Auroville ist voller Brüche. Manche so tief wie der Marianengraben. Der augenscheinlichste ist der Bruch zwischen den Kulturen, der tragischerweise so aussieht, wie ein Bruch zwischen den Hautfarben.
Mira Alfassa, La Mère, war es, die betonte, dass Auroville kein Auffangbecken für abenteuerlustige Menschen aus dem Westen sei, sondern auch den Tamilen offen stehen solle. Nur im gegenseitigen Kontakt sei die Menschheit zu einen. Doch auch 50 Jahre nach der Gründung Aurovilles bringt dieser Kontakt Schwierigkeiten mit sich.
Die Unterschiede zwischen indischer und westlicher Kultur sind enorm. Die einen werden als laut und distanzlos wahrgenommen, die anderen als zurückgezogen und arrogant. Über allem, das spüren wir beinahe täglich, schwebt noch immer das hässliche Erbe des Kolonialismus.
Kontraste und Verbindungen
Der Bruch zwischen den Kulturen ist vor allem im Vergleich zu den indischen Dörfern, die sich in und um Auroville befinden, sichtbar. Auroville ist grün und sauber, leise und gediegen. In den Dörfern wachsen Müllberge unaufhaltsam am Straßenrand, kreischt lautstarke Tempelmusik, verletzt dröhnendes Gehupe das Gehör. Die verschiedenen Gewohnheiten und Lebensweisen könnten nicht kontrastreicher aufeinandertreffen, als in der Interaktion zwischen Aurovillianern und den indischen Dorfbewohnern.
Dennoch sind Auroville und die Dörfer eng miteinander verwoben. Projekte aus Auroville kümmern sich um die Bildung der Kinder, Arbeit für Frauen, Gesundheit. Außerdem ist Auroville der größte Arbeitgeber für die nahen tamilischen Gemeinden.
Täglich fahren Hunderte Tamilen auf ihren schweren Atlas-Fahrrädern oder mit knatternden Motorrädern über die staubigen Pisten Aurovilles zu ihren Arbeitsplätzen. Sie kochen und putzen, gärtnern, schieben Nachtwachen, malochen auf dem Bau, arbeiten als Hausmeister oder in Landwirtschaftsbetrieben.
Sie sind der Motor Aurovilles, die treibende Kraft, die das operative Geschäft am Leben hält. Auroville zahlt ein verhältnismäßig gutes Gehalt und sichert den Arbeitern bessere Arbeitsbedingungen zu, als sie es an anderer Stelle erwarten dürfen. Natürlich profitiert Auroville aber auch von den geringen Lohnansprüchen der Einheimischen.
Andersherum bieten die Dörfer gern genutzte Möglichkeiten, die es in Auroville nicht gibt. Wer Zigaretten und Alkohol benötigt, muss in die Dörfer fahren und auch Lebensmittel und Restaurants sind hier weitaus erschwinglicher als in der Stadt der Zukunft.
Auroville und der Schweinehund Bequemlichkeit
Dennoch bleibt für uns ein fader Beigeschmack. Die Stadt, in der eine geeinte Menschheit und ein göttliches Bewusstsein wachsen sollen, ruht sich auf einer Armada billiger Arbeitskräfte aus, die die Einwohnerzahl Aurovilles bei Weitem übersteigt. Diesen Vorwurf empfinden einige Aurovillianer als unverschämt – vor allem diejenigen, deren feiner Rasen gerade von einem Tamilen aus einem der Dörfer – vielleicht aus Edianchavadi oder Alankupam – getrimmt wird.
Tatsächlich benötigt Auroville viele Arbeiter, viel mehr als es Aurovillianer gibt. Darüber hinaus wächst die Zahl der Hausmädchen, Köchinnen, Gärtner und anderer Dienstleister, die vor allem die Arbeiten übernehmen, die Aurovillianer nicht machen wollen.
Auroville ist in Teilen kultivierte Bequemlichkeit. So wirbt eine Community damit, seinen Bewohnern viel Freizeit zu gestatten, weil die Notwendigkeiten des Alltags – Wäsche waschen, Essen kochen, Müll entsorgen etc. – gemeinschaftlich von tamilischen Angestellten erledigt werden. Jeder der Bewohner, so heißt es, soll genug Zeit haben die eigenen künstlerischen Fähigkeiten ausüben zu können, unabhängig von sozialer Position und materiellen Bedingungen.
Wer hier lebt, kann sich voll auf seine Kreativität und das innere Wachstum konzentrieren, oder sich mit anderen schönen Dingen ablenken. Was so wundervoll klingt, bedarf jedoch einer Vielzahl an Arbeitern, die vielleicht auch gerne die Möglichkeiten der Bewohner hätten.
In Auroville wird das System der vielen Angestellten immer wieder mit dem Argument gebilligt, dass Arbeitsplätze geschaffen und erhalten würden, von denen die Dorfbevölkerung profitiere. Tatsächlich ist die Arbeit in Auroville für viele Tamilen attraktiv. Gerade Frauen, die in der indischen Kultur entweder von ihrer Familie oder ihrem Ehemann abhängen, bietet Auroville einen gewissen Grad an Freiheit und Selbstständigkeit. So kann etwa das Gehalt einer Putzfrau aus Auroville, als zusätzliche Einnahme, für einen besseren Lebensstandard einer gesamten Familie sorgen, höhere Bildung für die Kinder ermöglichen.
Trotzdem verrichten Tamilen vor allem die einfachen Arbeiten. Es bleibt also die Frage mit welcher Motivation in Auroville die typisch indischen Verhältnisse, in denen es üblich ist körperliche Arbeit von Angestellten verrichten zu lassen, adoptiert werden. Will man helfen, oder will man es bequem?
Moderner Kolonialismus oder Aufbauhilfe?
Es gibt jedoch auch kritische Stimme aus Auroville, die monieren, dass sich die Aurovillianer darauf besinnen sollten, mehr mit den eigenen Händen anzupacken. Sie benutzen hässliche Worte wie Postkolonialismus und Ausbeutung und vielleicht haben sie recht damit. Es ist schwierig an die geeinte Menschheit zu glauben, wenn die einen in großen Villen mit wunderschönen, grünen Gärten wohnen und ihre Angestellten in kleinen Hütten an staubigen Straßen.
Dass es das in Auroville überhaupt gibt: Angestellte für das eigene Zuhause, Bedienstete, die Rasen mähen, Wäsche waschen, Essen kochen, putzen. Klar, beinahe die Hälfte der Aurovillianer sind Inder – in ihrer Kultur sind Hausangestellte etwas sehr Gewöhnliches, beinahe schon Tradition.
Auf dem Subkontinent sind es bei Weitem nicht nur die Eliten: Auch die indische Mittelschicht kann es sich leisten, mehrere Haushaltshilfen und sogar persönliche Köche anzustellen, weil die Kosten für Arbeitskraft so gering sind. Aber warum Aurovillianer aus dem Westen, gerade vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte, diese Verhältnisse übernehmen, bleibt für mich unverständlich.
Stattdessen sollten sie vielleicht gerade in Auroville, wo es doch um die Einheit aller Menschen geht, auf die Abschaffung dieser Verhältnisse hinwirken. Seit 50 Jahren sind die angestellten Tamilen hauptsächlich Hilfskräfte – und das nicht nur in Eigenheimen, sondern in fast allen aurovillianischen Unternehmen und Organisationen.
Obwohl über 40 Prozent der Aurovillianer indischer Nationalität sind, sind Bauherren, Geschäftsführer, Gruppenleiter oder Restaurantbesitzer häufig Aurovillianer, die einst aus dem Westen hierher zogen.
Sie erstellen Pläne, geben Anweisungen, delegieren Aufgaben. Die in Auroville notwendiger Weise zu verrichtende körperliche Arbeit übernehmen vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, indische Angestellte. Daraus lässt sich zunächst kein Vorwurf an die westlichen Aurovillianer ableiten, denn die Stadt der Zukunft braucht wesentlich mehr Arbeiter, als sie Einwohner hat. Natürlich arbeiten auch die Westler schwer. Krishna auf der Solitude Farm etwa, oder Frank auf der Discipline Farm.
Zu einer geeinten Menschheit gehört allerdings mehr als der friedvolle Umgang untereinander. Es benötigt auch eine gerechte Verteilung der Ressourcen – der materiellen und ideellen. Solange die Bequemlichkeit des einen die Lebensgrundlage des anderen ist, liegt die geeinte Menschheit noch in weiter Ferne.
Kulturelle Verständnislosigkeit in Auroville
Doch die Probleme zwischen Auroville und den Dörfern liegen tiefer, sind subtiler. Auf beiden Seiten mangelt es an Verständnis für die Kultur des anderen und auch an Respekt. Einer Gemeinschaft mitten in Auroville werden binnen weniger Tage ein Badmintonnetz und ein Eisentor gestohlen, das nicht einmal 24 Stunden in den Angeln hing. Nach den Tätern wird nicht geforscht, doch die Geschädigten hegen keinen Zweifel, dass sie aus den nahen Dörfern stammen.
Auch sind die Straßen rund um Auroville nicht immer sicher. Gerade in der Hauptsaison von Dezember bis März kommt es immer wieder zu Übergriffen einzelner Einheimischer, die nicht nur aus den Dörfern, sondern auch aus der nur zehn Kilometer entfernten Stadt Pondicherry kommen. Sie belästigen Frauen, von denen sie glauben, dass sie leicht zu haben seien, weil sie knapp bekleidet sind, und schrecken auch vor Taschendiebstahl und Raub nicht zurück.
Aurovilles Ohnmacht im Umgang mit den Dörfern
Auroville selbst scheint dem Ganzen mehr oder weniger machtlos gegenüber zu stehen. Es gibt kein grundlegendes Konzept mit diesen Problemen umzugehen. Aussitzen scheint eine beliebte Devise zu sein. Polizei und Staatsgewalt hält in Auroville niemand für eine Option.
Aber wie stehen die Einheimischen zum Projekt Auroville? Die Mehrheit scheinen den Nutzen der Weltgemeinschaft für das eigene Dorfleben zu erkennen. Sie akzeptieren die angebotenen Förderungen und schätzen Auroville als fairen, weil überdurchschnittlich gut zahlenden Arbeitgeber. Viele tamilische Kinder und Jugendliche gehen in Schulen in Auroville, die Frauen in den Dörfern bekommen Kredite vom Outreach Project Auroville, die medizinische Versorgung der Umgebung hat Auroville übernommen. Anders als traditionell üblich, ziehen indische Ehemänner in die Familien ihrer Ehefrauen, wenn diese in oder um Auroville wohnen, weil es hier gut bezahlte Arbeitsplätze gibt.
Außerdem profitieren die Dorfbewohner von den steigenden Touristenzahlen Aurovilles, deren Kaufkraft auch ihren lokalen Geschäften zugutekommt. Andere kritisieren hingegen, dass die fortschreitende Entwicklung Aurovilles keinen großen Einfluss auf die umliegenden Dörfer gehabt habe. Während Auroville wächst und gedeiht, habe sich in den Dörfern kaum etwas verändert – Infrastruktur und Lebensstandards liegen weit hinter dem zurück, was in Auroville geschaffen wurde.
Andere Einheimische verstehen die westlichen Aurovillianer vor allem als eine Art freundliche Besatzer – aber dennoch als Besatzer. Sie sehen den wirtschaftlichen Aufschwung, den Auroville in knapp 50 Jahren errungen hat, wie aus unfruchtbarem Land eine grüne Oase wurde. Sie sehen auch, wie ein subventioniertes Wirtschaftsmodell und Spendeneinnahmen einen Lebensstandard schufen, der in wenigen Dekaden den Standard der einheimischen Bevölkerung weit überholte.
Neid gegenüber Auroville ist weit verbreitet. Das kollektive Gedächtnis der Tamilen erinnert sich noch immer an britische und französische Kolonialmächte. Der Vorwurf, indischen Verhältnissen einen westlichen Lebensentwurf aufzwingen zu wollen, ist noch immer lebendig und auch die Mahnung vor Rassismus schwingt stets mit.
Manche Tamilen fühlen sich allein daran gestört, dass die Westler, wenn auch legal, ihr Land besitzen. Sie dulden die Ausländer, aber nur als Gäste, nicht als Eigentümer. Unter diesen Bedingungen ist es für Auroville unmöglich ein Hausrecht durchzusetzen, weil es von der Gegenseite nicht anerkannt wird.
So treiben einfache Bauern ihre Ziegenherden und Kühe durch Auroville, lassen sie durch Wohngemeinschaften laufen, wo sie über Gärten und Felder herfallen, bis sie von Zäunen aufgehalten oder mit kurzzeitigem Erfolg verscheucht werden können. Andere Tamilen fällen den mühsam angepflanzten Wald für Bau- und Feuerholz. Ihnen, die täglich um ihre Existenz kämpfen, ist es ziemlich egal, ob sie einem Vellai Kaaran, so nennen sie hier die Westler, auf die Füße treten.
Natürlich lässt sich keine generelle Aussage treffen. Nichts, was in Auroville passiert, kann verallgemeinert werden. Die Diskrepanzen sind so groß, dass es für alles ein Gegenbeispiel gibt. Doch Tendenzen sind spürbar, Kontroversen greifbar und manchmal sagt Schweigen mehr als 1000 Worte. Unter der Oberfläche ist nicht alles in Auroville so schön wie der goldene Schein des Matrimandir.
Auroville, die größte internationale Kommune der Welt in elf Teilen
Teil1: Die Idee einer besseren Welt
Teil 2: Auf den ersten Blick
Teil 3: Leben in der Stadt der Zukunft
Teil 4: Gesundes Essen für gesunde Körper
Teil 5: Nachhaltiger Hausbau in Sacred Groves
Teil 6: Alternative Bildung in der Schule des Lebens
Teil 7: Die Stadt der Zukunft und die Dörfer
Teil 8: Spirituelle Wahrheiten
Teil 9: Die Sache mit den Touristen
Teil 10: Die Utopie der Widersprüche
Teil 11: Was war und was kommen mag
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.
Ihr habt vergessen zu erwähnen, dass auch ein tiefer Graben zwischen dem Sri Aurobindo Ashram und Auroville besteht. Jedesmal wenn ich nach Auroville komme, überkommt mich das Gefühl einer Hippiekultur. Die Frauen und Männer sind nur leichtbekleidet und da überrascht es nicht, dass es zu Übergriffen kommen muss. Ich finde, wenn man in Indien lebt, sollte man sich auch der Kultur anpassen. In Pondicherry nimmt man diese Community nicht ernst, man findet das Verhalten und Auftreten eher peinlich und lächerlich. Ich hoffe nur, dass wirklich faire Gehälter bezahlt werden. Denn wenn ich die Preise der Auroville- Läden sehe, trifft mich jedesmal fast ein Preisschock ! Ich dachte immer jeder Aurovillianer ist verpflichtet gewisse Stunden pro Tag in der Gemeinschaft zu arbeiten. Stimmt das nicht? Wenn ja würde mich interessieren für wieviele Stunden. Danke für den spannenden Bericht. LG aus Chennai