Habt ihr eine Ahnung, wo Suriname liegt? Ist das nicht irgendein Land in Asien oder eine Hauptstadt in Afrika? Nein, nein. Suriname ist ein kleines Land an der Karibikküste Südamerikas, über das auch wir nicht viel mehr wissen als eben genau das.
Von Guyana kommend überqueren wir den Grenzfluss Corantijn und quetschen uns in einen viel zu engen Kleinbus ohne Klimaanlage. Stundenlang rollen wir über die einzige gut ausgebaute Straße im Land. Von Westen immer Richtung Osten, immer entlang der Küste, bis wir die Hauptstadt Paramaribo erreichen.
Der Weg dorthin ist gesäumt von Palmen. Es ist heiß und feucht; alles wie gehabt. Nur das gesprochene Niederländisch passt nicht so recht ins Bild. Suriname ist die letzte Bastion eines einstmals großen niederländischen Kolonialgebiets auf dem südamerikanischen Kontinent, das bis weit ins Landesinnere reichte. Doch nach Streitigkeiten mit Großbritannien und Frankreich blieben der niederländischen Krone nur noch ein paar karibische Inseln und das Territorium des heutigen Surinames übrig.
Europäisches Flair in der Karibik
Wir erreichen Paramaribo und sind sofort von der Stadt begeistert. Unsere übereilige Flucht aus Guyana war offenbar die richtige Entscheidung. Die sauberen und gepflegten Gassen der Stadt überwältigen uns emotional, denn noch immer steckt der Schrecken aus Georgetown – der Müll und der Gestank – in unseren Gedanken. Doch mit jedem Schritt wird er von schöneren Eindrücken überlagert. Charmante niederländische Kolonialbauten ragen in die Höhe. Weiß und Schwarz sind die bestimmenden Farben.
Schon nach wenigen Stunden in Paramaribo fühlen wir uns wie in einem sicheren Hafen nach einem heftigen Sturm. Alles wirkt entspannt, unaufgeregt. Ein bisschen Europa mit karibischem Flair. Plötzlich passen auch wieder unsere Rundstecker in die Steckdosen. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit benötigen wir keinen Adapter. Es ist kaum zu beschreiben, welche Gefühle das in uns auslöst. Wir sind plötzlich und unerwartet ein Stück näher an zu Hause. Doch das ist nicht alles. Selbst Toilettenpapier kann hier ohne anschließende Katastrophe einfach weggespült werden. Es sind diese Kleinigkeiten, die den großen Unterschied ausmachen.
Zurück auf die Straße. Das tropische Klima macht auch der schönsten Architektur zu schaffen. Von vielen hölzernen Gebäuden blättert die Farbe. Hier und da macht sich der Verfall bemerkbar. Je weiter wir uns vom Zentrum entfernen, desto offensichtlicher wird es.
Dazu kommt ein beständiger Regen. Wir befinden uns in einer von zwei Regenzeiten, die regelmäßig über das Land rauschen. Nicht selten fliehen wir vor den karibischen Schauern in eines der kleinen Cafés in der Innenstadt. So werden dicke holländische Pommes, Poffertjes und Pannekoeken mit Sahne zu unserem Weihnachtsmenü. Wir hätten es durchaus schlechter erwischen können.
Paramaribo, Oase der Gemütlichkeit
Die vielen niederländischen Touristen in der Stadt erkennen wir an ihrer blassen Haut. Es ist schon merkwürdig, nach Monaten der Abstinenz plötzlich wieder so viele Europäer um uns zu wissen. Sie schlendern rund um den Onafhankelijkheidsplein (spontane Liebe für dieses Wort) – den Unabhängigkeitsplatz – und schießen Fotos vom karibischen Weihnachtsbaum in dessen Mitte.
In der Nähe befinden sich die Regierungsgebäude und der Präsidentenplatz. Die Villen sind hübsch anzusehen und trotz ihres offiziellen Charakters wirken sich nicht sonderlich abgeschirmt. Es scheint, als stünde die Tür für alle offen.
Hinter dem Präsidentenpalast erstreckt sich der Palmentuin. In diesem öffentlichen Palmengarten wachsen etwa 1.000 Bäume in den Himmel. Wege, Bänke und Brunnen laden zum Spazieren ein. Wer die Augen schließt, mag hier alles vergessen, was unangenehm erscheint. Ein paar Ruhesuchende schlendern durch die Anlage.
Für uns ist die ganze Stadt wie eine Oase der Entspannung. Immer wieder laufen wir durch die kolonialen Gassen des Zentrums und erfreuen uns an der Gemütlichkeit des Ortes. Etwa die Hälfte der Bevölkerung Surinames lebt in Paramaribo. Dennoch besitzt die Stadt nur etwas mehr als 240.000 Einwohner. Um die Weihnachtszeit geht es ausgesprochen gemächlich zu.
Gemeinsam zur kulturellen Diversität
Überhaupt ist Suriname ein gemütliches Fleckchen. Statistisch gesehen teilen sich hier gerade einmal 3 Einwohner einen Quadratkilometer. Die nach Paramaribo nächstgrößere Stadt Lelydorp kommt nicht einmal auf 16.000 Bewohner. Suriname ist geprägt von dichtem Dschungel, der rund 80 Prozent des Landes bedeckt. Lediglich entlang der sumpfigen Küstenebene gibt es größere Siedlungen. Hier leben 9 von 10 Einwohner des Landes.
Individuelles Reisen ins Landesinnere ist daher praktisch unmöglich. Zwar organisieren Touranbieter Ausflüge in den Regenwald und zu einigen Öko-Lodges entlang der vielen Flüsse im ausgedehnten Dschungel, doch ihre Angebote sprengen allesamt unser Budget. So bleibt uns Paramaribo, wo wir die Weihnachtstage in angenehmer Atmosphäre verbringen. Hatte ich in Georgetown ständig das unbehagliche Gefühl der Unsicherheit, so erlebe ich Paramaribo viel freier und unbefangener.
Das liegt vor allem an den Einwohnern Surinames, die als sehr freundlich, offen und tolerant gelten. Ihre heterogene ethnische Zusammensetzung hilft offenbar dabei. Weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat afrikanische oder indische Vorfahren. Dazu gesellen sich Bevölkerungsanteile mit Ursprüngen aus Indonesien, China, Palästina, Libanon, Europa, sowie indigene Volksgruppen und verschiedensten Verquickungen untereinander. Die Amtssprache ist Niederländisch, aber die Kreolsprache Sranan-Tongo wird im ganzen Land als Erst- oder Zweitsprache angewandt. Englisch und die Muttersprachen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sind weit verbreitet.
Bei so viel kultureller Diversität ist es gar nicht leicht, sich von anderen abzugrenzen. So muss es zwangsläufig in Paramaribo sein, wo wir das erste Mal eine Synagoge direkt neben einer Moschee sehen. So viel friedliches Zusammenleben beeindruckt mich. Da passt auch die Gandhi-Statue mitten in der Stadt ins Bild.
Auf unserem Stadtspaziergang, der uns am Fort Zeelandia und der Uferpromenade des Flusses Suriname vorbei führt, gelangen wir zum Zentralmarkt. In dem riesigen zweistöckigen Gebäude gibt es alles, was man zum Leben braucht. Im Erdgeschoss türmen sich Obst und Gemüse, Kräuter, Wurzeln, Gewürze und Kunsthandwerk übereinander. Im Obergeschoss werden allerlei Plastikartikel, asiatische Importe und Kleidung in allen möglichen Farben, Formen und Größen angeboten. In den engen Gängen des Marktes fühlen wir uns wieder wie in Südamerika.
Paramaribo und das Glücksspielparadies
Nach unserer Erkundungstour durch Paramaribo treffen wir unseren Gastgeber. August ist etwa 75 Jahre alt, kahlköpfig und drahtig. Mit seinen tief liegenden Augen sieht er aus wie die Verschmelzung eines buddhistischen Mönchs mit Gollum. Unsere ersten Gespräche in seiner riesigen, dunklen, spärlich eingerichteten Wohnung verlaufen stockend. Wir wissen nicht recht, woran wir an ihm sind.
Am Abend lockert sich die Stimmung etwas, denn August fährt ins Casino und nimmt uns mit.
Glücksspiel ist in Paramaribo legal und so schießen große und kleine Spielhallen wie Pilze aus dem Boden. August kennt sie alle. Solange die Gäste spielen, erklärt August, bieten die meisten Casinos freies Essen und Getränke an. Sogar alkoholische Getränke sind umsonst. Irritierenderweise kennt August nicht nur alle Casinos, sondern ist auch bestens mit den wöchentlichen Speiseplänen vertraut. So entscheiden wir uns nicht für eine Einrichtung, sondern für ein Abendessen. Nach kurzer Beratung entschließen wir uns für ein chinesisches Buffet und landen im Casino Princes.
In langen Reihen stehen hier die Spielautomaten eng zusammen. Ergrautes Haar, überall wohin wir blicken. Silberrücken und Kahlköpfe. Ein Rentner-Spiele-Paradies. Wie in Hypnose starren die Alten auf die Maschinen. Daneben sind Roulette- und Pokertische aufgebaut. Auch Blackjack fehlt nicht.
Wir laden etwas Geld auf eine Chipkarte und suchen nach einem freien Automaten. Es ist eine Pokermaschine, die uns wenigstens das Gefühl gibt, selbst ein bisschen zu unserem Glück beizutragen.
August hingegen tigert fluchend durch die Reihen der Automaten. Er ist auf der Suche nach seinem Glücksautomaten für den heutigen Abend. August ist überzeugt, dass es Spielmaschinen gibt, an denen garantiert Gewinne ausgeschüttet werden. Alles hängt nur von der Aura ab oder so. Doch jedes Mal, wenn August einen passenden Automaten zu finden scheint, ist dieser bereits besetzt und August nuschelt wütende Schimpftiraden in sich hinein.
Am Ende des Abends haben wir unser kleines Limit verzockt. August strahlt jedoch zufrieden. Offensichtlich war seine Suche nach einem passenden Automaten doch von Erfolg gekrönt.
Am nächsten Abend gehen wir wieder ins Casino. Diesmal ins Mirage. Die Klientel ist etwas schicker als zuvor im Princes. Anzugträger und Frauen in den Mittvierzigern lungern an den Automaten und Spieltischen. Wir entscheiden uns wieder für einen Pokerautomaten und August geht erneut auf die Suche. Doch es dauert nicht lange, da kommt er auch schon wieder wütend zu uns zurück.
Unterschwellig drängt er uns zum Gehen. Also unterbrechen wir unsere kleine Glückssträhne und lassen uns das Vierfache unseres Einsatzes auszahlen. Nur August eilt direkt zum Ausgang. Wie gewonnen, so zerronnen.
Auch an unserem dritten Abend will August wieder ins Casino. Schon etwas gelangweilt von der Routine machen wir uns auf den Weg. Zwei bis drei Mal in der Woche, so antwortet August auf meine Frage, gehe er ins Casino – offensichtlich eine Untertreibung. Wir fühlen uns vom spielsüchtigen kleinen Mann eingeengt, vor allem jetzt. Nach unserem gestrigen Gewinn weicht er an diesem Abend nicht von unserer Seite. Doch auch dieser Ausflug endet.
Am nächsten Morgen verlassen wir August und machen uns auf den Weg nach Französisch-Guayana. Auf den Weg in die Europäische Union.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.
Ich hatte von Suriname tatsächlich schon gehört und war vollkommen begeistert, als ich von dem religiösen, ethnischen und linguistischen Mix erfuhr. Natürlich wollte ich es auf meine Südamerika-Reise einbauen, aber dann ging irgendwann Zeit und Geld aus, wie das öfter so passiert. (Und über den Landweg nach Suriname ist ja nicht gerade ruck-zuck erledigt.)
Aber ich hatte damals schon mein Interesse an Suriname auf meinem Blog bekundet und war überwältigt von den vielen Nachrichten, die ich daraufhin bekam. Einladungen, Informationen, allerlei. Und es bestätigte sich der Mix, denn viele lebten in gemischten Ehen, feierten die Feiertage aller Religionen und sprachen natürlich mehrere Sprachen.
Seither ist das kleine Land immer irgendwie ein Traum geblieben. Aber irgendwann komme ich sicher wieder nach Südamerika!