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Vom Kuhstall zum Meditationstempel

Amritapuri und die Hugging Mother


27. November 2020
Indien
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Der beste Ort im Aschram Amritapuri ist die Trockenterrasse im elften Stock. Es ist 5.45 Uhr morgens und Reihen weißer Wäsche schwingen unaufgeregt im Wind. Weit oben, am noch blassblauen Himmel, drehen Adler vornehm ihre Runden.

Unten schwankt ein dichter Wald aus Kokospalmen sachte im warmen Licht der aufgehenden Sonne. Dahinter schiebt sich eine leichte Brise über das in den frühen Morgenstunden beinahe reglose Meer. Auf der anderen Seite schlängelt sich ein breiter Fluss zwischen den Bäumen des Waldes hindurch. Traditionelle chinesische Fischernetze warten an seinem Ufer darauf, ins Wasser gelassen zu werden. Mein Blick richtet sich gen Sonnenaufgang, erfreut sich am mystischen Morgendunst, der zwischen den Palmwedeln hängt. Krähen sitzen auf dem Terrassengeländer und beobachten mich; mich und Dutzende andere Bewohner des Meditationszentrums. Das Interesse der Vögel verwundert nicht. Denn was hier noch vor dem Start des Tages zwischen den Wäscheleinen geschieht, ist wahrlich einen Blick Wert.

Die größte Terrasse im Aschram verwandelt sich in der Morgendämmerung zur inoffiziellen Yoga- und Meditationshalle. Neben den üblichen Dehnungsposen und den Meditationen im Lotussitz, mit denen die Aschrambewohner den Morgen beginnen, verschaffen sich insbesondere die Pranayamaübungen Gehör. Laut hechelnder, schnaubender, prustender oder keuchender Atem beherrscht die Geräuschkulisse. Elegante Tai Chi Übungen fließen still und unmerklich an den volltönend Schnaubenden vorbei. Nicht weit entfernt erreicht das leise Klacken einer Meditationskette mein Ohr. Mantras werden gemurmelt. Lang gezogene Om Gesänge sind allgegenwärtig.

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In einer Ecke dreht sich ein langhaariger Westler mit wildem Bart seit Minuten schon wie in Trance um die eigene Achse. Seine Bewegung ist angelehnt an die Rituale der Derwische, die sich dem Sufismus, dem mystischen, spirituellen Zweig des Islams, angehörig fühlen. Direkt daneben versucht sich eine junge Frau mit Kopfhörern an ekstatischem Tanz. Ein Schild weist auf das tragen moderater Kleidung hin. Es ist ein Zeichen des Respekts für den im Zölibat lebenden Teil der Bewohner, denn die offene Terrasse ist von zahlreichen Balkonen des Aschrams zu sehen.

Die Krähen kreischen nun von oben auf uns herab und haben völlig zu Recht Redebedarf. Auf der Terrasse schaue ich in entspannte, aber auch in angestrengte, verzehrte, bemühte Gesichter und stupse Shyam an, mit dem ich mich zum gemeinsamen Yogatraining verabredet habe: „Verrückt, oder?“ raune ich ihm zu. Ganz gleich, wie verschieden die Übungen und Methoden sind, haben doch alle dasselbe Ziel. Sie versuchen den Geist zu beruhigen, die Gedanken zu verstummen, für einen kurzen Moment Frieden und Stille in die aufgewühlten Köpfe zu bringen.

Shyam lacht.

Ab und an sprechen wir über die vielen verschiedenen Ansätze, die zum inneren Frieden führen sollen. Dabei wird uns eines klar: Ob man den Geist beruhigen, die Gedanken verstummen lassen möchte, kommt vor allem auf die eigene Positionierung an. Mit einem positiven Geist, einer positiven Lebenseinstellung und positiven Gedanken bedarf es wahrscheinlich keiner extra Übungen. Es gibt sicher Menschen, die ihr Leben lang nicht einmal an Yoga und Meditation denken und denen es ohne Weiteres gut geht.

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Amritapuri in Kerala

Ich befinde mich in einem kleinen Fischerdorf in Südindien, im Bundesstaat Kerala. Hier steht das Geburtshaus von Mata Amritanandamayi, besser bekannt als Amma, Mutter, eine der bekanntesten spirituellen Führerinnen Indiens. Aus dem kleinen Kuhstall neben ihrem Elternhaus, in dem sie in jungen Jahren ihre Anhänger mit einer Umarmung segnete, ist ein riesiger Aschram geworden, ein Meditationszentrum und ein Ort der spirituellen Lehre. 3.500 Menschen leben in Amritapuri, wie Ammas Aschram genannt wird.

Die zahlreichen westlichen Besucher des Aschrams kennen Amma als The Hugging Mother: Denn Amma verteilt während der Darshans, den persönlichen Zusammentreffen, noch immer Umarmungen an ihre Anhänger, die Kinder. Sie gibt damit Segen und spirituelle Energie, heißt es. Bislang hat Amma weltweit über 30 Millionen Menschen umarmt und ist außerdem bekannt für ihr soziales Engagement. Nächstenliebe erklärt sie zum Grundpfeiler ihrer Lehre. Überhaupt, so betont die 70-Jährige, sei die Liebe ihre Religion.

Der Aschram ist für jedermann geöffnet. Eine kurze Online-Anmeldung reicht aus, um hier für eine Zeit lang leben zu können. Viele Besucher kommen nur für einen Tag, um sich von Amma mit einer Umarmung segnen zu lassen, manche bleiben mehrere Wochen oder gar Jahre. Und dann gibt es diejenigen, die sich für ein Leben im Dienst des Aschrams entschieden haben.

Ich dagegen plane vier Wochen in Amritapuri zu leben.

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Der Aschram gleicht einer spirituellen Siedlung. Der Komplex ist riesig, verwinkelt und manchmal greife ich auf die Hilfe von GPS zurück, um mich über die Anlage zu bewegen. Amma ist nur vier Monate im Jahr im Amritapuri, den Rest des Jahres reist sie innerhalb Indiens und ins Ausland, um dort ihre Anhänger zu umarmen, auf Konferenzen zu sprechen und ihre sozialen Initiativen zu unterstützen.

In diesen Wochen ist sie zu Hause im Aschram und mit ihr sehr viele Gäste. Zahlreiche Tagesbesucher aus der Umgebung besuchen den Aschram, essen hier zu Mittag und lassen sich von Amma segnen. Die Menschenmenge verdrängt die eigentlich friedliche Atmosphäre mit ihrem Lärm und Gerangel.

Viele Bewohner und auch die Besucher beklagen diesen Zustand der plötzlichen Schnelllebigkeit. Auch ich habe mir Ruhe und einen geregelten Tagesablauf gewünscht, als ich meinen Aufenthalt in diesem Meditationszentrum plante. Doch nun muss ich einsehen, dass weder das eine noch das andere hier zu finden ist. So richtig still ist es im Amritapuri nie, das Meditieren fällt schwer zwischen schreienden Babys und aufgeregten Tagesbesuchern. Manchmal steht ein Elefant auf dem großen Platz neben der Darshanhalle. Mit seinem Rüssel segnet auch er die Besucher gegen einen kleinen Obolus – am liebsten mag er Bananen.

Nichtsdestotrotz bleibe ich, so wie auch die anderen bleiben. Es ist ein bisschen so, als seien wir verhext von Amma und ihrer Energie. Manch einer reißt Witze: Die Menschenmenge sei eine Lektion für Ammas Kinder und fördere die Fähigkeiten der Konzentration und der Meditation. Das hier sei ein Meditations-Bootcamp, höre ich lachend aus einer anderen Ecke.

Vor den beiden Haupteingängen des Aschrams befinden sich seit einigen Jahren Polizeikontrollen. Auch ein Metalldetektor, ähnlich denen am Flughafen, kommt zum Einsatz. Amma gilt als einer der wichtigsten Gurus Indiens und genießt offiziell besonderen Schutz der Regierung. Doch die Kontrollen sind halbherzig. Der piepende Metalldetektor juckt den Sicherheitsmann, der im Plastikstuhl daneben entspannt vor sich hin träumt, überhaupt nicht.

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Alltag im spirituellen Dorf

Der Komplex ist in die Jahre gekommen, modrig und hässlich. Daran ändert auch der blassrosa Anstrich nichts. Neben riesigen, bis zu 14 Stockwerke hohen Türmen, in denen die Bewohner des Aschrams leben, gibt es einen Tempel zu Ehren Kalis, der Göttin der Zerstörung und der Erneuerung, und die große Halle, in der Amma ihre Darshans abhält. Letztere ist zu beiden Seiten flankiert von der indischen und der westlichen Kantine. Auch allerhand Seminarräume und Hallen, ein Krankenhaus, ein Souvenirshop, eine ayurvedische Apotheke und etliche administrative Büros, eine Bank und eine eigene Schneiderei sowie einen Supermarkt und weitere Essensstände befinden sich auf dem Gelände. Shops verkaufen Gebetsketten und kleine Amulette mit Ammas Konterfei. Es gibt sogar einen Pool, den man, zu bestimmten Zeiten und nach Geschlechtern getrennt, gegen Entgelt besuchen kann.

Die tägliche Routine und der Tagesablauf im Amritapuri sind nicht streng geregelt und wie man den Tag verbringt, ist jedem Bewohner des Aschrams selbst überlassen. Verpflichtungen gibt es nicht. Ammas großes Herz und ihre Angewohnheit, gern mal ein Auge zuzudrücken, prägen die Regelungen im Aschram. Morgens von 4 bis 5 Uhr werden im Kali Tempel gemeinsam Mantras gesungen. Das Rezitieren gilt ebenfalls als Meditation, denn den Vibrationen des gesprochenen Sanskrits werden heilende Kräfte nachgesagt, während die rhythmischen Wiederholungen eine beruhigende Atemübung darstellen.

Zeitgleich findet neben dem Geburtshaus von Amma, das sich inmitten des Komplexes befindet, eine Puja statt – meist zu Ehren des elefantenköpfigen Gottes Ganesha, der Göttin Kali oder Sarasvati, der hinduistischen Göttin der Weisheit und Gelehrsamkeit.

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Ich besuche beide frühmorgendlichen Veranstaltungen nur jeweils ein Mal. Dennoch gebe ich mich nicht dem Müßiggang hin und verschlafe den frühen Morgen, wie es ein nicht unwesentlicher Teil der Besucher im Aschram macht. Stattdessen halte ich mich an Ammas Empfehlung und widme mich in den ersten Stunden des Tages der Mediation. Dabei starte ich pünktlich zum Sonnenaufgang auf einer weiteren Trockenterrasse im 11. Stock des Aschrams. Eine 3-stündige Yoga- und Meditationsroutine ist mein überambitionierter Plan, den ich mir für die folgenden vier Wochen vornehme.

Anschließend, von 8 bis 10.30 Uhr, serviert die indische Kantine Frühstück. Danach hänge ich auf der Trockenterrasse im 14. Stock die Wäsche aus der aschrameigenen Wäscherei auf und ab. Zwei Stunden, jeden Tag. Es ist Teil meiner Seva, dem selbstlosen Freiwilligendienst, der im Aschram erbeten wird. Es ist eine Arbeit, die mir Freude bereitet, denn die Aussicht von hier oben auf den grünen Teppich aus Kokospalmen und das tiefblaue Arabische Meer ist grandios.

Richtig beliebt ist meine Seva aber nicht, denn sie verlangt ein längerfristiges Engagement in einem festen Zeitplan. Besucher und Touristen tun sich mit dieser Bindung oft schwer. Für sie sind spontane Sevas, die einmalig stattfinden, oft die leichtere Wahl. Dabei helfen sie in der Küche oder als Übersetzungskraft in einem der vielen Seminare und Workshops.

Nach dem Mittagessen verkrieche ich mich meist in mein Zimmer und freue mich über einige ruhige Atemzüge in Einsamkeit. Die Menschenmengen und der Lärmpegel im Amritapuri fordern mich heraus, bin ich doch direkt von meiner dreiwöchigen Ayurvedakur zum Aschram gereist und dabei, anders als erhofft, Stille gegen Hektik und Gepolter eingetauscht.

Am Nachmittag finden dann, je nach Wochentag, Veranstaltungen mit Amma in der großen Halle statt. Wenn zwischendurch Zeit bleibt, gehe ich zum Sonnenuntergang an den kleinen Strandabschnitt, der ebenfalls zur Anlage gehört. Hier verbringen viele Bewohner des Aschrams ihre Zeit, trinken Chai, lesen, schreiben oder Meditieren.

Abendessen gibt es bis 21 Uhr.

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Amma und die Meditation

Ich bezeichne Amritapuri gern als eine Art spirituelles Dorf. Das kommerzielle Angebot an Workshops, Kursen und Selbsthilfemaßnahmen ist breit und wird von den langjährigen Aschrambewohnern gegen Entgelt und nach Anmeldung im offiziellen Büro für Workshops und Seminare angeboten. In Kleingruppen kann man klassische indische Instrumente wie Tabla oder Harmonium erlernen. Workshops zur Traumdeutung, mehrtägige Meditationskurse, verschiedenste Massagen, ganzheitliche Heilmethoden und Tarot werden angeboten, genauso wie Akupunktur, Tai Chi und Yoga Unterricht. Die Seminare, die an großen Informationstafeln aushängen, sind vielfältig, manche finden regelmäßig statt, andere werden nur einmalig angeboten.

Kostenlos sind dagegen die dreitägigen Kurse, in denen Ammas eigene Meditationstechnik, eine Mischung aus Atemübung, Yoga, Meditation und Visualisierung gelehrt werden.

Vier Mal wöchentlich findet eine angeleitete Meditation mit Amma in der großen Halle statt. Satsang heißt diese Veranstaltung und bezeichnet in der indischen Philosophie das Zusammentreffen einer Gruppe mit einem spirituellen Meister, der als erleuchtet gilt. Eine hölzerne Bühne ist das Herzstück der Halle, die mit Hunderten Klappstühlen bestückt ist. Männer und Frauen sitzen getrennt. Die Wand hinter der Bühne ziert eine kitschige Fototapete, die einen stark bearbeiteten blutroten Sonnenuntergang über dem Ozean zeigt. Davor steht ein überlebensgroßes Fotos von Amma, golden gerahmt und mit Blumenketten geschmückt.

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Direkt vor der Bühne befinden sich die beliebtesten Plätze. Hier sitzt oder kniet man zwar auf dem Boden, ist aber näher an Amma dran als alle anderen. Es sind diese Plätze, die bei allen Veranstaltungen Stunden im Voraus reserviert werden – wie Liegestühle am Pool. Doch statt Handtücher kommen im Aschram Yogamatten und kleine Teppiche zum Einsatz. Die spirituelle Gelassenheit und innere Balance geht dem einen oder anderen dabei gern mal verloren und ein wenig Gerangel und Rücksichtslosigkeit schwirrt immer durch den Raum. Dabei ignorieren Ammas wohl eifrigste Anhänger das Wichtigste in ihrer Lehre: Nächstenliebe.

Amma zu lieben ist einfach, ermahnt sie stets. Ziel solle es jedoch sein, jeden Menschen mit genauso viel Liebe zu begegnen wie wir Amma begegnen. Ihre nach Außen getragene, spürbare Energie, so sagt sie, wohnt jedem Einzelnen von uns inne. Amma hat recht. Sie zu lieben ist einfach. Auch ich ertappe mich dabei, wie ich die kleine, herzliche Frau mit einem breiten Lächeln anschaue, wenn sie in ihrer natürlichen, liebenden Art den Raum um sie herum mit einer unfassbaren Aura füllt. Ammas Energie ist besonders und ist der Grund, warum ich die für mich schwer zu verdauende, hektische Atmosphäre überall im Aschram auf mich nehme.

Der mittlere Gang der Halle, der zur Bühne führt, ist für Amma reserviert und darf nur barfuß begangen werden. Hier betritt sie in einem großzügigen Zeitfenster bis weit vor oder nach Veranstaltungsbeginn die Halle. Amma ist viel beschäftigt, Pünktlichkeit verlangt niemand von ihr. Im Gegenteil: Wir Anwesenden sind dankbar für die kostbare Zeit, die sie uns schenkt.

Vorneweg begleiten Amma beim Gang zur Bühne zwei Soldaten mit Maschinengewehren, hinter ihr läuft ein Tross Frauen. Alle zusammen bilden ein surreales Bild, wirkt Amma doch mit ihrer gedrungenen Körpergröße, ihrer weißen Kleidung und den kleinen Schritten wie die liebenswürdige Tante von nebenan, die man am liebsten knuddeln möchte.

Sobald Amma in der großen Tür zur Halle erscheint, erheben sich die Wartenden mit glückseligem Lächeln. Sie stehen Spalier und wollen so nah wie möglich an die alte Frau heran, die in der Menge beinahe zerbrechlich wirkt.

Vor der Bühne angekommen, setzt sich Amma auf einen gepolsterten Stuhl und begrüßt ihre Kinder mit über der Stirn gefalteten Händen. Es ist eine Geste größtmöglichen Respekts. Ihr Blick wirkt gerührt ob der anwesenden Menge. Eine Kamera ist in kurzer Distanz vor ihr aufgestellt, projiziert eine bewegte Großaufnahme ihres Gesichtes auf riesige, in der Halle verteilte Bildschirme. Eng an Amma geschmiegt sitzt eine Handvoll Kinder, die immer wieder liebevoll von Amma unterhalten werden.

Arabisches Meer, kerala, Indien
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Die geführte Meditation beginnt und Stille kehrt in die Halle ein, die hin und wieder von Hustenden, dem Geräusch verrückender Stühle oder dem Geschrei eines unzufriedenen Kleinkindes durchbrochen wird. Doch überraschend viele Kinder und Babys – viele junge Familien wohnen oder besuchen Amritapuri –, genießen die friedliche Energie der Meditation, schlafen ein oder schauen Amma gebannt und mucksmäuschenstill an. Aus den entfernten Ecken der Halle ist Kindergebrabbel zu hören. „Amma, Amma“ quiekt es dann durch den Raum, entlockt dem Publikum ein entzücktes Lachen, in das auch Amma mit fröhlichem Glucksen einstimmt.

Während der Meditation gibt Amma ruhige Anweisungen in ihrer Muttersprache Malayam, die von einer unsichtbaren tiefen, männlichen Stimme ins Englische übersetzt werden. Dabei läuft nicht immer alles rund. Passiert dem Übersetzer ein Fehler, wird er sofort von Amma grinsend darauf hingewiesen.

Es dauert ein paar Minuten, dann meditieren Hunderte Menschen in Stille. Amma sitzt reglos mit geschlossenen Augen vor uns und obwohl sie absolut nichts tut, erfüllt ihre Anwesenheit den Raum mit einer eigenen Energie.

Nach einer halben Stunde gibt es die Möglichkeit, Amma Fragen zu stellen. Ein Mikrofon wird durch die Reihen gereicht, Hunderte Augenpaare springen von Ammas rundem Gesicht, das mit einem großen Tikka zwischen den Augenbrauen geschmückt ist, auf die fragende Person im Publikum. Die Anliegen sind unterschiedlich: praktische Fragen zu konkreten Meditationstechniken, persönliche oder allgemeine Fragen zu spiritueller Theorie. Was auch immer vom Publikum ausgesprochen wird, beantwortet Amma ausführlich und unterhaltsam. Ihre Reden sind gespickt mit Fabeln, Legenden und Geschichten sowie Anekdoten aus ihrem eigenen Leben. Das Publikum hängt gebannt an den Lippen der alten Frau. Es geht herzlich zu und Ammas besondere Art versprüht Heiterkeit.

Zahlreiche Assistenten wuseln um Amma herum, richten ihren weißen Sari, kümmern sich um das Wohl der Kinder. Sie reichen Amma bunte Malstifte, mit denen sie während der Übersetzungen ein Bild auf eine kleine Tafel malt, das sie zum Ende der Meditation dem Publikum präsentiert. Dabei handelt es sich meist um eine Mischung aus Mandala und naiver Kindermalerei und wird von Ammas Anhängern stets mit Applaus bedacht.

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Bhajans, die religiösen Lieder

Anschließend gehts in die Pause; jedoch nur für das Publikum. Satsang ist beendet und nun gibt Amma Darshans, kleinere Zusammenkünfte für einige wenige Tagestouristen, die einen besonders engen Zeitplan haben. Es ist ein guter Moment, um draußen in den lauen Abendstunden eine Kokosnuss oder einen Chai zu genießen und ein bisschen frische Luft zu atmen, denn drinnen in der gut besuchten Halle ist es meist heiß und stickig.

Der Abend wird mit gemeinsamem Singen der Bhajans, religiöser hinduistischer Lieder, beschlossen. Die Halle ist nun wieder voller Menschen, die sich auf ihre mit Tüchern oder Broschuren reservierten Sitzplätze zurückbegeben.

Es folgt ein 90-minütiger Gesang Ammas auf der großen Bühne. Sie wird dabei von einer mehrköpfigen Band begleitet, die auf traditionellen indischen Instrumenten wie Tablas, Sitars oder Sarods die jahrhundertealten Melodien des Subkontinents spielt. Die Lieder preisen hinduistische Gottheiten wie Ganesha, Krishna, Shiva oder Kali und werden von Amma meist auf Malayam, der Sprache Keralas und Ammas Muttersprache vorgetragen. Doch sie singt auch auf Hindi und auf Tamil, der Sprache des Nachbarstaates Tamil Nadu, und löst dabei viel Freude bei der großen Anzahl tamilischer Gäste aus. Amma singt aber auch in Gujarati, Kanada und Bengali und es gibt immer eine Handvoll Zuschauer im Publikum, die ein erheitertes Jauchzen von sich geben, wenn sie ein Lied aus den Tempeln der Heimat in ihrer Muttersprache hören.

Während der Bahjans sind die Dutzenden Stuhlreihen zum Großteil mit Einheimischen gefüllt, die begeistert zu den religiösen Liedern klatschen. Junge Mädchen haben sich extra schick gemacht, doch die ein oder andere indische Oma nickt über der friedlichen Stimmung und den beruhigenden Rhythmen ganz allmählich ein. Auf der großen Bühne ist Amma dagegen präsent. Ihre Hingabe ist enorm, ihre Stimme, trotz ihres gehobenen Alters, stark und schön. Immer wieder wirft sie ihre Hände gen Himmel, schließt die Augen. Liebe, Demut, Hingabe sind die Attribute, mit denen das Publikum Ammas Gesang regelmäßig beschreibt. Das Konzert endet mit ein wenig indischem Kitsch: Beim letzten Mantra wird auf den Bildschirmen, die neben den englischen, deutschen und französischen Übersetzungen der Liedtexte auch permanent Ammas Gesicht zeigen, ein digitaler Schleier aus Sternenstaub gelegt: Amma, die beinahe Göttliche.

Dann verklingt die letzte Silbe aus Ammas Mund. Der letzte Ton ist gespielt. Zeit fürs Abendessen.

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Arabisches Meer, kerala, Indien
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Die indische Kantine

Das Essen in der indischen Kantine ist im Preis für die Unterkunft mit eingeschlossen. Die drei täglichen Mahlzeiten sind gesund und leicht verdaulich. Daneben gibt es eine westliche Kantine, die für indische Verhältnisse fast schon hipstermäßige Speisen wie Obstsalat mit Granola und Joghurt, Falafel, Käseomelette oder eine dicke Scheibe Sauerteigbrot mit pochierten Eiern verkauft.

Ein kleines indisches Café serviert Dosa, Idli und weitere einfache Speisen, Chai und noch mehr Chai. Das Café ist ein beliebter Treffpunkt, hat es doch auch später am Abend noch geöffnet. Das Verpflegungsangebot im Amritapuri ist groß. Ein kleiner Straßenstand bietet Frittiertes, frische Kokosnüsse gibt es an der Ecke gleich neben dem Supermarkt, der Gemüse- und Obststand befindet sich Tür an Tür mit der Saft- und Milchshakebar.

Das westliche Café mit Kaffeespezialitäten und veganen Kuchenköstlichkeiten ist der beliebteste Platz für die westlichen Aschrambesucher. Dass es existiert, ist Ammas Mitleid mit der westlichen Geschmacksorientierung geschuldet, die das scharfe indische Essen nur schlecht erträgt und ganz allgemein den morgendlichen Espresso vermisst. In Amritapuri soll sich jeder wohlfühlen können. Ammas Aschram ist weder strikt noch asketisch geführt. Vielmehr werden die Besucher und Gäste auch gern mal verwöhnt.

Ich zwinge mich – gerade aus meiner dreiwöchigen Ayurvedakur kommend – ausschließlich in der indischen Kantine zu essen. Bin ich am Anfang noch motiviert, mich nach den Vorgaben meines Ayurveda Arztes dem gesunden sattvischen Essen der indischen Kantine hinzugeben, muss ich bald einsehen, dass es mit meiner Disziplin nicht gut bestellt ist. Zu meiner Verteidigung: Der Koch der indischen Kantine ist keine Hilfe. Zum Frühstück gibt es Reis und Linsencurry. Zum Mittagessen gibt es Reis mit Linsencurry und Sambar, einer dünnen, scharfen Suppe. Zum Abendessen gibt es Reis mit Sambar. Jeden Tag. Ohne Ausnahme. Und da nach Ammas Überzeugung das Wasser, in dem Reis gekocht wird, besonders gesund sei, ist der Reis, der in überdimensionalen Töpfen wartet, eine Art Suppe. Doch damit noch nicht genug: Zur einfacheren Verdauung sind Reis und Gemüse in den dünnen Currys wabbelig weich gekocht.

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Manchmal gibt es theoretisch Idli zum Frühstück – jedoch nur in begrenzter Zahl. Dann reicht die Schlange der Hungrigen bis weit hinaus aus der Eingangstür und wer nicht als einer der Ersten zugreifen kann, geht leer aus. Danach gibts wieder nur noch pampigen Reis und Linsencurry.

Der fade, ungewürzte (dafür aber gesunde) Geschmack und die unerträgliche Textur des Essens sind eine Herausforderung für mich. Kombiniert mit der Tatsache, dass ich täglich an Müslis, Schokobrownies und Milchkaffee vorbei spaziere, es sogar Burger und Pommes im Angebot gibt und der Supermarkt Schokolade und Eis am Stiel verkauft, wird aus der Herausforderung ein kulinarischer Spießrutenlauf.

Das Überangebot ist Gift für meine Disziplin und frustriert mich. Während es bei der Meditation darum geht, den Geist, die Gedanken zu kontrollieren, gibt es hier im Aschram Erdbeereis mit Schokoladensoße für diejenigen, die nicht mal ihre Gelüste kontrollieren können oder wollen. Für mich passt das nicht zusammen. Da mag aber höchstwahrscheinlich auch der Appetit aus mir sprechen.

Ich kaufe mir Leinsamen im Supermarkt und erfreue mich einige Tage daran, dass mein sehr gesundes Essen nun mit ein wenig Geschmack auftrumpfen kann. Bald schon verzichte ich zusätzlich auf das Frühstück, da ich drei Mal am Tag Reissuppe mit Curry nicht ertrage. Als letzte Instanz faste ich ein Mal wöchentlich für etwa 30 Stunden. Danach bin ich so hungrig, dass die verhasste Reissuppe eine ungeahnte Geschmacksexplosion in mir entfacht. Es ist ein Neuanfang, denn bald schon binden sich wieder erste zarte Bande zwischen mir und der indischen Kantine. Vielleicht, so denke ich mir, muss man etwas nur schmerzlich genug vermissen, um es wieder Wertschätzen zu können.

Ich schaffe es, vier Wochen lang ausschließlich in der indischen Kantine zu essen und erliege nicht einer einzigen meiner Abertausenden Versuchungen. Ich bin ein wenig stolz auf mich, doch nun im Nachhinein betrachtet, wundere ich mich, warum ich das Bedürfnis hatte, so streng zu mir zu sein. Ich hätte mir mit gutem Gewissen ab und an mal einen kleinen Schokokuchen gönnen können. Amma hätte ihn mir wohlwollend gegönnt.

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Prasad, die gesegnete Mahlzeit

Dienstag ist ein besonderer Tag im Aschram. Es ist Zeit für Prasad, Zeit für ein von Amma gesegnetes Mittagessen. An Prasadtagen ist Amritapuri besonders gut besucht und eine wuselige Stimmung ist schon in den frühen Morgenstunden zu spüren. Hunderte Mittagessen müssen in Windeseile angerichtet, von Amma gesegnet und an die Aschrambewohner, Gäste und Pilger verteilt werden. Die Organisation verblüfft mich. Dutzende Helfer befüllen vor der Bühne in der großen Halle die Teller. Das Prasad-Mittagessen ist besonders lecker und reichhaltig. Statt der immer gleichen Reissuppe mit Sambar und Curry gibt es Reis mit zweierlei Gemüsecurrys, eine kleine Banane und einem Klecks Süßspeise. Sogar knusprige Papads und eine Löffelspitze würziger Pickle sind dem besonderen Essen beigefügt. Was vielleicht simpel und wenig berauschend klingt, ist Luxus für meinen mit Monotonie gestraften Gaumen.

Während des Prasads sitzt Amma an einer großen Tafel auf der Bühne. Die ausladenden Bildschirme zeigen wie immer eine Großaufnahme ihres Gesichts. Einem Fließband gleich bringen Helfer die vor der Bühne angerichteten Teller vor Ammas greifende Hände. Blitzschnell, Karateschlägen gleich, berührt sie die ihr entgegengehaltenen Teller. Ammas Gesicht ist konzentriert. In geordneten Reihen werden die angerichteten und gesegneten Teller nun durch die Halle gereicht. Was am Anfang nach einer nicht enden wollenden Prozedur aussieht, geschieht doch unerwartet schnell und schon bald sind alle Teller verteilt. Nach einigen wenigen Worten Ammas wird gemeinsam gespeist. Lediglich ein paar Ungeduldige haben ihr Mittagessen kurzerhand nach draußen geschleust und sind dort vor der Halle schon fertig, bevor Amma ihre Worte beendet.

Amma unterbricht ihr Mittagessen immer wieder, um Teller der Zuspätkommenden zu segnen. Ob sie selbst einmal Zeit findet, um in Ruhe mittagessen zu können, weiß ich nicht.

Die Teller sind leer, Prasad beendet und bereits nach wenigen Minuten geht es wild zu. Der Abwasch steht an und vor den lang gezogenen Waschbecken wird um Vorherrschaft gedrängelt. Laminierte Schilder mahnen mit eindrücklichen Zitaten. Darauf steht: “Waste of water for Amma is like blood oozing out if her body“.

Dienstags nach dem Prasad erinnert mich der Aschram ein bisschen an einen Boxring und ich muss lachen bei dem Gedanken daran, dass ich vor wenigen Tagen noch mit freudiger Erwartung auf Ruhe und Einsamkeit Richtung Aschram gereist bin.

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Darshan und die Umarmungen

Amma ist berühmt für ihre segnenden Umarmungen, die sie während der Darshans, der persönlichen Zusammentreffen zwischen Schülern und Guru, verteilt. Vier Wochentage sind im Aschram für diese besonderen Treffen reserviert. Dabei umarmt Amma mit unglaublicher Energie von morgens bis spät in die Nacht.

Von der wohl vertraulichen Atmosphäre im kleinen Kuhstall, in dem Amma in jungen Jahren ihre Anhänger umarmte, ist bei den heutigen Darshans in der riesigen Halle nicht mehr viel übrig. Der Andrang ist hoch und es geht nun gefühlt in erster Linie darum, möglichst viele Menschen in möglichst kurzer Zeit in Ammas Arme zu drücken.

Bereits morgens nach dem Frühstück muss man für Ammas Umarmung in der großen Halle eine Wartemarke ziehen. Kleine Verkaufsstände aus den aschrameigenen Shops bieten Souvenirs und persönliche Gegenstände Ammas an: etwa von ihr getragene Ohrringe oder von ihr gesegnete Gebetsketten. Einheimische Pilger und Tagestouristen werden am Morgen und im Lauf des Tages umarmt. Aschrambewohner werden in der Regel erst in den frühen Abendstunden auf entsprechende Wartereihen rechts und links der Bühne verwiesen. Das System ist kompliziert und man rückt, meist für insgesamt 1-2 Stunden, Stuhl um Stuhl einen Platz näher an Amma heran.

Es gibt mehrere Wartebereiche. In der großen Halle arbeitet man sich bis zu einer kurzen Stuhlreihe auf der Bühne vor. Dort angekommen, nimmt man sozusagen neben Amma Platz – natürlich nicht ohne zuvor vom Sicherheitspersonal auf Waffen kontrolliert zu werden.

Auch während der Umarmungen erscheint Ammas Gesicht wie so oft in Großaufnahme auf den verschiedenen Bildschirmen in der Halle, die von zahlreichen Zuschauern betrachtet werden. Manche Besucher kommen nur, um Amma zuzusehen, wollen ihre Aura spüren. Dann sitzen sie oft stundenlang einfach nur da. Währenddessen lächelt Amma, wie sie bei diesen Veranstaltungen immer lächelt. Sie umarmt, beantwortet Fragen, erzählt Anekdoten. Auf einer kleinen Plattform vor der Bühne spielen Musiker Bhajans und auch ich sitze manchmal nur in der Halle, um den beruhigenden Klängen zu lauschen und Ammas anzuschauen.

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Als ich endlich die Bühne betrete, bin ich aufgeregt. Noch ein Schritt und ich stehe Amma gegenüber. Routiniert, gern auch unfreundlich, werde ich von ihren Assistenten weiter in der Reihe nach vorne gerufen. Amma sitzt auf einem hohen, mit weißem Stoff überzogenen Stuhl, mehrere Ventilatoren sind auf sie gerichtet.

Aus meiner wartenden Position heraus beobachte ich, wie viele ihrer Anhänger vor Amma auf die Knie fallen, den Boden vor ihren Füßen mit der Stirn berühren, ihr Gegenstände oder Fotos ihrer Liebsten zum Segnen entgegenhalten. Gegen Aufpreis kann man am Aufgang zur Bühne Blumenketten erwerben, um sie Amma um den Hals zu legen. Ein Assistent entfernt die Kette im selben Augenblick und bringt sie gesammelt wieder an den Aufgang zur Bühne, wo sie erneut verkauft werden.

Während der Umarmungen ist Amma in der Regel in Gespräche mit ihren Assistenten vertieft. In der vordersten Stuhlreihe zu Ammas linker Seite angekommen, wird mir ein Taschentuch gereicht. Ich soll mein Gesicht von Schweiß und Dreck befreien, bevor ich zur Umarmung antrete. Ich werfe einen Blick auf Ammas rechte Schulter. Und tatsächlich: Schweiß, Tränen, Kokosnussöl, Sandelholzpaste und Make-up haben auf ihrem weißen Sari an dieser Stelle ein bunt gezeichnetes Durcheinander hinterlassen.

Wieder wird mir etwas in die Hand gedrückt. Diesmal ist es ein laminiertes Blatt Papier, das Regeln auf mehreren Sprachen verkündet. Während der Umarmung sei darauf zu achten, das eigene Gewicht nicht auf Amma zu verlagern. Die Hände sollen während der Umarmung auf den Armlehnen ihres Stuhls verweilen. Am Ende wird noch einmal explizit geboten, sich nicht an Amma zu drücken.

Bevor ich an der Reihe bin, verlässt Amma für eine kurze Pause die Bühne. Schnell wird der weiße Bezug ihres Stuhles gewechselt, die Kissen neu bezogen und luftig aufgeschlagen, der Boden gefegt, der Wecker neben ihrer Armlehne gereinigt und neu positioniert.

Ich beobachte die Szene mit gemischten Gefühlen. Der Kult um lebende Menschen war mir schon immer suspekt. Aber vielleicht geht es ja gar nicht um den Menschen. Was, wenn Verehrung und Überhöhung gar nicht der gepriesenen Person gewidmet sind?

Vielleicht geht es darum, das eigene Ego, die eigene Selbstüberschätzung abzuwerfen und sich stattdessen in Demut zu üben. Vielleicht ist das ehrfurchtsvolle Berühren des Bodens mit der Stirn vor Ammas Füßen eine wesentliche Lektion auf dem Weg zum inneren Frieden. Es ist zumindest ein Perspektivwechsel.

Ammas Pause währt nur wenige Minuten. In einen frischen, blitzblanken Sari gekleidet, betritt sie durch ein enges Spalier ihrer Anhänger erneut die Bühne. Es ist fast 22 Uhr und Amma umarmt bereits seit 12 Stunden. Akkordarbeit. Dennoch lächelt sie wie kein anderer im Raum und hat doch noch mehrere Stunden vor sich. „Where there is true love, everything is effortless.“, ist ihre wiederkehrende Begründung für ihr Durchhaltevermögen.

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Im Gegensatz zu Amma verunsichern mich die zahlreichen Assistenten, die den Darshan betreuen. Schnell soll es gehen, bitte genau so und nicht anders. Hier an der Markierung knien. Nein, nicht dort. Klebestreifen am Boden zeigen Richtung und Reihenfolge an, in der ich vorrücken soll. Der Weg zu Amma ist gespickt mit bösen Blicken und mürrisch gebellten Kommandos. Schließlich knie ich mit ein paar anderen Gästen schräg gegenüber von Amma, auf dem Boden zu ihrer rechten Seite. Im Reißverschlussverfahren rücken wir näher an sie heran.

Dann bin ich an der Reihe. Unerwartet drückt ein Assistent meine rechte Hand auf Ammas Armlehne, ein weiterer tut ebendies mit der linken, ein dritter Assistent drückt meinen Rücken sanft nach vorne, während ein vierter Assistent meinen Kopf, am Nacken packend, unsanft an Ammas Schulter presst. Amma drückt mich fest an sich, ihre Wange ist an meine geschmiegt, als sie mir drei Mal nacheinander „My love“ ins Ohr flüstert. Sie wiegt mich leicht in ihren Armen, ihr Duft steigt in meine Nase, ich spüre ihre Energie, die Hitze, die aus ihrem Körper strömt. Mein Herz rast.

Erneut werde ich grob am Nacken gepackt und nach hinten gezogen. Meine Sekunden mit Amma sind vorbei. Verwirrt mache ich Platz für nachfolgende Umarmungen und darf noch für einige Minuten in einer kleinen Traube neben Amma knien, ihr aus nächster Nähe zusehen, wie sie Liebe verströmt, lacht, tröstet und lehrt. Viele der hier Sitzenden meditieren mit nach oben gerichteten Handflächen, murmeln Mantras, schieben die Perlen ihrer Gebetsketten hin und her. Doch auch in dieser Traube ist die Zeit knapp und einer der unzähligen Assistenten fordert mich bald auf die Bühne zu verlassen.

Ich bin schon ein paar Tage im Amritapuri, als ich mich darin versuche, Mantras zu murmeln. Das ständig wiederholende Aufsagen der Mantras soll den Geist ruhig und von unnötigen Gedanken und Grübeleien fernhalten. Es ist ein Geschenk und bewährtes Mittel gegen die Unruhe der Welt, denn, so erzählt uns Amma eines Nachmittags, wenn man erst mal anfängt, über die Schwierigkeiten und Probleme seines Lebens nachzudenken, wird man kaum zu einem Ende kommen.

Wer weniger grübelt, so die Schlussfolgerung, habe weniger Probleme.

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Gruppe junger Menschen, Sonnenuntergang, Arabisches Meer, Kerala, Indien
Gruppe junger Menschen, Sonnenuntergang, Arabisches Meer, Kerala, Indien
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