewinnung. Bis zum Horizont reicht die Landschaft aus kleinen, mal bewohnten, mal unbewohnten, mal kahlen, mal bewaldeten grünen Inseln, die das leuchtend blaue Wasser umspielt.

Zurück in Medellín holen uns die zerfetzten Reste einer Bronzestatue des Künstlers Botero aus unserem ewigen Frühlingstraum zurück in eine Realität, die der Stadt tiefe Narben zufügte. 1995 riss ein Sprengstoffanschlag auf der Plaza San Antonio nicht nur den bronzenen Vogel auseinander, sondern auch 23 Menschen in den Tod. Botero nannte die zerstörte Statue nach dem Anschlag Pájaro herido, verwundeter Vogel, und ließ direkt daneben eine unbeschädigte Kopie aufstellen. Sie trägt den Namen Pájaro de la Paz, Vogel des Friedens. Medellín ist die Metamorphose gelungen.

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El Peñol, Antioquia, Kolumbien
in einer Spalte des El Peñol führen Stufen steil nach oben
Aussicht auf den Stausee, El Peñol, Kolumbien
Aussicht auf den Stausee, El Peñol, Kolumbien
bunte Hausverzierungen in Guatape, Kolumbien
bunte Verzierungen schmücken die Häuser in Guatape
bunte Hausverzierungen in Guatape, Kolumbien


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  • Medellín44
    17. Juli 2021

    Tolle, eindrückliche Bilder und sehr spannender Beitrag. So einer Reise ist bestimmt lohnenswert, schon nur wegen den farbigen Häusern und der handgerollte Zigarre. 🙂


    • Morten & Rochssare
      23. Juli 2021

      Medellín ist wirklich eine tolle Stadt mit bezaubernden Menschen.