Nieselregen, der unangenehme. Nasskalt kitzelt er auf der Kopfhaut, im Nacken, im Gesicht. Zusammen mit Freunden stehe ich an der Hafenkante und schaue hinaus auf die Ostsee. Schuppiger Oktobermorgen. Nieselregen am Meer kommt mit ganz eigener Kälte, die über Hände streicht und durch Kleidung kriecht, als wäre sie ein nasser Geist.
Kapuze würde helfen, aber damit sehen wir aus wie Touristen. Hier am Heimathafen auf Rügen ist das natürlich keine Option. Wir sind an der Küste zu Hause. Niemand soll uns versehentlich verwechseln. Gemeinsam standen wir schon oft an der See. Uns verbindet eine Freundschaft, die schon so lange dauert, dass wir nicht mehr genau wissen, wann sie eigentlich begann. Macht nichts. Heute gehen wir angeln. Ruten und Kühltruhen und Proviantkörbe: Alles haben wir dabei. Dass uns dieser Berg an Utensilien in ein verdächtig touristisches Licht rückt, kommt uns nicht in den Sinn.
Wir trotzen dem morgendlichen Schietwetter mit norddeutscher Attitüde. Darum stehen wir frierend am Hafen, setzen eine gleichgültige Mine auf und tun so, als wäre das normal. Tatsächlich sollten wir fluchen wie alte Seebären, denn wir wissen nicht wohin.
Todeszonen in der Ostsee
Eigentlich sind wir verabredet mit einem Angelguide, der uns hinaus auf die Ostsee fahren und dort die Fischgründe vor Rügens Küste zeigen soll. Wobei: Fischgründe und Ostsee, das ist so eine Sache, denn die See hat ein massives Problem. Von den landwirtschaftlichen Ackerflächen ihrer Anrainer gelangen seit Jahren Nährstoffe in großen Mengen ins Meer. Wäre die Ostsee ein Mensch, hätte sie Adipositas. Aber die Ostsee ist kein Mensch. Sie ist ein Meer und weil immer weiter Düngemittel und Abwässer eingeleitet werden, die organische Prozesse in Gang setzen und dabei Sauerstoff verbraucht wird, ist das Meer nicht fettleibig, sondern in Teilen tot.
Sauerstoffmangel ist besonders in den Tiefenschichten der Ostsee ein Problem. Der geringe Wasseraustausch von der Nordsee über Kattegat und Skagerrak reicht nicht aus, um das Binnenmeer mit einem dauerhaft hohen Sauerstoffgehalt zu versorgen. Die Überdüngung und der Klimawandel haben mittlerweile zu einer alarmierenden Lage geführt. Die Gebiete der Ostsee mit extremem Sauerstoffmangel, in der kein höheres Leben mehr möglich ist, umfassen bereits etwa 60.000 Quadratkilometer.[1] Das ist mehr als die gesamte Landfläche der deutschen Ostseeanrainer Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein zusammen.
Am Hafen trifft endlich unser Angelguide ein. Er wirkt nicht viel lebendiger als die Ostsee. Zu viel Nährstoffeinfuhr am Abend zuvor. Kleine Augen. Verkaterte Erscheinung. Immerhin lässiges Auftreten. „Moin Männer. Seid ihr bereit?“
Wir verladen Angeln, Wattwürmer, belegte Brote. Das Boot ist eine charmant chaotische Wühlkiste, die aus Angelträumen in die Wirklichkeit transportiert wurde. Dutzende Angelruten liegen auf dem Dach des Steuerhauses. Blinker und Gummifische sind in Kisten übereinandergestapelt. Flunderwunder heißt der Köder, den wir heute bevorzugt nutzen werden. Neben Steuerrad und Fischfinder liegen Köder, Schnüre und Hacken auf der Ablage. Ein schwerer Aschenbecher hält die Überreste längst gerauchter Kippen. Dahinter laden Polster zur Gemütlichkeit ein.
Der Motor blubbert. Luftblasen steigen von der rotierenden Schiffsschraube an die dunkle Oberfläche des Wassers. Leinen los. Raus aus dem Hafen und rein in die Weite. „Scheiße“, krächzt es unerwartet derb aus dem Steuerhaus. Kommando zurück. Kurze Befehle. „Haltet die Leinen.“ Der laufende Motor schiebt das Boot langsam zurück zum Kai. Unser Angelguide springt herauf, greift einen Kaffeepott, den er auf einem Poller vergessen hatte, grüßt und schwingt sich zurück aufs Boot. Großer Schluck vom heißen Getränk. Jetzt aber.
Der Dorsch
Draußen auf der Ostsee sind die Plattfische unser Ziel. Scholle, Flunder, vielleicht sogar ein Steinbutt. Und einen Dorsch wollen wir auch fangen, denn der Dorsch ist noch immer der Königsfisch vor der heimischen Küste. Alle sind hinter ihm her. Für Anglerinnen[2] und Fischerinnen gehört er zu den wichtigsten Fischarten. Besser: gehörte.
Der Ostsee geht es nicht gut und so leidet auch der Dorsch. Seit Jahren wurden die Bestände legal überfischt. Schuld daran ist die europäische Politik, die entgegen wissenschaftlicher Empfehlung viel zu hohe Fangquoten vergab. Erst jetzt, nachdem die Bestände aus wissenschaftlicher Sicht kollabiert sind, gibt es ein Fangverbot. Berufsfischerinnen dürfen den Dorsch nicht mehr gezielt fangen. Lediglich als Beifang in der Plattfischfischerei darf der Dorsch noch entnommen werden. Für Angler gilt eine Tagesfangmenge, das sogenannte Baglimit, von einem Dorsch. In der Schonzeit von Mitte Januar bis Ende März ist das Dorschangeln komplett untersagt. Es sind die bisher strengsten Fangregularien für Dorsch in der westlichen Ostsee, die bis zur dänischen Insel Bornholm reicht.
Auch der Hering ist in diesem Gebiet mit massiven Fangquoten belegt. Die Küstenfischerei, die kleinen Betriebe und selbstständigen Fischerinnen, die jeden Tag hinausfahren, fürchten um ihre Existenz. Quotenkürzungen erleben sie seit Jahren. Mittlerweile sind die zugelassenen Fangmengen allerdings so gering, dass es sich kaum noch lohnt, aufs Meer zu fahren. Eine Dezimierung der erlaubten Fänge um bis zu 90 Prozent macht einen Arbeitstag auf dem Wasser zum Minusgeschäft.
Dabei hat die Küstenfischerei kaum etwas zur miserablen Situation der Bestände beigetragen. In Deutschland sind sie lediglich für vier Prozent der gesamten Fischfangmenge verantwortlich.
Europäische Regeln, lokale Konsequenzen
Das Fischereimanagement der Ostsee ist eine europäische Angelegenheit. Im Gebiet der westlichen Ostsee sind die Fischereiflotten der Anrainer Dänemark, Schweden und Deutschland vor den Küsten unterwegs. Ihre Quoten werden vom europäischen Ministerrat festgelegt, in dem alle EU-Staaten vertreten sind. Die Entscheidungsfindung ist ein politischer Prozess, der weit über die Interessen der Anrainer hinausgeht.
Dänische, deutsche oder schwedische Positionen stehen den Interessen der übrigen europäischen Fischereiministerinnen gegenüber. Was auf europäischer Ebene verhandelt wird, endet meist in einem Kompromiss, der niemanden zufriedenstellt. Umweltschützerinnen fordern ein komplettes Fangverbot. Küstenfischerinnen fordern eine höhere Quote, um existieren zu können.
Kollabierter Dorschbestand
Dorsch und Hering schwimmen währenddessen unbeeindruckt durch die Ostsee, zumindest dort, wo nicht gerade Sauerstoffmangel in Todeszonen herrscht. An der Oberfläche schaukeln wir im Boot und schieben Wattwürmer auf Angelhaken. Wolken und Wasser kleiden sich in dunkles Grau. Der Ostseenieselregen ist vorüber. Stattdessen atmen wir Meeresluft und essen Käsebrötchen mit Rucola. Keine Bisse am Haken. Unser Guide bläst Zigarettenrauch aus dem Steuerhaus. Ein weiterer Grauton. Wir wechseln die Position.
Der jüngste Niedergang des Dorschbestandes wird auch auf eine niedrige Produktivität und damit verbundene geringe Jahrgangsstärken parallel zum höchsten fischereilichen Druck zurückgeführt. Verschwinden wird der Dorsch in der westlichen Ostsee deshalb aber nicht. Aus fischereiwissenschaftlicher Sicht ist ein kollabierter Bestand zwar wirtschaftlich nicht mehr nutzbar, aber auch nicht mit einer Gefährdung der Art gleichzusetzen. Noch immer sind fast fünf Millionen Dorsche in der westlichen Ostsee beheimatet. Das sind mehr Tiere, als Menschen in Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein wohnen. Ein gesunder Bestand, der wieder wirtschaftlich durch die Küstenfischerei nutzbar wäre, ist allerdings etwa drei- bis achtmal so groß.
Anglerinnen erkennen Notwendigkeit der Quote
Seit Stunden sind wir auf dem Wasser und haben mehrmals unsere Position verändert. Gefangen haben wir noch immer nichts. Geduld gehört zum Angeln. In den Minuten und Stunden, die vergehen, blicke ich meist gedankenverloren über das Meer. Darin bin ich gut.
Mit dieser Haltung gehöre ich zu einer Randgruppe. Angeln ist ein Sport und immer mehr Anglerinnen strömen aus dem In- und Ausland an die hiesige Ostseeküste. Mecklenburg-Vorpommern hat das Tourismuspotenzial erkannt und verdient mit Angellizenzen für Touristinnen viel Geld. Vor allem Rügen gilt mit der verwinkelten Uferlinie und Zugang zu Bodden und Meer als eines der besten Angelreviere überhaupt. Dass gerade der Dorsch nun kaum noch gefangen werden darf, sorgt für Unmut.
Auch auf dem Boot sprechen wir über die Situation. „In den letzten Jahren wurde viel gegen den Baum gefahren“, erklärt einer. „Gefühlt ist ja alles überfischt. Solange mehr geangelt wird als nachwächst, ist es ein Problem“, sagt ein anderer. „Man kann nicht von den Fischereibetrieben erwarten, dass sie ihre Existenz aufgeben und selber zum Spaß kiloweise Fisch angeln“, sage ich. Wir alle haben recht. Doch Anglerinnen diskutieren die festgelegten Einschränkungen ebenso stark wie Berufsfischerinnen.
Die bestehende Fangquote ist notwendig, auch wenn sie viel zu spät eingeführt wurde. Die Regelung ist allerdings nicht zu Ende gedacht. Besonders Küstenfischerinnen werden geschädigt. Gleichwertige Fangalternativen gibt es für sie nicht. Dabei ist das altehrwürdige Fischereihandwerk gerade in Mecklenburg-Vorpommern ein Aushängeschild, mit dem sich die Tourismusbranche gern schmückt. Besucherinnen wollen Fischbrötchen und Räucherfisch am Wasser essen. Fischkutter und Fischerinnen gehören dabei zum Hafenbild wie Netze und Möwen. Fehlen sie, geht auch ein Stück regionale Identität verloren.
Ein weiteres Mal setzt unser Angelguide das Boot um. Bis auf einen Seeskorpion haben wir nichts an Bord gezogen. Die Strömungen in der Ostsee sind heute stark. Wir treiben schnell. Die nicht vorhandenen Fänge geben Raum für Seemannsgarn. Wir hauen uns die Taschen mit Fischgeschichten voll. Eine spannender als die andere. Auch das gehört zu einer Angeltour. Gute Zeit ist wichtiger als gefangene Fische.
Wer weiterhin rund um Rügen angeln möchte, braucht einen offenen Blick für die verschiedenen Fischarten, denn allein für den Dorsch lohnt sich der Aufwand nicht mehr. Dabei war bereits vor der aktuellen Fangquote ein rückläufiger Dorschbestand zu beobachten. „Vielleicht wäre sogar ein temporäres vollständiges Fangverbot gut gewesen“, ist ein Satz, über den wir beim nächsten Pausenbrot nachdenken. Kalte Hände umklammern dabei Tassen mit Tee, der viel zu heiß ist, um ihn zu trinken.
Angelguides weichen auf andere Fischarten aus
Auch unser Angelguide hat vor einigen Jahren noch häufig Dorschschwärme in der Ostsee gefunden. „Aber auch früher gab es schon mal schlechtere Jahre.“ Die Bewegung des Wassers trägt ebenfalls zu den Schwankungen der lokalen Bestände bei. Manchmal, so der Guide, würden die Schwärme durch Strömungen in andere Region gespült. Er selbst habe nur Einblick in ein kleines lokales Revier. Das wahre Ausmaß der Bestandsgröße des Dorsches in der westlichen Ostsee könne er nicht einschätzen.
Reine Dorschfahrten wird es vorerst jedenfalls nicht mehr geben. Kombinationen mit Plattfisch- oder Meerforellenangeln sind nun die gängigen Angebote. Das Baglimit für Dorsch nimmt unser Guide deshalb gelassen. „Die Alternative wäre ja, dass wir so weitermachen wie bisher und das wäre schlecht.“
Als Angler kennt er nicht nur die Ostsee, sondern auch den Atlantik, die Karibik, den Pazifik oder das Amazonasbecken. „Überall auf der Welt sind die Fischbestände rückläufig“, erklärt er. Probleme seien häufig ignoriert worden, so auch in der Ostsee. „Jetzt haben wir die Quittung bekommen“, stellt er fest und mahnt, dass ein vernünftiges Fischereimanagement etabliert werden müsse, in dem nicht nur Quoten gekürzt, sondern auch Lösungen gefunden werden.
„Ich verzichte gern in der Hoffnung, dass es irgendwann wieder besser wird“, sagt unser Angelguide. Gleichzeitig stellt er die vielen heimischen Fischarten heraus, die an den Meeresküsten und in den Boddengewässern leben. Gerade für Letztere gibt es kaum Quotenregelungen. Die Angeltouristinnen werden weiterhin kommen, ist sich der Guide sicher. Sie müssen nur anders informiert werden. „Wir müssen mit der Situation umgehen. Aber wir haben ja die Möglichkeit, andere Fischarten zu angeln.“
Zurück auf Los
Mit der Situation umgehen müssen wir ebenfalls. Es beißt einfach nichts. Acht Stunden sind wir nun an Bord. Die Kälte des trüben Tages hat unsere Kleider durchdrungen. Der Thermoskannentee ist trinkbar, hilft aber nur für den Augenblick. Die Luft ist raus.
Als wir zurück ins Hafenbecken tuckern, ist der Himmel noch immer Grau, das Wasser noch immer dunkel. Alles unverändert, so als wäre nichts geschehen. Wir kommen zurück aus einer Welt, die von Fischen, salziger Luft und Weite geprägt ist. Ostsee, das Meer vor unserer Haustür. Sie ist uns die Liebste.
Das klingt recht einfach, aber die Sache ist kompliziert. Für uns bedeutet die Ostsee Heimat. Für die Fischerinnen, aber auch für Angelguides ist sie Teil der Existenzgrundlage. Für Europapolitikerinnen ist sie ein Verhandlungsgegenstand. Für Meeresbiologinnen ein Beobachtungsfeld. Alle verfolgen eigene Interessen und blicken gespannt auf das Meer und was in ihm geschieht.
Der Ostsee dagegen sind wir, die lokalen Fischerinnen und auch die EU komplett egal. Sie schert sich nicht um uns. Ohne Erwartung und ohne Forderung verspricht das Meer noch immer Freiheit. Niemand muss hier etwas tun. Dieses Gefühl von Weite ist ein Geschenk. Allein dafür wünsche ich der Ostsee und allen Meeren und Ozeanen, dass wir lernen, sorgsam mit ihnen umzugehen.
[1] MMCD NEW MEDIA (Hg.): Der Ostsee geht die Luft aus, auf: scinexx.de (1.4.2014).
[2] Autor nutzt generisches Femininum.
Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.