Mérida, Venezuela, Titel
Vom Gleiten durch intellektuelle Sphären

Mérida

Als wir im chilenischen Iquique Ryan kennenlernten, war es um mich geschehen. Segelte dieser verrückte Kanadier doch jeden Tag mit seinem Gleitschirm über die Dächer der Stadt. Vom Aufwind getrieben, zog er zwischen Ozean und Wüste hin und her. Frei und losgelöst wie ein Vogel und mit einem traumhaften Ausblick. Man, was war ich neidisch und neugierig zugleich. Seitdem frisst die Sehnsucht vom Fliegen an meiner Seele. Und nun, ein paar Länder später, stehen wir im venezolanischen Mérida am Abhang des Berges Tierra Negra und schauen in die Tiefe.

Ignacio schlägt mir aufmunternd auf die Schulter. Gemeinsam wollen wir hoch hinaus. Es ist warm genug für den notwendigen Aufwind hier an den nördlichen Ausläufern der Anden. „Wird schon schief gehen“, zwinkert er mir zu und prüft noch einmal das Geschirr des Gleitschirms. Nur wenige Schritte von uns entfernt geht es 1.000 Meter in die Tiefe.

Ich ziehe den Gurt meines Sturzhelms noch etwas fester und denke über das Wort nach. „Sturzhelm“ ist keine besonders motivierende Bezeichnung. Bis jetzt hatte ich meine Nerven ganz gut im Griff, doch plötzlich klopft die Höhenangst von innen an meine Stirn und drückt Schweißperlen aus meiner Haut. Währenddessen zurrt Ignacio an meinem Hüftgurt und lässt erstaunlich viel Freiraum zwischen der Sicherung und meinen Beinen.

Gleitschirmfliegen in Venezuela

Mit den Geiern gleiten

Noch zweifle ich, ob das wirklich so sein muss, da hängt Ignacio schon an meinem Rücken und gemeinsam laufen wir auf den Abgrund zu. Zwei Schritte, drei, vier, fünf, dann verlassen meine Füße den Boden. Die Felskante, an der ich gerade ehrfürchtig in die Tiefe sah, zieht unter meinen baumelnden Beinen vorbei. Ganz weit unten erstreckt sich das Tal.

Adrenalin durchströmt meinen Körper, steigt in den Kopf und entweicht durch einen lauten Freudenschrei. Ich fliege! Wir gleiten entlang des Berges. Zur Linken die mit Gräsern und Büschen bewachsene, schroffe Wand und zur Rechten nichts als der weite Blick auf die Gipfel am Horizont.

Eine Schotterpiste windet sich durch die karge Landschaft. Die grüne Vegetation, die braune Erde, der graue Felsen – die Farben der Welt befinden sich da unten. Über mir breitet sich ein wolkenverhangener Himmel aus.

Wir sind nicht lange allein in der Luft. Bald ziehen mehrere bunte Gleitschirme um die Bergkuppe. Wir gleiten weg von der Wand und überfliegen in weiten Kreisen das Tal. Plötzlich ist die Landschaft unter uns nur noch schemenhaft zu erkennen. Keine Struktur, nur noch ein weit entfernter, gefleckter Teppich. Der direkte Weg zum harten Erdboden sind nun 1.000 Meter freier Fall.

Dem Blick in die Tiefe halte ich nicht lange stand. Meine Höhenangst meldet sich und gratuliert zu dieser fantastischen Aussicht mit einer Extraportion unbehaglichem Bauchkribbeln. Geier fliegen unter uns durch das Tal. Ich schaue hinab auf die großen Vögel und realisiere erst mit leichter Verzögerung, dass ich ihren Flug aus der Vogelperspektive betrachte. Ein Moment, über den ich noch Stunden später beseelt lächeln werden.

40 viel zu kurze Minuten gleiten wir durch die Luft. Damit ich nicht zu traurig bin, wirbeln die letzten Schleifen und Schlenker meinen Magen durcheinander und so bin ich trotz aller Euphorie gern wieder mit beiden Füßen auf festem Boden.

Gleitschirmfliegen in Venezuela
Gleitschirmfliegen in Venezuela
Gleitschirmfliegen in Venezuela

Mérida und der gute Ruf

Zusammen mit unserem Gastgeber, dem Architekturstudenten Hugo, schlendern wir wenig später durch die Straßen Méridas. Hier herrscht ein ganzjährig mildes Klima auf einer Höhe von 1600 Metern und auch die Bewohner der Stadt sind angenehm unaufgeregt. Begegneten wir gerade noch im heißen Maracaibo unbändiger Gastfreundschaft und nicht enden wollenden Schimpftiraden der Maracuchos, erleben wir in Mérida freundliche Gelassenheit.

Die kleine Andenstadt gilt als die Intellektuelle unter den Städten des Landes. Hier befindet sich die Universidad de Los Andes. Als zweitälteste Universität Venezuelas verfügt sie über einen ausgezeichneten Ruf und zieht Studenten aus dem ganzen Land nach Mérida. Jeder fünfte Einwohner lernt an einer der Fakultäten. Sie alle sorgen für eine lebendige, kultivierte Atmosphäre und natürlich auch für eine bestimmte Trinkfestigkeit.

Wir spazieren über die Plaza Bolivar, vorbei an der Kathedrale und schnurstracks in Richtung einer von vielen Trinkhallen der Stadt. Was im Ruhrgebiet das Büdchen und in Berlin der Späti ist, heißt in Mérida einfach nur Licorera, der Kiosk für den Alkohol. Hier finden sich bereits am frühen Nachmittag die ersten Kunden ein und auch wir öffnen nach unserem Ausflug in luftige Höhen ein kühles Bier.

Plaza Bolivar, Mérida, Venezuela
Couchsurfing in Mérida, Venezuela

So kommen wir ins Gespräch mit einem anständig Betrunkenen. Als dieser von unserem Geburtsland erfährt, ist er völlig aus dem Häuschen. Er sei Musikdozent an der Hochschule, erzählt er und verehre Bach über alles. Was nun folgt, ist ein mehrminütiger Monolog, dem wir nur unzureichend folgen können. Den Grundgedanken verstehen wir jedoch ganz klar: Bach ist der Beste.

Als der Wortschwall abnimmt, setzen wir unseren Stadtspaziergang fort. Hugo imponiert mit einer besonderen Idee. Er lädt uns in die Heladería Coromoto ein. Die Eisdiele eroberte ihren Platz im Guinnessbuch der Rekorde mit der größten Auswahl an Geschmacksrichtungen. Es heißt, dass knapp 900 verschiedene Eissorten im Angebot seien, von denen täglich etwa 60 Sorten angeboten werden. Neben Schokolade und Vanille gibt es auch Knoblauch, Bier, Forelle, Käse, Rindfleisch und schwarze Bohnen.

Von einem derartigen Geschmackserlebnis angezogen stehen wir jedoch vor verschlossenen Türen. Das Coromoto ist wegen Umbauarbeiten bis auf Weiteres geschlossen. So ist es spätestens jetzt beschlossene Sache, dass wir irgendwann einmal nach Mérida zurückkehren werden.

Die Oma, der Hund und Geschichten aus Mérida

Den Abend verbringen wir bei Hugos Oma und ihrem Hund Harry, einem Fellknäuel stattlicher Größe. Harry ist auf Anhieb unser Freund und auch die ältere Dame empfängt uns ausgesprochen herzlich. Als Übersetzerin lebte sie lange Zeit in den USA und schwärmt noch heute von Boston als der großen kultivierten, intellektuellen Stadt der Vereinten Staaten.

Doch lernen wir auch viel über das Mérida vergangener Tage. Über die Zeit, als die Straßen noch unbefestigt waren und die Bauern jeden Samstag aus den umliegenden Bergen auf ihren Eseln in die Stadt ritten, um ihre Waren zu verkaufen. Damals, als man sich zum Gruß noch an die Hutkrempe tippte und jeder jeden kannte.

Heute expandiert Mérida immer mehr und auch Hugo lebt mit seiner Familie bereits in einer neu geschaffenen Wohnsiedlung mitten im Wald oberhalb der Stadt. Den Weg dorthin rollen wir gediegen in einem Ford aus den 70er-Jahren. Alles ist eine Nummer größer und bequemer, als es heutzutage mit ruhigem Gewissen möglich wäre. Der Wagen stammt aus einer Epoche, in der Nachhaltigkeit nur ein Wort war. Auf eine Art beneide ich die damalige Zeit für ihre Unbekümmertheit in der Entwicklung bequemer Automobile und ich verstehe nicht, warum es in Pkws heute keine durchgehende vordere Sitzreihe mehr gibt.

Frau mit Hund
Ford Oldtimer in Mérida, Venezuela

Umgeben von Pinien und wilden Beeren sitzen wir nachts im Wohnzimmer. Hugo hat Freunde aus der Uni und Brombeerwein, eine Spezialität aus Mérida, mitgebracht. Bis in die frühen Morgenstunden laben wir uns an dem süßen Wein und spielen Pictonary; Begriffe zeichnen und erraten auf Spanisch.

Dann ist Samstag und wie eh und je Markttag in Mérida. Bauern verkaufen ihre Waren und was sie bis zum späten Nachmittag nicht losgeworden sind, hauen sie zu Schleuderpreisen raus. Wer nichts Spezielles braucht, ergreift nun die Chance des Augenblicks. Hugos Wocheneinkauf kostet plötzlich nur noch ein paar Euro. Auch wir genehmigen uns leckeren Kokossaft, saftige Melonen und süße Bananen.

Wenn dir dieser Artikel gefallen hat und du gerne mit uns auf Reisen gehst, dann unterstütze uns doch mit einem kleinen Trinkgeld. Spendiere uns ein Käffchen, Schokoladenkuchen oder ein anständiges Rambazamba – alles ist möglich.

Markt in Mérida, Venezuela
Markt in Mérida, Venezuela

Und jetzt du!

Um uns vor Spam zu schützen, bitten wir dich die markierten Felder auszufüllen. Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.