Als die Hauptsaison im Dezember beginnt, sind wir bereits ein halbes Jahr in Auroville. Wir kennen die staubigen Pfade, die breiten, die schmalen, die versteckten. Wir grüßen die immer gleichen Gesichter mit einem Lächeln und man grüßt uns freundlich zurück. Die dicken Schweißperlen auf der Stirn sind wir ebenso gewohnt, wie den Chai bei Dinesh, auch wenn wir manchmal lange darauf warten müssen. Doch jetzt im Dezember wird unsere Erfahrung in Auroville um einen Aspekt erweitert.
Es sind die Horden von Tagestouristen, die seit etwa einer Woche beginnen Auroville zu übernehmen. Sie kommen zu Hunderten, jeden Tag. Vor allem Inder aus der oberen Mittel- und Oberschicht sind neugierig. Angeblich gibt es einen bekannten indischen Lifestyle-Blog, der Auroville als den hipsten Ort des Jahres auf dem Subkontinent preist. So strömt Indiens neue Wohlstandsgesellschaft scharenweise ins Visitor`s Centre, einem Ort, der extra eingerichtet wurde, um den Ansturm abzufangen. Hier gibt es wenig Informationen und ein kurzes Werbevideo, das die Vorzüge Aurovilles für die Welt hervorhebt.
In Boutiquen werden Aurovilleprodukte zu exorbitant hohen Preisen angeboten und in einem Restaurant gibt es neben vegetarischer Pizza auch veganes Schokoladeneis. Wenn dann noch etwas Zeit bleibt, stöckelt manch feine Dame in der sengenden Sonne in High Heels durch den roten Sand der Pisten zum einen Kilometer entfernten Aussichtspunkt am Matrimandir. Fahrzeuge sind auf diesem Weg für Touristen nicht erlaubt. Es bleibt nur ein Spaziergang. Auroville versucht alles, um einen Tagesausflug hierher so unbequem wie möglich zu gestalten. Durchschnittlich besuchen Auroville jetzt in der Hochsaison jeden Tag etwa 2.000 Touristen – beinahe so viele, wie die Stadt der Zukunft Einwohner aufweist.
Moderne junge Menschen mit goldumrandeten Pilotenbrillen brausen an den Wochenenden auf ihren Motorrädern durch den Staub. Ausgestattet mit Spiegelreflexkameras und übergroßen Smartphones klicken sie jede Menge Selfies im Wald und auch das eine oder andere Foto vom Matrimandir.
Natürlich kommen nicht nur Tagestouristen. Viele Besucher Aurovilles bleiben über Nacht – ein paar Tage, manchmal ein paar Wochen. Wer sich in einem der vielen Projekte Aurovilles engagieren möchte, bleibt meist sogar über Monate hier. Für sie öffnen einen Vielzahl Gasthäuser, Homestays und Hotels die Türen. Dabei reicht das Angebot von einfachen Bambushütten bis zu luxuriös anmutenden Bungalows. Fast alle der heutigen Aurovillianer kamen genauso wie wir jetzt zum ersten Mal als Touristen in die Stadt der Zukunft. Geleitet von einer unbestimmten Neugier blieben sie an diesem Ort, um sich ein neues Leben aufzubauen.
Auroville und das Leben im Zoo
Aurovilles Verhältnis zu den Touristen ist jedoch ambivalent. Die Aurovillianer sind vor allem den Tages- und Kurzzeittouristen gegenüber oft voreingenommen, die Auroville lediglich als hippen, weil irgendwie extravaganten Ort besuchen, dabei aber wenig an Nachhaltigkeit und den spirituellen Zielen der Stadt der Zukunft interessiert sind. Dennoch braucht man ihr Geld – jeder Tourist, der über Nacht bleibt, zahlt Kurtaxe an Auroville. Busse karren in den Wintermonaten täglich Schaulustige vor das Visitor`s Centre und die meisten von ihnen sehen erst einmal sehr verloren aus. In ihren Erwartungen sehen sie Auroville als ein indisches Disneyland, wo lustige Figuren ihnen zuwinken, wo sie an jeder Ecke unterhalten werden, wo eine Attraktion die nächste ablöst. Doch Auroville ist nichts dergleichen.
Aurovillianer, die nicht im Tourismus arbeiten, sind bestenfalls emotionslos, häufig jedoch mies gelaunt, wenn sie auf Touristen treffen. Wer will es ihnen verdenken? Auroville ist ein Erfolgsmodell und je berühmter es wird, desto mehr verwandelt es sich in einen Zoo. Aurovillianer sind nur noch Anschauungsobjekte, die angestarrt werden und sich deshalb hinter die Hecken ihrer Gärten und die Wände ihrer Häuser zurückziehen.
Dabei sind die meisten von ihnen ausgesprochen freundlich. Gibt man sich erst einmal als freiwilliger Helfer zu erkennen, ist das Eis schnell gebrochen und Stück für Stück nähern sich beide Seiten an.
Anderenfalls ist es gar nicht leicht, einem Aurovillianer einfach so zu begegnen, wenn man sich nicht an einem der wenigen Treffpunkte aufhält. Solar Kitchen ist so ein Ort, Aurovilles Großkantine, in der nur mit Solarenergie gekocht wird. Oder Dosa Corner, der kleine Imbiss am Visitor`s Centre, der die besten Dosas, südindische Pfannkuchen mit Chutney und Sambar, in ganz Auroville zubereitet.
Doch ins Gespräch kommt man mit ihnen trotzdem nur schwer. Dafür langweilen die Aurovillianer die immer gleichen Fragen, die ihnen entgegengebracht werden, viel zu sehr. Sie wollen ihre Ruhe, notfalls auch mit grimmiger Miene. Und wer will es ihnen verübeln? Schon Dutzende Male haben sie die gleichen Gespräche mit Neuankömmlingen geführt, die oft nur für die Gegenseite interessant sind.
Außerdem herrscht ein ständiges Kommen und Gehen in Auroville. Die Fluktuation an freiwilligen Helfern und Touristen ist enorm. Es ist nie sicher, ob man eine Person, die man einmal trifft, auch ein zweites Mal in Auroville wiedersehen wird. Die freiwilligen Helfer, die zwischen zwei und zwölf Monaten bleiben, die spirituell Interessierten und die Schaulustigen, die häufig nur einige Tage in Auroville verbringen: Von den schätzungsweise 10.000 Menschen, die sich regelmäßig in Auroville aufhalten, bleiben viele nur temporär. Es sind keine Bedingungen, die zwischenmenschliche Beziehungen fördern. Das wissen auch die Aurovillianer.
Der ahnungslose Tourist
Dabei ist Auroville kein Ort für einen Tag. Aber was macht man hier, wenn man nur ein paar Stunden Zeit hat? Einmal zum Aussichtspunkt am Matrimandir, rein kommt man ja frühestens am Folgetag. Ein bisschen durch den Wald streunen, ohne zu wissen wohin. Und dann? Da bleibt nur noch Essen. Die Pizzeria Tanto ist Aurovilles erfolgreichstes Restaurant, auch wenn es gar nicht mehr in Auroville liegt, sondern auf dem Weg ins nahe gelegene Dorf Kuilapalayam.
Hier sitzen sie, die Neureichen aus Delhi, Mumbai und Bangalore; die mäßig Interessierten, aber teuer gekleideten, die selbst ihrem übergewichtigen Hund ein Stück vorzügliche Pizza in den Mund schieben, das so viel kostet, wie eine vollwertige Mahlzeit in einem indischen Straßenrestaurant. Und wenn es dem Hund nicht schmeckt, bekommt er Pasta à la carte.
Ein Teil dieser Tagestouristen gehört zur Schizophrenie Aurovilles. Viele haben weder Interesse an Nachhaltigkeit oder erneuerbaren Energien, weder an Permakultur noch an einem erweiterten Bewusstsein für die Probleme der Welt. Sie sind hier, weil Westler diesen Ort für sie interessant machen. So rassistisch das klingt: Für viele Inder ist die Anwesenheit hellhäutiger Westler ein Beleg für die Attraktivität eines Ortes. Je mehr Westler, desto verheißungsvoller die Erwartungen.
Und weil Auroville eben auch den Geist einer westlichen Welt verspricht, erlauben sich vornehmlich weibliche Besucher aus Indiens Metropolen einen Kleidungsstil, den sie anderenorts kaum ausleben können. Schulterfreie Oberteile, kurze Röcke, luftige, körperbetonte Kleider – die gesellschaftlichen, konservativen Konventionen lndiens lassen sie in Auroville für einen kurzen Moment hinter sich.
Doch viele Tagestouristen wissen kaum, wofür Auroville eigentlich steht. Die Hauptsaison ist noch jung, als uns in der Nähe des Visitor`s Centre ein fülliger Familienvater in gestreiftem Polohemd agentengleich zuflüstert, ob er hier in dieser französischen Siedlung sei und wo er Franzosen sehen könne. Perplex schauen wir ihn an. Ja, hier in Auroville leben Franzosen, aber was der Mann uns gegenüber genau will, verstehen wir nicht so recht und verweisen ihn kurzerhand an das Visitor`s Centre.
Offline-Tinder in tropischer Hitze
Doch in Auroville wird nicht nur wie in einem Zoo gestarrt. Es geht auch um handfeste Körperlichkeit. Helle Haut gilt in Indien als enorme Versuchung. Immer wieder hören wir, dass viele junge Inder, sowohl Männer als auch Frauen, vom Wunsch getrieben sind, einmal mit einem ‚weißen‘ Partner Sex zu haben.
So nutzen nicht nur manche Touristen, sondern auch einheimische Freiwillige die Gunst der Stunde. Die Chancen dafür stehen gar nicht schlecht, denn auch die westlichen Freiwilligen und jungen Aurovillianer sind alles andere als versessen auf ein keusches Leben. Auroville ist offline-Tinder in tropischer Hitze, ein hippes Bauer sucht Frau mit Erfolgsgarantie. Gerade den Jugendlichen in Auroville bieten die vielen Freiwilligen eine willkommene Gelegenheit, denn die Möglichkeiten für Liebschaften in der 2.500 Seele Gemeinschaft sind doch arg begrenzt.
Doch Auroville kämpft auch mit seinem Ruf als Ort spiritueller Einkehr. Yogakurse, Meditationsangebote oder esoterische Workshops locken viele spirituell Interessierte, die Auroville als einen Themenpark ihrer Neigungen wahrnehmen. Die Stadt der Zukunft zieht sie geradezu magnetisch an. Hier reinigen Sie Körper und Seele, lassen allen Ballast bei Klangschalentherapien von sich nehmen oder begeben sich in die Hände eines Heilpraktikers. Selbst traditionelle chinesische Akupunktur wird in Auroville für jedermann angeboten. Darüber hinaus üben sie sich immer wieder in Seminaren zur Selbstwahrnehmung.
Die vielen Gasthäuser sind in der Touristensaison von Dezember bis Februar ausgebucht. Eine immer wiederkehrende Klientel sind junge Menschen aus Europa auf der Suche nach „Wahrheit“, wie sie es nennen. Dabei konkurrieren sie gelegentlich mit ihren spirituellen Wahrnehmungen untereinander. Mit jeder Menge Gleichgesinnter reden sie über Vollmond und Energie und Sternenkonstellationen, Seelenwanderung und höhere Kräfte, reisen mitsamt ihren Klangschalen durch Indien und wirken zutiefst betrübt, wenn man nicht ebenso euphorisch über die Harmonie des Universums sprechen mag wie sie. Für manche ist die Auroville-Erfahrung nach eigenem Bekunden bereits nach wenigen Stunden wegweisend für den Rest ihres Lebens.
Mit Aurovillianern haben sie natürlich sehr wenig Kontakt. Vermutlich würde es sie enttäuschen, denn Aurovillianer sind weder Statisten für überladene Hippie-Fantasien noch Blumenketten schwenkende Gute-Laune-Bären. Es sind Menschen, die sich hier sehr pragmatisch ein Leben aufgebaut haben und ihrer Alltagsroutine folgen, vor der die anderen häufig zu flüchten scheinen.
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Auroville, die größte internationale Kommune der Welt in elf Teilen
Teil1: Die Idee einer besseren Welt
Teil 2: Auf den ersten Blick
Teil 3: Leben in der Stadt der Zukunft
Teil 4: Gesundes Essen für gesunde Körper
Teil 5: Nachhaltiger Hausbau im Wald
Teil 6: Alternative Bildung in der Schule des Lebens
Teil 7: Die Stadt der Zukunft und die Dörfer
Teil 8: Spirituelle Wahrheiten
Teil 9: Die Sache mit den Touristen
Teil 10: Die Utopie der Widersprüche
Teil 11: Was war und was kommen mag
Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.
Schon wieder spannend, kritisch und einfühlsam geschrieben!