Drei Tage bleiben wir in Gilgit, bevor wir unsere Reise auf dem Karakorum Highway fortsetzen. Seit mehreren Tagen befinden wir uns bereits im Hochgebirge zwischen steil aufragenden, schroffen Felshängen und tiefen Schluchten. Doch nun öffnen sich die Berge. Etwa 100 Kilometer hinter Gilgit erreichen wir das Hunza Tal, eines der malerischsten Täler Asiens. Hunderte Aprikosen- und Kirschbäume tragen rosafarbene und weiße Blüten. Dahinter ragen massive, schneebedeckte Sechs- und Siebentausender empor.
Das Hunza Tal liegt zentral auf dem Karakorum Highway; gilt aber lange Zeit als isoliert, abgeschnitten vom Rest des Landes. Mythen und Legenden ranken sich um die Region. Von einer besonderen Langlebigkeit der Menschen ist die Rede. Hunza gilt als Tal der Hundertjährigen. Seinen Bewohnern wird eine außergewöhnliche Gesundheit nachgesagt. Es heißt, Hunza sei eines der letzten Paradiese – ein Himmel auf Erden.
In Karimabad, Hunzas Hauptort, richten wir uns ein. Unter uns, dort wo die vielen Aprikosen- und Kirschbäume blühen, schlängelt sich die Hunza, der namengebende Fluss, durch das Tal. Weit über Karimabad führen schmale, nur wenige Fuß breite Pfade am Fels entlang. Von hier geht der Blick bis weit ins Hunza Tal und auf die umliegenden, schneebedeckten Bergspitzen.
Hunza, das Paradies auf Erden
Schroffes Gestein ragt über unsere Köpfe hinauf und senkt sich nur eine Armlänge weiter in einen tiefen Abgrund, dessen Ausmaß wir nur erahnen können. Was die Natur hier schuf, ist in seiner Schönheit schwer zu beschreiben.
Karimabad und das Baltit-Fort, ein Königspalast aus dem 13. Jahrhundert, stechen aus den grün leuchtenden Feldern im Hunza Tal hervor. Dahinter, an den unteren Berghängen, ebbt das Meer der rosafarbenen und weißen Blüten langsam ab, bis nur noch die Braun- und Beigetöne des nackten Felsens zu sehen sind. Darüber glitzern schneebedeckte Bergkuppen und raue Gletscher. Auch der 7.788 Meter hohe, eisige Rakaposhi gehört zu ihnen.
Auf einem Felsvorsprung knabbern wir getrockneten Aprikosen und Maulbeeren, dann steigen wir zurück ins Dorf. Das Hunza Tal, der Himmel auf Erden, beeindruckt uns nicht nur mit atemberaubender Natur, sondern offenbart auch ganz besondere Gaumenfreuden. Vom allgegenwärtigen Reis mit Linsen im Rest des Landes bereits gelangweilt, freuen wir uns hier über die Kreativität der lokalen Küche. Vor allem Aprikosengerichte sind im Hunza Tal populär. Die getrockneten Früchte, zerstoßenen Kerne und das gepresste Öl sind Bestandteile vieler Gerichte.
Da werden Sandwiches mit gehackter Minze, Koriander, Käse und Aprikosenkernen gefüllt oder süße Aprikosensuppe in schweren Holzschalen serviert. Die Hunza-Schokolade, ein Energieriegel aus getrockneten Aprikosen und Aprikosenkernen, die mit Honig und weiteren Früchten und Nüssen zubereitet wird, hat es uns besonders angetan. Es sind ungewöhnliche Kombinationen, die wir hier probieren.
Gestärkt treffen wir Mumtaz, einen jungen Naturkundelehrer der örtlichen Schule, in Karimabad. Viel sei hier in der 7.000 Einwohner Stadt nicht los, erklärt er ohne Umschweife. Doch dem begeisterten Kricketspieler wird es dennoch nicht langweilig. Jede freie Minute verbringt er mit seinen Freunden auf dem nahen Kricketfeld; einem Schotterplatz, auf dem einst Material für den Bau am Karakorum Highway abgetragen wurde. Alle jungen Männer Karimabads haben sich hier versammelt, auch Mumtaz ist hoch motiviert und schwingt einen imaginären Schläger durch die Luft.
Vom Kricketfeld ins Casino
Kricket ist der mit Abstand beliebteste Sport in Pakistan. Überall im Land werden Bälle geworfen und mit breiten Holzschlägern in die Ferne gedroschen. Auch im Hunza Tal ist die Aufregung um den britischen Sport groß. Bis zum Sonnenuntergang fliegt der dunkelrote Korkball durch die Luft – dann lädt uns Mumtaz ein, ihn ins nahe Casino zu begleiten. Wir stutzen ungläubig: Ein Casino im Paradies?
Die Spielhalle ist das Foyer eines heruntergekommenen Hotels. Eine Gasfunzel spendet schummriges Licht in dem Rauchschwaden aus dutzenden Zigaretten wabern. Stimmengewirr dringt zu uns herüber, lachen; Würfel rollen über die Tische, Karten fliegen von links nach rechts, Spielfiguren klacken auf Spielbretter. Es wird Tee serviert.
Glücksspiel ist im muslimischen Pakistan eigentlich untersagt, doch hier geht es nicht um Black Jack und Roulette, sondern um Mühle, Dame und Mensch ärgere dich nicht. Die komplette Spielesammlung meiner frühen Kindheit liegt hier ausgebreitet auf den Tischen.
Mit Mumtaz versuche ich mich an einer Partie Dame und muss mich bereits nach wenigen Zügen geschlagen geben. Im Casino gibt es kein Pardon. Die Spiele sind pfeilschnell und jeder Fehler wird gnadenlos bestraft. Bis spät in die Nacht geht es so weiter. Klack, klack, klack in irrsinnigem Tempo – jeden Abend, jedes Jahr.
Wir verlassen Karimabad entlang des Karakorum Highways in Richtung Norden. Doch schon nach ein paar Dutzend Kilometern endet die Straße vor einem ausufernden See, dem Attabad See. Von einem gewaltigen Erdrutsch blockiert, staut sich der Hunza Fluss 2010 zu einem gigantischen Wasserreservoir. Umliegende Dörfer werden ganz oder teilweise überflutet, Felder vernichtet.
Wenn ihr unsere Abenteuer und Geschichten gerne auf Papier lesen wollt, dann schaut doch mal hier:
In unserem Buch Per Anhalter nach Indien erzählen wir von unserem packenden Roadtrip durch die Türkei, den Iran und Pakistan. Wir berichten von überwältigender Gastfreundschaft und Herzlichkeit, feiern illegale Partys im Iran, werden von Sandstürmen heimgesucht, treffen die Mafia, Studenten, Soldaten und Prediger. Per Anhalter erkunden wir den Nahen Osten bis zum indischen Subkontinent und lassen dabei keine Mitfahrgelegenheit aus. Unvoreingenommen und wissbegierig lassen wir uns durch teils kaum bereiste Gegenden in Richtung Asien treiben.
2018 Malik, Taschenbuch, 320 Seiten
Der Weg in den Norden ist zerstört, der Karakorum Highway verschwindet auf einer Länge von 25 Kilometern in den Fluten. Heute setzen Langboote über den schmalen, langgezogenen See und befördern Passagiere und Waren über elf Kilometer auf die andere Seite. Alles wird hier per Hand verladen: Schwere Zementsäcke ebenso wie Kisten voller lebender Hühner. Etwa 40 Minuten dauert die Überfahrt.
Wer mit dem Auto über den See setzen muss, dem steht ein wackeliger Balanceakt bevor. Auf zwei Planken, die im 90 Grad Winkel über den Langbooten liegen, wird das Fahrzeug ausgerichtet – gesichert nur mit ein paar Steinen, die die Räder blockieren. Schroffe Felswände steigen steil über dem eisblauen See empor bis sie als schneebedeckte Gipfel auf mehr als 6.000 Metern Höhe enden.
Hinter dem Attabad See ist der ohnehin schon geringe Verkehr merklich ruhiger. Doch wir haben Glück und gelangen mit ein paar Einheimischen bis nach Passu. Verstreut stehen die Häuser in der Wildnis der rauen Berge. Von hier wollen wir in das Seitental Shimshal, 50 Kilometer abseits des Karakorum Highways, trampen. Das Dorf lockt uns mit dem Versprechen der Abgeschiedenheit, der Aussicht auf zottelige Yaks und einer ursprünglichen Lebensweise der Bewohner.
Irrweg nach Shimshal
Auf der staubigen Piste, die zwischen gigantischen Felswänden in Haarnadelkurven entlangführt, ist außer uns niemand unterwegs. So laufen wir durch die enge Schlucht hinein in die Berge, immer entlang des Shimshal, dem gleichnamigen Fluss. Wir sind völlig unvorbereitet, rechnen nicht damit, eine weite Strecke zu Fuß zurückzulegen. Wir haben kaum Proviant dabei. Auch die Gaskartusche für unseren Campingkocher ist schon lange aufgebraucht.
Doch wir bleiben allein auf der Straße. Als die Sonne untergeht und es empfindlich kalt wird, beginnen wir, trockenes Reisig einzusammeln. Mit ein bisschen Holz, das wir am Wegrand finden, entzünden wir ein Feuer, kochen spärliche Pastareste und kriechen zitternd in unsere Schlafsäcke.
Am nächsten Morgen machen wir uns schon früh wieder auf den Weg. Hungrig schleppen wir uns vorwärts. Die Straße, noch immer staubig, steinig und unbefahren, führt uns immer weiter durch das Gebirge. Gletscherzungen lecken über die Steilhänge. Riesige Gerölllawinen und tonnenschwere Gesteinsbrocken säumen unseren Weg in der kargen Landschaft. Hoch über uns leuchten schneeweiße Berggipfel unter einem strahlend blauen Himmel.
Unsere Mägen knurren, die Höhensonne verbrennt unsere Gesichter, und bis nach Shimshal liegen noch mehr als 40 Kilometer vor uns. Als die Sonne bereits hinter der Bergkette verschwindet, ist noch immer kein einziges Auto an uns vorbeigefahren. Langsam plagen uns ernste Zweifel, wie wir die eiskalte Nacht überstehen sollen.
Brennmaterial haben wir schon länger nicht mehr gesehen. Um uns erhebt sich nichts als nackter Fels. Doch als unsere Not am größten scheint, hören wir ein fernes Motorengeräusch. Tatsächlich erreicht uns kurz vor Einbruch der Dunkelheit ein Fahrzeug auf dem Weg nach Shimshal und nimmt uns mit.
In Shimshal ist das Leben schwierig. Ein paar Dutzend niedrige Häuser stehen zwischen erdigen Feldern verstreut. Die beschwerliche Straße durch das Gebirge endet im Zentrum des Dorfes. Fußwege gibt es nicht. Wer von einem Haus zum nächsten möchte, stapft über die buckeligen Felder. Der Boden ist trocken, die Nächte eiskalt. Wer hier überleben will, muss hart arbeiten. Es gibt keine Wasserleitungen, keine Heizungen und kein dauerhaft funktionierendes Stromnetz. Nur im Sommer, wenn die Gletscherschmelze einsetzt, produziert ein kleines Wasserkraftwerk Elektrizität.
Packliste
Unsere Ausrüstung muss einiges aushalten. Seit über 7,5 Jahren sind wir dauerhaft unterwegs und strapazieren unser Hab und Gut im täglichen Einsatz. Einiges hat bei uns nur kurze Zeit überlebt, doch anderes bewährt sich mittlerweile seit Jahren und wir sind von der Qualität überzeugt. Unsere Empfehlungen könnt ihr hier nachlesen.Shimshal, das Dorf der Bergsteiger
Leben in Shimshal besteht vor allem darin die Felder zu bestellen und mühsam Wasser vom Fluss zu holen. Feuerholz muss kilometerweit herangeschafft werden. Bauern treiben riesige Schaf-, Ziegen- und Yakherden durch das Tal zu ihren Weidegründen. Jede Arbeit dient hier allein dem Überleben. Und dennoch: Die Menschen in Shimshal teilen etwas ganz Besonderes. Beinahe jeder ist ein Bergsteiger. Hier gibt es eine eigene Bergsteigerschule, und stolz erzählt man sich, dass die besten Kletterer in diesem kleinen Tal auf 3.100 Höhenmetern geboren werden.
Auf unserem Weg durch das 2.000-Seelen-Dorf werden wir von Niamat angesprochen. Der junge Mann lädt uns zu seiner Familie nach Hause ein. Gerade bäckt seine Schwägerin auf der heißen Metallplatte eines niedrigen Ofens Brot. Um die Feuerstelle herum versammelt sich die Familie. Niamat reicht uns Chai, den wir dankend annehmen – Shukria.
Sein Haus besteht aus einem einzigen Zimmer. An der hinteren Wand befindet sich ein kleiner Küchenschrank, daneben ein Schlaflager. Der Wohnbereich wird durch ein einziges Loch im Flachdach über dem Ofen erhellt. Fenster gibt es nicht. In einem Regal stapeln sich Haushaltsutensilien und ein paar Bücher. Auf dem Boden liegen zahlreiche Kissen und Decken. Hier isst, schläft und lebt die Familie. Das kleine Kofferradio in der Ecke wird mit Batterien betrieben. Über ein Solarpanel werden Taschenlampen geladen. Strom gibt es erst wieder in ein paar Wochen – dann beginnen die Gletscher zu schmelzen.
Wir sprechen über den harten Alltag in Shimshal und die Freuden, in diesem abgelegenen Winkel zu leben. Mehr durch Zufall erfahren wir, dass Niamat und sein ebenfalls anwesender jüngerer Bruder Mansoor pakistanische Geschichte geschrieben haben. 2013 sind sie die ersten Pakistaner, die erfolgreich eine Alpinski-Expedition im eigenen Land unternehmen.
Die beiden Abenteurer erklimmen in sechs Stunden den Gipfel des 6.050 Meter hohen Manglik Sar, nur um in weiteren 17 Minuten auf ihren Skiern bis hinab zum Basislager zu rasen. Innerhalb von fünf Tagen bezwingen sie drei weitere Sechstausender und hinterlassen mit ihren Skiern tiefe Spuren im Pulverschnee. Rekord!
Doch Niamat und Mansoor sind nicht die einzigen Teufelskerle im Ort. Wir treffen Hasil in einem kleinen Restaurant. Auch er ist Bergsteiger und Erstbezwinger eines der höchsten Gipfel im Shimshal Tal, der nun den Namen Sunset Peak trägt. Doch Hasil klettert nicht nur in der nahen Umgebung, sondern nimmt auch regelmäßig an Expeditionen zum K2 und Nanga Parbat teil. Er zählt von den schwierigen, oft tödlich endenden Aufstiegen dieser unberechenbaren Berge und den mit Leichen und Körperteilen übersäten Routen zur Spitze.
Dann folgen die Anekdoten: Lachend erzählt er von seinen Begegnungen mit den berühmten Bergsteigern Hans Kammerlander und Reinhold Messner, die er auf ihren Touren durch die pakistanischen Berge begleitete. Hasil erzählt vom lustigen Hans und vom grimmigen Reinhold. – Den einen mag er, den anderen nicht.
Nach zwei Tagen, in denen wir das Tal erkunden, Gletscher besteigen und noch weitere Male von Bauern und Bäuerinnen zum Tee eingeladen werden, kehren wir zurück zum Karakorum Highway. Auf unserer letzten Etappe in Richtung Norden wollen wir bis zur chinesischen Grenze vordringen. Am Khunjerab-Pass, in knapp 4.700 Metern Höhe, treffen Pakistan und China aufeinander. Es ist der höchste befestigte Grenzübergang der Welt.
Der lange Weg zum Khunjerab-Pass
Doch auf dem Weg dorthin leiden wir erneut an den Folgen des aufgestauten Attabad Sees und des kaum vorhandenen Verkehrs. Von Passu, zurück auf dem Karakorum Highway, nach Sost gelangen wir noch mit drei freundlichen Telekommunikationsingenieuren. Doch dann sitzen wir fest. 85 Kilometer vor der Grenze kommt uns kein einziges Auto mehr entgegen. Ausgestattet mit einem Schild auf das wir die Worte „China“ und „Khunjerab“ schreiben, stehen wir am Straßenrand. Doch außer einem Polizisten vor einer geschlossenen Schranke ist niemand da.
Ganze drei Tage warten wir: Vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang. Stunde um Stunde, Tag für Tag. Lediglich die aufmunternden Worte und der gelegentlich spendierte Chai des Polizisten lassen uns weiter an das Gelingen unseres Plans glauben. Nur Langstreckenbusse auf dem Weg nach China oder Sammeltaxis machen sich gelegentlich auf den Weg bis zum Pass und darüber hinweg. Privater Verkehr ist schlicht nicht vorhanden. Am dritten Tag ist es soweit: Wir sind bereit aufzugeben.
Doch als der Frust am größten scheint, laden uns Theo und Sereen, zwei abenteuerlustige Reisende aus Neuseeland und England, zu sich ins Auto ein. Auch ihr Ziel ist der Khunjerab-Pass. Theo und Sereen sind mit einem eigenen Fremdenführer und einem Fahrer unterwegs. Höher und höher steigen wir. Die Luft wird merklich dünner; es wird kalt. Schnee und Eis breitet sich zu beiden Seiten der Straße aus. Ein Murmeltier huscht in einiger Entfernung durch den Schnee, Steinböcke klettern über unmöglich erscheinende Pfade von Felsvorsprung zu Felsvorsprung.
Als wir den Khunjerab-Pass erreichen, will es der Zufall, dass bereits eine chinesische Reisegruppe dort eingetroffen ist. Witzigerweise halten sie uns für echte Pakistaner und sind ganz erpicht darauf, mit uns für Erinnerungsfotos zu posieren. Unsere Erklärungsversuche gehen in der überschwänglichen Aufregung der Chinesen unter. Stattdessen schütteln wir unzählige Hände zum Zeichen der chinesisch-pakistanischen Freundschaft und fühlen uns als vollwertige Botschafter unseres Gastgeberlandes.
Auf 4.693 Metern liegt ein dicker Schneeteppich über der zerklüfteten Landschaft. Nicht weit von uns erheben sich die mächtigen Gipfel des Karakorum und des Hindukusch, die hier aufeinandertreffen. So nah wie hier waren wir dem blauen Himmel über uns selten. Ein massives Tor repräsentiert die Grenze zwischen den beiden Ländern. Von den Chinesen errichtet, verdeutlicht es den Anspruch auf Vorherrschaft im Gebirge, denn auch der Karakorum Highway ist allein von chinesischen Bauunternehmern und Arbeitern geplant und errichtet.
Vom Khunjerab-Pass kehren wir wieder zurück, überqueren den Attabad See, trampen erneut durch die Berge bis nach Chilas. Es ist bereits 17 Uhr, als wir unseren persönlichen Ort des Schreckens erreichen, an dem wir auf keinen Fall die Nacht verbringen wollen. Wir winken sämtlichen Lkw-Fahrern, bis ein alter Redford-Truck hält.
In seinem Inneren sitzen bereits drei Männer, doch für uns und unser Gepäck ist auch noch Platz. Gemeinsam rollen wir in Richtung des 320 Kilometer entfernten Mansehras. Doch unsere Fahrt wird bereits nach wenigen Meter unterbrochen. An der Polizeistation in Chilas werden wir kontrolliert und müssen den Platz in der Fahrerkabine nach einigem Hin und Her mit einem Polizisten teilen, der uns für einige Stunden begleiten wird.
Mit dem Monster durchs Hochgebirge
Holprig und sehr, sehr langsam schleichen wir voran. Dass der Karakorum Highway unter schlechten Straßenverhältnissen leidet, wussten wir. Aber während Pkws und Jeeps auf der schmalen Straße noch so viel Spielraum haben, um zumindest den größten Schlaglöchern auszuweichen, bietet sich den LKWs nur eine Option: geradeaus, mittendurch. Dabei röhrt der Motor so angsteinflößend, als würde er jeden Augenblick explodieren wollen.
Auf unserem Weg passieren wir ein paar Jungen, die sich ganz nah an die Felswand drücken. Ihre Hände pressen sie gegen die Ohren als wir an ihnen vorbei donnern. Wir sitzen nicht einfach nur in einem Lkw. Wir sitzen in einem Monster.
Die Schlaglöcher vor uns sind so tief, dass die mannshohen Reifen unseres Gefährts zur Hälfte darin versinken. In der Fahrerkabine werden wir kräftig durchgeschüttelt, fallen vor und zurück, wie in einer Achterbahn. Nur die Geschwindigkeit ist eine andere. Wir befinden uns in der langsamsten Schleuder der Welt.
Für die ersten 60 Kilometer der Reise benötigen wir acht Stunden. Dazu dröhnt ohrenbetäubende Bollywood-Musik aus den knackenden Lautsprechern, foltert unsere Gehörgänge. Der Fahrer, berauscht am Haschisch der Berge, schreit mit schriller Stimme immer wieder unverständliches in unsere Richtung. Manisches Lachen unterbricht seinen Redefluss. Schlafen werden wir in dieser Nacht nicht.
Trotz ihrer überschwänglichen Art sind uns die Männer sympathisch. Als wir den Polizisten nach etlichen Kilometern an einer Polizeistation absetzen, laden sie uns zum Abendessen ein. Mit Sabji, Dal und Rotis feiern wir, dass wir den Beamten endlich losgeworden sind. Dann setzen wir unsere Fahrt fort.
Immer wieder passieren wir Kontrollposten, an denen wir unsere Pässe vorzeigen und uns registrieren müssen. Die jeweiligen Beamten können überhaupt nichts mit uns und unseren Dokumenten anfangen. Sie glauben weder, dass wir per Anhalter in einem Schwertransporter mitfahren, noch können sie unsere Reisepässe lesen oder wissen wie ein pakistanisches Visum aussieht. Es vergehen endlos lange Minuten in denen unsere Pässe gedreht, auf- und zugeschlagen, herumgereicht und ahnungslos angeglotzt werden.
Die Männer aus dem Lkw helfen uns immer wieder, reden auf die Beamten ein, unterstützen uns so gut es geht. Dabei verlieren sie selbst viel Zeit, denn jede Kontrolle verzögert sich aufgrund der Fantasielosigkeit der Beamten beträchtlich. Doch unsere Begleiter beschweren sich nie, denken gar nicht daran ohne uns weiterzufahren. Stattdessen lassen sie uns immer wieder wissen, für wie unfähig sie die Polizisten halten.
Erst als gegen 6.30 Uhr am nächsten Morgen die Sonne aufgeht, fallen uns erschöpft die Augen zu. Doch nach nicht einmal zwanzig Minuten werden wir unsanft aus dem Schlaf gerissen. Vor uns liegt wieder ein Kontrollposten der pakistanischen Polizei. Mit schmerzenden Knochen und steifen Gelenken steigen wir aus dem wackeligen Lkw. Wieder müssen wir unsere Pässe zeigen und in einem Register unterschreiben. Erst nach einer Viertelstunde und unter gütigem Zureden, finden die Beamten die notwendigen Informationen und lassen uns gehen.
Fünf Minuten später, als wir die Grenze zwischen zwei Distrikten übertreten, findet in einem anderen Kontrollposten die gleiche Prozedur statt. Wieder haben die Beamten keine Ahnung. Doch anstatt unsere Informationen vom benachbarten Kontrollposten nicht einmal hundert Meter entfernt abzufragen, werden wir erneut schleppend lange aufgehalten.
In den Morgenstunden laden uns die drei Männer aus dem Lkw zum Frühstück ein. Vor einem winzigen Verschlag am Straßenrand, dessen Inneres gerade genug Platz für zwei Tische bietet, essen wir Roti und Dal. Es ist ein typisches Restaurant entlang des Karakorum Highways – grob zusammengezimmert mit einer Handvoll Teller und zwei Gerichten zur Wahl. Nach dem Essen reinigen wir uns die Hände mit Zeitungspapier, bevor wir aus einem nahen Brunnen Wasser schöpfen, um unsere Gesichter zu waschen.
Völlig übermüdet erreichen wir gegen 12.30 Uhr Mansehra. Mehr als 18 Stunden haben wir in der Fahrerkabine des Lkws verbracht und dabei lediglich 320 Kilometer zurückgelegt. Als wir wieder mit beiden Beinen auf festem Boden stehen, schwanken wir noch immer hin und her. Es braucht eine Weile, bis wir uns an den Stillstand gewöhnen.
An der Straße nach Islamabad warten wir auf eine weitere Mitfahrgelegenheit, aber niemand scheint uns zu bemerken. Der Einzige, der Interesse für uns aufbringt ist ein kleiner, dicker Mann im Shalwar Kamiz mit einer gewaltigen Nasenwurzel. Wichtig stapft er auf uns zu und beginnt sofort ein Verhör: wer wir seien, woher wir kämen, was wir hier wollten sind die wesentlichen Fragen. Während er sich an unserem Gepäck zu schaffen macht, fordert er uns auf, unsere Pässe zu zeigen und unsere Rucksäcke zu öffnen. Wir sind irritiert, wundern uns über diesen dahergelaufenen Typen und reagieren zunächst nicht. Offensichtlich brüskiert und leicht aggressiv wedelt der Mann plötzlich mit einem Militärausweis.
Doch viel Zeit bleibt ihm nicht, um uns zu behelligen, denn unmittelbar danach hält ein Pkw, dessen Fahrer uns gerne bis nach Islamabad mitnehmen möchte. In der klimatisierten Karosse rollen wir die letzten 160 Kilometer bis in die pakistanische Hauptstadt.
Im Boys Hostel in Islamabad
Erst gegen 16 Uhr erreichen wir die von Hitze geplagte Planstadt. Wir sind hungrig und müde und wissen nicht so recht wohin mit uns. Bald finden wir heraus, dass es in diesem Sektor der Stadt, in dem wir uns gerade befinden, keine Unterkünfte gibt. Doch wie so oft in Pakistan passiert auch diesmal wieder das Unwahrscheinliche. Muhammad, ein Student, spricht uns auf der Straße an. Er erkenne uns von irgendeiner Internetseite wieder. Wahrscheinlich sind wir irgendwie auf die Pinnwand seines Social-Media-Kanals gespült worden.
Neugierig mehr über unsere Reise zu erfahren, lädt er uns in sein Wohnheim sein. Wir dürfen über Nacht bleiben, obwohl das Wohnheim eigentlich nur junge Männer aufnimmt. Muhammad und seine Freunde, mit denen er ein Zimmer teilt, bemühen sich sehr um uns. Sie alle quartieren sich bei Freunden und Kommilitonen in benachbarten Schlafräumen ein, damit wir das Zimmer der fünf Jungs ganz für uns alleine haben. Unser Protest dagegen führt zu Nichts. Ihre Gastfreundschaft kennt keine Kompromisse.
Wir werden zu Chai und Biryani eingeladen und verbringen die folgenden Stunden und Tage damit uns im Kreis sitzend mit den jungen Studenten über das Leben auszutauschen. Jeder hat eine Geschichte zu erzählen und erstaunlich sind die meisten von ihnen. Dabei können die Jungs kaum genug von unseren Abenteuern und Erlebnissen hören. So unwahrscheinlich klingt unsere Reise für sie.
Drei volle Tage verbringen wir in Islamabad bevor wir uns von unseren jungen Freunden verabschieden. Mittlerweile fühlen wir uns unwohl ihre Gastfreundschaft derart zu beanspruchen, denn die Jungs verzichten völlig auf ihr Studium, nur um für uns da zu sein. Von Islamabad begeben wir uns nach Lahore, unserer letzten Station in Pakistan wenige Kilometer vor der indischen Grenze.
Unterwegs in Pakistans Norten: zwischen Hindukusch, Karakorum und Himalaja in zwei Teilen
Teil 1: Karakorum und die das Gesetz des Stärkeren
Teil 2: Das Hunza Tal und der Irrweg nach Shimshal
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.
Toller Artikel! Da kommen Erinnerungen hoch! Ich war 1992 im Hunza Valley und habe es geliebt!
LG
Ulrike