Zwei junge Rhesusaffen tollen über die Dächer von Agra. Mit schnellen Bewegungen huschen sie über das rostende Wellblech, stibitzen sich durch die Gassen, spielen in akrobatischen Posen miteinander. Wir befinden uns auf Augenhöhe in einem einfachen Restaurant über den staubigen Straßen der Altstadt.
Aus einer Ecke wirbelt ein Ventilator warme Luft herüber. Schweiß steht auf meiner Stirn. Indiens feuchtheißer Sommer grüßt uns mit der erbarmungslosen Hitze von weit über 30 °C. Erschöpft sitzen wir auf Plastikstühlen an einem wackeligen Aluminiumtisch. Über Edelstahltellern brechen wir knuspriges Papad, essen Thali, eine typisch indische Mahlzeit aus Reis und Chapati, Dal, Gemüse und Curd. Der Duft von Zimt und Chili zieht in meine Nase. Die indische Küche ist eine Wucht. Traditionell vor allem vegetarisch, zaubern die Köche des Subkontinents seit Jahrhunderten für europäische Gaumen oft ungewohnte Leckereien. Thalis vereinen dabei wie kaum ein zweites Gericht die verschiedenen gastronomischen Freuden des Landes.
Ab und an wandert der Blick von den Köstlichkeiten hinüber auf die flachen Dächer der maroden Altstadtgebäude und bleibt stets an der weißen Pracht hängen, die wie eine edle Perle aus einer hässlichen Muschel wächst: das Taj Mahal. Gekleidet in erlesenen Marmor sticht das vielleicht herrlichste aller Gebäude nur wenige Hundert Meter vor uns aus dem Dreck der sie umgebenden Altstadt hervor.
Viel wurde bereits über das Taj Mahal erzählt, diesem Denkmal unsterblicher Liebe. Ihm verdankt das moderne Agra Weltruhm, während es sich im bevölkerungsreichsten indischen Bundesstaat Uttar Pradesh im ganz alltäglichen Chaos des Landes suhlt. Aus der 230 Kilometer entfernten Hauptstadt Neu-Delhi kommend erreichen wir die Stadt an einem heißen Nachmittag.
Die Rucksäcke wiegen schwer, drücken uns in gebeugte Posen. Rikscha-Wallahs klingeln mit ihren klapprigen Rädern an uns vorbei. Von der anderen Seite schaukeln Kamelkutschen heran. Gemächlich wiegen die Tiere ihre Schritte über den Asphalt. Unter den großen Nüstern bewegt sich ein schlabberiges Kinn in ständiger Kaubewegung. Lange Wimpern zieren einen verträumten Blick. Dazu das indische Nasenpiercing, das Frauen tragen, wenn sie verheiratet sind und Kamele, wenn sie einen Besitzer haben.
Agra ist indisch, so richtig indisch. Bunt, laut und benetzt mit dem Parfum der Straße, einem Gemisch aus Abfall und Abgasen, Nelken und Kurkuma. Noch vor ein paar Jahrzehnten war Agra berüchtigt für die hier angesiedelte Chemieindustrie und die damit einhergehende Luftverschmutzung.
An einer Straßenecke schlürfen wir süßen Chai und setzen uns in diesem arglosen Moment den listigen Augen der Stadt aus. Ein Knirps, barfuß und in zerrissenen Kleidern, bettelt uns erst an und begutachtet dann unsere Rucksäcke, die genauso groß sind wie er selbst. Mit schelmischem Grinsen versucht der kleine Räuber unser Gepäck wegzutragen. Doch er ist zum Scheitern verurteilt. Zu schwer, zu unbeweglich ist unsere Ausrüstung.
Verwaschene Gebäude reihen sich entlang wenig einladender Straßen. In den Gassen mit ihren schlierigen, ockerfarbenen Fassaden steht die Luft. Obwohl eine dichte Wolkendecke am Himmel hängt, ist es unerträglich heiß. Lediglich der Irrsinn indischer Straßenordnung ist in diesen Stunden einigermaßen annehmbar. Die Rikschas, Mopeds, Fahrräder, Busse, Handkarren, Kühe und Hunde geben den Weg frei in das verworrene Band aus schmalen Gassen, die sich durch die Altstadt Agras südlich des Taj Mahals winden.
Hier werben Männer mit buschigen Schnurrbärten und gestreiften Hemden für ihre Restaurants und Cafés auf den begrünten Dachterrassen. Sie alle versprechen den besten Blick auf das Taj Mahal. Dabei ist das berühmte Gebäude von manchen Flachdächern nur zu sehen, wenn man den Hals ordentlich verrenkt.
Enge Treppen führen hinauf auf die Dächer. Oben angekommen wirkt Agras Silhouette charmant kleinstädtisch. Baumkronen ragen gelegentlich über teils unverputzte, blasse Wandflächen. Wenn Hunderte Mopedfahrer und Rikscha-Wallahs die Gassen verstopfen und sich in ihrem selbst verschuldeten Stillstand nur noch mit elendem, verstörend lauten Hupen zu helfen wissen, sind die Dachterrassen kleine Inseln der Ruhe, Verschnaufpausen im Durcheinander des Landes.
Hier oben ist das Taj Mahal allgegenwärtig. Eines der sieben neuen Weltwunder, symmetrisch perfekt. Ein Schimmer der glorreichen Vergangenheit geht von ihm aus. Behutsam legt er sich über die Stadt; so seicht, dass er im Straßengewühl, im Gedränge auf dem Sadar Bazar mit den bettelnden, in Lumpen gekleideten Kindern und unter dem penetranten Heischen der Rikscha-Wallahs leicht verloren geht. Doch er ist da. Immer.
Agra und Akbar, das Herrscheridol der Moguln
Im 17. Jahrhundert hat der Name Agras einen wundervollen, entzückenden Klang. Schah Jahan regiert das gigantische Mogulreich, das sich vom heutigen Afghanistan bis an den Golf von Bengalen erstreckt. Sein Ururgroßvater Babur, ein zentralasiatischer Fürst, besiegt 100 Jahre zuvor das Sultanat von Delhi, gründet das Mogulreich und ernennt sich selbst zum Padischah, zum Kaiser. Er thront zunächst in Delhi. Doch Babur, von nomadischer Abstammung, reist oft im neuen Reich umher und auch seine Nachfahren verlegen ihre Herrschaftssitze immer wieder zwischen den wichtigsten Städten Agra, Delhi und Lahore.
So zieht auch Schah Jahans Großvater Akbar mit seinem Hof von Delhi nach Agra und errichtet hier am Ufer des heiligen Flusses Jamuna die Befestigungsmauern des Roten Forts. Damit legt er den Grundstein für ein königliches Schauspiel, so dramatisch, dass selbst Shakespeare keine Wendung mehr hätte hinzufügen können. Es handelt von Macht und Mord, Bruderkrieg und Intrigen sowie einer unsterblichen Liebe.
Unter Akbar erblüht Agra, ist gesegnet mit Reichtum und einem König, der es versteht sein heterogenes Volk aus Muslimen, Hindus und Sikhs zu vereinen. In religiösen Fragen mehr rational als orthodox, regiert Akbar im Vielvölkerstaat mit diplomatischem Geschick und militärischer Stärke. Er unterwirft Gujarat und Bihar und kämpft erbittert gegen die Rajputenkönige. Gleichzeitig heiratet Akbar als erster Mogulherrscher eine Hindu. In dem Mosaik der Kulturen schafft er Zusatzsteuern für Nichtmuslime ab, herrscht effizient, stärkt die Wirtschaft, vergrößert das Reich, bis es zur unangefochtenen Macht in Südasien heranreift.
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2018 Malik, Taschenbuch, 320 Seiten
Akbar schwingt sich in einem halben Jahrhundert vom jungen Prinzen zum bedeutendsten aller Mogulkaiser auf. Agra verleiht er besonderen Glanz. Unter seiner Herrschaft ist die Stadt Verwaltungs- und Handelszentrum der Region. Aus allen Himmelsrichtungen reisen Kaufleute herbei. Sie bringen Kamelladungen voller Goldschmuck, prächtiger Stoffe, Edelsteine und Perserteppiche, die sie auf den Märkten und am kaiserlichen Hof umschlagen.
Akbar ist nicht nur Herrscher über ein mächtiges Reich, sondern auch Bewunderer der bildenden Kunst. Ausländische Künstler und Gelehrte gehen an seinem Hof ein und aus. Ihr mitgebrachtes Wissen weben sie zu einem eigenen Kunststil. Persisch ist offizielle Hofsprache.
Akbars Leidenschaft gilt der Architektur und so entwickelt sich unter seiner Führung ein herausragendes Bauwesen, das stark von persischen und indischen Einflüssen geprägt ist. Hohe Kuppeln, Minarette, Chhatris genannte kleine Gewölbepavillons und verzierte Säulen sind charakteristisch für den neuen Mogulstil. Eines der prägenden Projekte ist die von Akbar neu gegründete Hauptstadt Fatehpur Sikri, einen Tagesritt von Agra entfernt.
Fatehpur Sikri, Palast der Paläste
Auf einem Hügel nahe dem Dorf Sikri errichtet, verschmelzen hier türkische, persische, hinduistische und sogar chinesische Elemente miteinander. Weite Flächen, luftige Pavillons mit bis zu fünf Stockwerken, prall gefüllte Schatzkammern, roter Sandstein, zahllose Säulen, Bögen und Kuppeln – mit Fatehpur Sikri erreicht die Schaffenskraft muslimischer Architekten einen bis hierher ungeahnten Höhepunkt.
Reich verziert mit Ornamenten fügen sich die Gebäude hinter einer hohen Befestigungsmauer zu einer weitläufigen Palastanlage. Persische Inschriften zieren noch immer die Wände des einst kaiserlichen Schlafgemachs. Im Zentrum des Hofes wird Pachisi, der Vorläufer des „Mensch ärgere dich nicht“ gespielt. Händler breiten ihre Waren unter dem Balkon des Harems aus, damit die feinen Damen einen Blick darauf werfen können. Eine frühe Form des Homeshoppings; lange vor Amazon. Jali-Gitter, lichtdurchlässige steinerne Verzierungen dienen als Fenster und Brüstungen. Hinter ihnen beobachten Akbars Haremsdamen das Geschehen im Palast, ohne selbst gesehen zu werden.
Im Diwan-i-Khas, der privaten Audienzhalle, empfängt Akbar seine Berater und debattiert mit seinen Ministern. Dazu thront er in der Mitte der Halle auf einer verzierten Säule weit über dem Boden. Auf einer Plattform in einem künstlichen Teich spielen hinduistische Musiker zur Unterhaltung des Kaisers und seiner Gäste. Akbar ist der Herrscher und untermauert seine Macht mit steinerner Pracht.
Gleich neben dem Palast und verbunden durch das Königstor befindet sich die ausladende Jama Masjid, die kaiserliche Moschee. Sie wurde zu Ehren des Sufis Salim Chishti, der Akbar drei Söhne prophezeite, errichtet. Sein marmornes Grab steht noch immer im Innenhof der Moschee und so wie einst Akbar den heiligen Mann um Hilfe bat, bitten an dieser Stelle nun kinderlose Frauen um baldige, möglichst männliche Nachfahren.
Von der Straße führen noch heute steile Stufen hinauf zum eindrucksvollen, 54 Meter hohen Buland Darwaza, dem Haupttor der Moschee. Draußen warten Taxifahrer, Kinder betteln nach Geld und Eintrittskarten, die sie dann weiterverkaufen. Mit uns schlendern Dutzende indische Familien durch die Palastanlage und entlang der Bogengänge der ehemaligen Versammlungshalle.
Wo früher die adlige Elite residierte, picknickt nun das gemeine Volk im Schatten der einst kaiserlichen Gemäuer. Auf Decken, die so groß sind, dass sie den halben Hof einnehmen, werden mehrstöckige metallene Mittagsdosen ausgepackt. Darin befindet sich Selbstgekochtes: Reis, Kichererbsen und Linsen kommen zum Vorschein, dazu gibt es Chilischoten und rohe rote Zwiebeln. Ambulante Verkäufer bieten Namkeen, salzige Knabbereien aus Nüssen, Puffreis und frischen, gehackten Chilischoten an.
Lautes Stimmengewirr brandet zwischen Familien und Freunden, häufig aber auch zwischen Unbekannten auf. Rundliche Frauen in faltenreichen, bunten Saris und Männer in engen gestreiften Hemden schwitzen zusammen beim scharfen Essen. Gegen die Hitze trinken sie aus Plastikflaschen, ohne dabei ihre Lippen an die Öffnung zu setzen. So rinnt das Wasser in einem kunstvollen Bogen in die Kehlen der Durstigen.
Fatehpur Sikri ist zur Zeit der Fertigstellung stilprägend für viele nachfolgende Mogulbauten, doch Akbar, der große Mogulkaiser, bleibt nicht lange in seiner neu geschaffenen Hauptstadt. Lediglich sechs Jahre regiert er hier. Dann zieht er mit seinem Hof nach Lahore, um von dort die Angriffe der Usbeken auf sein Reich abzuwehren.
Fatehpur Sikri erlebt keine glückliche Zukunft. Die beeindruckende Palastanlage krankt an ihrer ungünstigen Lage. Auf dem Hügel mangelt es an Wasser: Eine dauerhafte Bewirtschaftung ist unmöglich. Die heute als Weltkulturerbe geschützte Palastanlage wird mit Akbars Tod aufgegeben. Der Herrschaftssitz wandert erneut, erst nach Lahore und dann wieder nach Agra.
Jahangir, Rich Kid und Mogulplayboy
Jahangir, Akbars gemeinsamer Sohn mit einer Rajputen-Prinzessin aus Amber, folgt dem großen Herrscher 1605 auf den Thron. Der junge Prinz und Kaiser ist ein Playboy seiner Zeit. Geboren in Wohlstand und einem durch Akbar geschaffenen, relativen Frieden gehört Jahangir zu den privilegierten Erben unermesslichen Reichtums – ein Junkie aus der Elite. Seine Leidenschaft sind Kunst, Alkohol und Opium. Auch den Frauen ist er nicht abgeneigt. Zwanzig von ihnen reicht er die Hand zur Ehe.
Jahangir gilt als launisch und liebevoll zugleich, als schlauer Diplomat und unnachgiebiger Herrscher. Er behält den toleranten Regierungsstil Akbars bei, vergrößert das Mogulreich immer weiter. Doch im ständigen Rausch überlässt er die Regierungsgeschäfte häufig seinen Vertrauten. Die Staatskassen leeren sich, Korruption nimmt zu, der König raucht Opium.
Die kaiserliche Schwäche weiß besonders Jahangirs letzte Frau Nur Jahan politisch zu nutzen. Sie bringt ihre eigenen Familienmitglieder in gehobene Positionen, unterzeichnet Dekrete, empfängt ausländische Gesandte, verheiratet eine Tochter aus erster Ehe mit dem jüngsten Sohn Jahangirs, Prinz Shahriyar, den sie anschließend auf den Thron setzen will.
Nur Jahan ist eine machtvolle Frau. Mit Intrigen und falschen Spielen windet sie ihren Weg nach oben. Doch bis an die Spitze gelangt sie nicht. Prinz Khurram, dritter Sohn Jahangirs, der sich bereits den Titel Schah Jahan verliehen hat, steht in direkter Konkurrenz zu ihr. Der junge Prinz bewährt sich früh als kluger, fähiger Heerführer, weshalb er sich selbst als äußerst geeignet für den Thron hält.
Unterstützt wird Schah Jahan im Wettstreit mit seiner Stiefmutter von seinem Stiefonkel Asaf Khan. Dieser hat als Wesir am Hof eine angesehene Stelle im Regierungswesen inne, die er allein seiner Schwester und nun Widersacherin Nur Jahan verdankt. Doch im Kampf um die Macht zählen Familienbande nicht. Schah Jahan und Asaf Khan bieten nun gemeinsam Nur Jahan die Stirn.
Als der Kaiser und berauschte Playboy Jahangir 1627 stirbt, kommt es zum militärischen Kräftemessen. Die Truppen der Allianz aus Schah Jahan und Asaf Khan treffen auf die Armee Prinz Shahriyars. Die Schlacht endet mit dem Sieg Schah Jahans. Der Weg ist geebnet und nun beginnt das Morden im Palast. Prinz Shahriyar und alle weiteren Brüder Schah Jahans werden hingerichtet. Schah Jahan ist somit der einzige legitime Thronfolger. Lediglich Nur Jahan ist als Witwe des verstorbenen Kaisers eine Nummer zu groß. Doch mit der Machtergreifung stellt Schah Jahan seine Stiefmutter in Lahore unter Hausarrest. Nur Jahan verliert ihren Einfluss am Hof, bleibt aber königlich versorgt.
Liebe und Intrige in Agra in zwei Teilen
Teil 1: Die Mogulkaiser und der Palast Fatehpur Sikri
Teil 2: Das Taj Mahal und die Liebes des Schah Jahan
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.