Affen in Jaipur, Hochzeit Rajasthan, Titel
Arrangierte Dekadenz und Traditionen

Eine Hochzeit in Rajasthan


6. Dezember 2020
Indien
Schreibe etwas

„Wisst ihr, es ist grad ziemlich stressig bei mir zu Hause. Wir bereiten eine Hochzeit vor und ich bin etwas beschäftigt. Aber kommt einfach vorbei. Hier sind so viele Gäste; euch kriegen wir auch noch irgendwo unter.“

Die kurzgehaltene Antwort auf unsere Couchsurfinganfrage in Jaipur, der pinken Stadt im Herzen Rajasthans, landet nur wenige Minuten nach dem Absenden im digitalen Postfach und versetzt uns in eine aufregende Ungewissheit. Haben wir vielleicht das Glück, an einer pompösen indischen Hochzeit teilzunehmen? Darüber hinaus an einer Hochzeit in Rajasthan, wo die Menschen mit ihrer Tradition und Hingabe selbst für indische Verhältnisse ausschweifende Feste feiern? Wo Unmengen an Goldschmuck als Mitgift vergeben werden, wo sich die Männer mit Turbanen und Schwertern schmücken, Frauen in knallbunten Saris umher schweben und indische Köstlichkeiten in gigantischen Töpfen vor sich hin köcheln? Das Profilbild unseres zukünftigen Gastgebers Radvin zeigt einen jungen Mann mit glatt rasiertem Gesicht, blitzenden Augen unter perfekt getrimmten Brauen und einem schelmischen Lächeln. Das und die obigen Zeilen sind alles, was wir wissen.

Ein paar Tage später erreichen wir ein dreistöckiges, weiß getünchtes Haus in Jaipur. Es ist bereits Nacht und wir sind nicht sicher, ob wir wirklich vor der richtigen Adresse stehen. Die Markierungen von Straßen und Hausnummern sind in Indien manchmal recht abenteuerlich, doch das metallene Eingangstor zum Grundstück steht offen und schüchtern treten wir hindurch. Vor dem Haus huschen dunkle Silhouetten von hier nach dort und wieder zurück. Schritt für Schritt nähern wir uns dem Gebäude, doch niemand scheint uns zu beachten. Aus der offenstehenden Wohnung im Erdgeschoss dringen Stimmen nach draußen. Durch die Tür schauen wir hinein. Mein Blick fällt auf das im simplen Rahmen hängende übergroße Foto eines älteren Mannes in strenger Militäruniform. Vermutlich das Familienoberhaupt. Zahlreiche Orden und Ehrenabzeichen zieren die Brust, ein mächtiger weißer Schnurrbart prangt im Gesicht. Auf dem Bild sehen wir Radvins Vater, denn hier sind wir in der Wohnung der Eltern angekommen.

Eine junge Frau begrüßt uns lächelnd und stellt sich als Shreeta, Radvins ältere Schwester vor. Ihre langen, dunklen Haare fallen zu einem Zopf gebunden über ihre linke Schulter, die in einer knallgelben Kurta steckt. „Radvin?“, erwidert sie erstaunt, als wir nach unserem Gastgeber fragen, „Nein, Radvin ist im Moment nicht hier. Der holt doch gerade seine Braut ab.“ Verblüfft starren wir Shreeta an. „Du meinst die Hochzeit hier ist Radvins Hochzeit?“ „Aber natürlich! Hat er euch das nicht gesagt?“ Unsere Unwissenheit bringt Shreeta zum Lachen. Wir müssen uns dagegen sammeln. Das Radvin höchstpersönlich der Bräutigam in dieser mehrtägigen Festlichkeit ist, in die wir gerade hineinstolpern, war uns nicht klar. Wir hatten zwar gehofft, ein wenig an den Traditionen, Ritualen und Verrücktheiten einer Hochzeit in Rajasthan teilhaben zu dürfen, aber nun sind wir plötzlich viel näher dran, als wir zu wünschen gewagt hätten.

Jaipur, Rajasthan, Indien
Blick auf Jaipur

Baraat, die Prozession des Bräutigams

„Heute wird Baraat gefeiert“, erklärt uns Shreeta. Es ist eine der wichtigsten vorehelichen Zeremonien im mehrtägigen Marathon traditioneller indischer Hochzeiten. Auf einem Elefanten schwankend, mit Schwert und Turban bestückt und in feinster Robe gekleidet, reitet Radvin zum bescheidenen Haus seiner zukünftigen Braut in einem der Dörfer, die Jaipur umgeben. Sämtliche männliche Familienmitglieder, Freunde der Familie und noch viel mehr Bekannte begleiten Radvin zu Fuß. Mit Gesang und Tanz prozessieren sie durch die Straßen, feiern den baldigen Bräutigam, der aus seiner erhobenen Position heraus allerdings nicht mitmachen darf. Radvin, der Bräutigam, muss sich konzentrieren. Mit ernster Miene reitet er dem Elternhaus seiner zukünftigen Frau entgegen, wo er mit Blumenschmuck und einer Puja, einer religiösen Zeremonie, geehrt wird.

Am nächsten Morgen treffen wir endlich unseren Gastgeber Radvin. Übernächtigt sieht er aus. „So eine Hochzeit ist wirklich Stress“, raunt er uns zu. „Aber in Indien gehören die Traditionen einfach dazu.“ Sein Lächeln ist müde. Ganz anders erscheinen dagegen seine Freunde, die wir an diesem Morgen ebenfalls kennenlernen und die Radvin mit einem aufgeregten Klaps auf den Hintern begrüßen.

Die Hochzeit unseres Gastgebers ist, wie die meisten Ehen in Indien, arrangiert. Manchmal ist Liebe dabei; meistens nicht. Doch das wird schon, ist ein Glaubenssatz, der sich hartnäckig in den Köpfen der Inder hält. Liebe kann man sich erarbeiten. Wichtig ist zunächst das Geschäft. Die Ehe ist in Indien ein Wirtschaftsvertrag zwischen zwei Unternehmen, die sich Familie nennen. Emotionen spielen eine untergeordnete Rolle. Oft kennen sich die zukünftigen Eheleute nicht einmal.

Gebäude der historischen Sternwarte Jantar Mantar aus dem 18. Jahrhundert in Jaipur

Auch Radvin hat seine Verlobte erst zwei Mal gesehen, immer im Beisein der Familien. Sein Vater, ein strenger, aber freundlicher Mann, hatte die Braut ausgesucht. Romantische Hochzeiten gibt es in Indien häufig nur in Bollywood. Doch Radvin, der im Französischen Institut der Stadt arbeitet und irgendwann in Paris leben möchte, hat ein ganz anderes Problem, das seine bevorstehende Ehe zu beeinträchtigen scheint. Radvin ist schwul.

Wie fühlt es sich für einen jungen schwulen Mann an, eine Frau zu heiraten, die er kaum kennt? Gedankenverloren zuckt Radvin mit den Schultern. „Meine Eltern haben mein Leben lang alles für mich getan. Sie haben mir alles ermöglicht, was ich machen wollte. Dass ich diese Frau heirate, ist der einzige Wunsch meines Vaters. Und natürlich werde ich ihm diesen Wunsch erfüllen.“

Radvins Worte klingen so überzeugt, dass ich ihm nichts entgegnen kann, obwohl tausend Gedanken durch meinen Kopf flitzen, die mir sagen, wie falsch das ist. Radvins Selbstverständlichkeit, mit der er den Wunsch seines Vaters akzeptiert, zeigt das in Indien weitverbreitete Pflichtgefühl gegenüber den Eltern. Ein Großteil der jungen indischen Generation steckt in einer ähnlichen Bredouille. Hochzeiten in Indien sind keine Sache zwischen Mann und Frau. Es sind soziokulturelle Angelegenheiten, die selbst über die Familien hinausgehen und ganze Nachbarschaften und Dorfgemeinschaften betreffen. Ansehen ist gerade im konservativen ländlichen Raum wichtig. Dazu gehört auch die Ergebenheit der Kinder zu ihren Eltern. Wer sich widersetzt, löst einen ungeheuerlichen Skandal aus.

Jantar Mantar, Jaipur, Rajasthan, Indien

Die Familie der Braut

Am selben Abend werden wir von Shreeta in Radvins Wohnung im zweiten Stock des Elternhauses gebracht. Die Wohnung ist leer geräumt; kaum Möbel, keine persönlichen Gegenstände. Was nicht hinausgeschafft wurde, ist mit einem dünnen, serviettenähnlichen dunkelblauen Stoff bedeckt. Heute Nacht kommt die Familie von Radvins Angetrauter Kaholie, vornehmlich die Frauen und Kinder aus dem Dorf, um die zukünftige Wohnung des Brautpaars zu begutachten. Die Verwandtschaft ist groß, und damit alle in die Wohnung passen, wurden die Möbel einfach entfernt.

Radvins baldige Ehefrau stammt aus einer niedrigeren Kaste. Das ist erwähnenswert, weil das hierarchisch organisierte, jahrhundertealte Kastensystem in Indien offiziell abgeschafft, aber in den Köpfen der Menschen noch immer präsent ist. Verbindungen zwischen verschiedenen Kasten sind selten. Wenn man jedoch keine finanziellen Sorgen hat, ist es durchaus von Vorteil, eine Frau aus einem der nahe liegenden Dörfer zu heiraten, so zumindest die rationale Meinung von Radvins Eltern. Sie sind sich der Dankbarkeit ihrer Schwiegertochter sicher, die nicht nur in eine finanziell bessergestellte Familie einheiraten darf, sondern auch die Chance bekommt, ihr Dorf zu verlassen und in einem schicken Haus in der großen Stadt zu wohnen. Die Heirat in einen höheren gesellschaftlichen Stand sollte Kaholie und ihre Familie mit Demut erfüllen, so die Ansicht ihrer Schwiegereltern.

Spät am Abend trifft Kaholies Familie ein, um das neue Zuhause des Brautpaars zu besichtigen. Dutzende Frauen und noch mehr Kleinkinder und weinende Säuglinge betreten gemeinsam die Wohnung. Plötzlich sind wir mitten drin in einer riesigen, lautstark schnatternden Menschenmenge. Wie es die Tradition verlangt, sollen die Gäste bewirtet werden, auch wenn eigentlich gar kein Platz vorhanden ist. Also sind in einer Ecke des Wohnzimmers für jeden Gast ein Einwegplastikbecher Wasser mit Aludeckel und ein Dreierpack Kekse bereitgestellt.

Umgehend greifen die Frauen nach den Snacks. Kekse werden in Kindermünder geschoben, der Müll landet auf dem Boden. Wir stehen eingepfercht in einer Ecke der Wohnung. Manchmal trifft uns ein entgeisterter Blick, so als wären wir eine ungehörige, neuartige Spezies. Das Spektakel dauert keine fünf Minuten, dann ist die Familie auch schon wieder aus der Wohnung verschwunden. Sie hinterlässt ein Schlachtfeld. Keksverpackungen und Einwegplastikbecher liegen kreuz und quer auf dem Boden. Zertretene Kekse und ausgespuckter Brei – eine Mischung aus Babysabber, Krümel und Rotz – kleben auf den Schutzservietten. Wasserlachen sickern langsam in den Stoff.

Bogenverzierung in Jaipur, Rajasthan, Indien
feine Steinmetzarbeiten schmücken historische Bauten in Jaipur

Hochzeitsvorbereitung

Später treffen wir Radvin im Garten seiner Eltern. Er wirkt kurz angebunden, ist blass und übermüdet. Unser Gastgeber teilt das Schicksal jedes indischen Brautpaares an diesen stressigsten und wichtigsten Tagen des Lebens. Dennoch ist Radvin auf liebenswerte Weise um unser Wohlergehen bemüht. Er geleitet uns in einen Raum, aus dem uns dichte Rauchschwaden entgegen dampfen. Ein Dutzend seiner Tanten sitzen in bunten Saris um zwei Wasserpfeifen herum. Ihre durchschimmernden Kopftücher haben sie über das gesamte Gesicht bis unters Kinn gezogen. Der Tradition entsprechend schützen sich die Frauen so vor fremden Blicken. Doch mittlerweile sind die Kopftücher vor allem Dekoration. Die durchsichtigen Stoffe in leuchtend fröhlichen Farben sind mit feinen goldenen Stickereien und Pailletten geschmückt. Selbst tief ins Gesicht gezogen, erlauben sie einen beinahe ungetrübten Blick auf die Außenwelt.

Wir sitzen eine Weile schweigend in der Frauenrunde. Uns fehlt die gemeinsame Sprache. Weder ihr Englisch noch unser Hindi reichen für ein Gespräch. Stumm vergnügen wir uns mit pantomimischem Hin und Her und fangen gemeinsam an zu lachen. Das Eis ist gebrochen. Wir teilen die Wasserpfeife, die so stark ist, dass ich augenblicklich zu husten beginne. Dem fröhlichen Ambiente fügen die kichernden Damen noch ein wenig Schadenfreude hinzu.

Am Morgen des großen Tages treffen wir Radvin auf der Dachterrasse seines Elternhauses. Hier sitzen wir gemeinsam mit ein paar Cousins und frühstücken Chapati, die auf einem offenen Feuer gegart werden. Radvin selbst kommt gerade von einer Zeremonie aus dem Tempel und ist gedanklich bereits bei der nächsten Veranstaltung. Unsere gemeinsame Zeit reicht nur für ein kurzes „Wie gehts, wie stehts?“

Auch Radvins Magen knurrt. Schnell schaufelt er sich im Stehen Reis in den Mund – Reste vom gestrigen Abend. Seit Tagen isst er nur noch Übriggebliebenes, was sich auch nach der Hochzeit nicht ändern wird. Dennoch werden Unmengen an Nahrungsmitteln einfach weggeworfen. Ein Umstand, der Radvin jetzt schon bitter aufstößt. Die Dekadenz beschäftigt ihn.

Die Gastgeber, traditionell die Familie des Bräutigams, stehen in der Pflicht, die mehrtägige Hochzeitsfeier im Überfluss auszustatten. Je mehr, desto besser. Eheschließungen sind in Indien Prestigeveranstaltungen. Die Gästelisten sind lang und jeder einzelne Gast soll fürstlich versorgt sein. Viele Inder verschulden sich nur, um während der Feiern gut dazustehen. Für Radvins Familie ist die Ausrichtung der Hochzeit aber augenscheinlich kein finanzielles Problem.

Jantar Mantar, Jaipur, Rajasthan, Indien

In wenigen Stunden ist es so weit. Nach einer endlosen Reihe von Veranstaltungen und Zeremonien findet heute Abend die große Feier zu Ehren Radvins und Kaholies statt. Es ist der Abschluss mehrerer festlicher Tage. Und auch wir lassen uns herausputzen. Morten wird ein rosafarbener Turban auf den Kopf gesetzt, dazu trägt er ein goldglitzerndes Gewand. Seine neuen Schuhe rollen sich an den Fußspitzen nach oben und erfüllen unsere Erwartungen an ein richtiges Maharadscha Outfit.

Ich hingegen werde von Radvins Schwägerin in ein Nebenzimmer gezogen. Das Ankleiden und Zurechtmachen der Frauen wird während solch großer Ereignisse in Indien regelrecht zelebriert und ist ein wichtiger und zeitaufwendiger Teil der Hochzeit. Die großen festlichen Saris, teilweise über acht Meter lange Stoffe, werden auf geschickte Weise gefaltet und mit stattlichen Sicherheitsnadeln befestigt, damit sie über den gesamten Abend nicht verrutschen. Es ist eine Arbeit, die am besten von mehreren Frauen gleichzeitig erledigt wird. Auch um mich herum schwirren drei Helferinnen. Mir wird Make-up aufgelegt, Goldschmuck gereicht und ein Bindi auf die Stirn geklebt. Anschließend drapiert eine der Frauen meine Haare, bevor mir ein mehrteiliger pinkfarbener Sari angelegt wird.

Ich bin zunächst skeptisch. Die leuchtend pinke Farbe scheint mir dann doch ein wenig zu auffällig, doch Radvins Großmutter spricht das letzte Wort, als sie bei der Farbwahl meines Saris um Rat gefragt wird. Es bleibt beim grellen Pink. Und natürlich behält Radvins Oma recht – denn auf der Hochzeit angekommen, tauche ich in ein Meer aus knallbunten Saris ein.

indische Hochzeit, Jaipur, Rajasthan, Indien

Die Hochzeitsfeier: Der Empfang

Wir erreichen das Festgelände gemeinsam mit Radvins Familie, die sich trotz des Trubels liebevoll um uns kümmert. Das streng dreinblickende Oberhaupt der Familie entpuppt sich als hervorragender Geschichtenerzähler. Er scheint der Einzige in der Familie zu sein, dem der ganze Stress nichts ausmacht. Entspannt ist er in den letzten Tagen von einer Veranstaltung zur nächsten spaziert und hat uns bei jeder Gelegenheit mit Anekdoten aus seinem Leben unterhalten.

Das Festgelände ist riesig, mindestens so groß wie ein Fußballfeld, und Dutzende Angestellte schwirren noch umher, um letzte Hand an die Dekoration zu legen. Üppiger Blumenschmuck rahmt eine Bühne. „Dort oben werden die Hochzeitsfotos geschossen“, erklärt Radvins Vater stolz.

Dann nimmt er uns zur Seite, zwirbelt an seinem prächtigen Schnurrbart und bittet uns lächelnd gemeinsam mit ihm die Gäste am Eingang zu begrüßen. Wir sähen so toll aus in unserer Tracht aus Jaipur, schmeichelt er uns, und außerdem werde Kaholies Familie bald eintreffen. Wir fühlen uns geehrt und sind zugleich erleichtert, eine Aufgabe zu haben, um nicht sinnlos auf dem riesigen Gelände herumzustehen.

Ich kämpfe ein wenig mit meinem Sari und habe noch nicht recht verstanden, wo ich ziehen muss, wenn mein leichtes Kopftuch rutscht, wo ich etwas feststecken muss, wenn der Stoff über meiner Schulter nach vorne fällt und warum zum Teufel sich mein Rock immer selbstständig macht. Radvins Vater erkennt meine Lage und hilft mit meinem Kopftuch. Anscheinend hat der alte Militärhase schon mehr mit Saris zu tun gehabt, als ich es mir vorstellen kann.

Gemeinsam mit Radvins Vater begrüßen wir Kaholies Familie, die wenig später zu Dutzenden erscheint, mit einem höflichen Namaste und vor der Brust gefalteten Händen. Als Zeichen des Respekts sollen wir unsere Hände möglichst hoch ansetzen, sodass die Fingerspitzen bis zum Kinn reichen.

Immer mehr Gäste strömen herbei und wir fragen uns, ob es wirklich eine gute Idee war, die Begrüßung zu übernehmen. Immerhin, der Einlass ist extravagant. Vorne an der Straße spielen Musiker auf ihren traditionellen Instrumenten und während die Gäste durch einen mit Lichterketten geschmückten Pfad auf das Eingangstor zusteuern, werden ihnen Lotusblüten von zierlichen jungen Frauen gereicht. Und dann, am Eingang, sehen sie uns, die Ausländer in der herrschaftlichen Tracht der Einheimischen.

Eingangsbereich, indische Hochzeit, Jaipur, Rajasthan, Indien
Eingangsbereich zum Festgelände
Musiker, indische Hochzeit, Jaipur, Rajasthan, Indien

Die Hochzeit: Das Brautpaar

Das macht bestimmt Eindruck. Unsere Namastes rufen jedenfalls bei vielen Ankommenden ungläubige und dennoch faszinierte Gesichtszüge hervor. Irgendwann werden wir abgelöst und schreiten durch das Meer bunter Saris. Es ist eine Mischung aus himmelblauen, knallpinken, kanarienvogelgelben, giftgrünen und orangefarbenen Tupfern, gepaart mit jeder Menge Goldschmuck und glänzenden bis zur Hüfte reichenden, geflochtenen Zöpfen. Die ebenfalls eleganten, glänzenden Kurtas der Männer haben gegen diese Pracht klar das Nachsehen.

Wir sind zwei von über 2.500 Gästen, die heute auf das Festgelände strömen. Radvins Familie zeigt sich großzügig, scheut keinen Aufwand. Begleitet von einer Militärkapelle und knackiger Marschmusik betritt das Brautpaar die Veranstaltung.

Radvin trägt einen roten Turban aus Samt, der mit goldenen Fäden und einer geschwungenen Reihe funkelnder Steine dekoriert ist. Dazu ist er in eine fein gearbeitete elfenbeinfarbene Kurta aus Seide gekleidet. Florale Stickereien veredeln den Stoff. Ein steifer, hoher Kragen ist ebenfalls mit goldenen und dunkelroten Verzierungen geschmückt. Um seine rechte Schulter liegt ein aufwendig gearbeiteter samtener Schal, Chunni genannt, der passend zur Farbe des Turbans gestaltet ist. Ein Schwert steckt in einer golden und schwarz glänzenden Scheide, die von seiner Hüfte baumelt und bis an die Wade reicht.

Kaholie trägt einen traditionellen roten Hochzeitssari. Der weite, bis auf den Boden reichende Rock ist mit goldenen Bordüren und Stickereien versehen. Ein seidenes Kopftuch ist am Hinterkopf befestigt. Neben zahllosen goldenen Ketten und schweren goldenen Ohrringen, trägt sie einen großen, dekorativen Nasenring, der bis über Mund und Wange reicht. Der Nath, wie der traditionelle Nasenring der Braut genannt wird, ist ein Zeichen junger Frauen, die vor ihrer Hochzeit stehen. Er ist der Göttin Parvati gewidmet, die die zukünftige Ehe segnen soll. Nach der Hochzeit wird der Nasenring durch einen kleineren ersetzt, der nun anzeigt, dass die Frau verheiratet ist.

Unzählige goldene Armreifen zieren die Unterarme Kaholies und verdecken fast die detailliert gezeichneten Hennamalereien, die ihre Hände und Arme schmücken. Das Mehndi wird in einem vorehelichen Ritual am Abend vor der Hochzeit aufgetragen. Ein geselliges, doch privates Ereignis, an dem nur enge Freunde und die Familie der Braut teilnehmen. Man sagt, je dunkler das Henna auf der Haut der Braut erscheint, desto mehr werde sie nach der Hochzeit von Ehemann und Schwiegermutter geliebt werden.

Zusätzlich zur üppigen Kleidung trägt das Brautpaar überdimensionale Blumenketten, die beiden jeweils bis zur Hüfte reichen.

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Die Hochzeit: Auf der Bühne

Zwei Fotografenteams und ein weiteres Kamerateam begleiten das Paar bei ihrem Gang zur Bühne. In professioneller Manier versuchen sie, den schönsten Moment einzufangen. Eine Drohne schwirrt laut surrend über unseren Köpfen. Ihre Aufnahmen werden direkt auf eine gewaltige Leinwand neben der Bühne übertragen. Die Familien begleiten das Brautpaar. Radvin steigen Tränen in die Augen. Ein wichtiger, ein emotionaler Moment. Ein Schritt der Abnabelung, ein Schritt in die Selbstständigkeit. Seine Emotionen gelten nicht der ihm angetrauten Frau, die Radvin kaum kennt. Was gerade in seinem Kopf vor sich geht, können wir nur erahnen. Kaholies Gedanken und Gefühle sind nicht auszumachen. Sie blickt konstant auf den Boden. Ein traditionell schüchternes Verhalten, das von der Braut erwartet wird.

Auf der blumengeschmückten Bühne angekommen beginnt für das Brautpaar die Arbeit. Ein vergoldetes Sofa steht in der Mitte der Bühne, an das sich Radvin und Kaholie klammern. Es ist Zeit für Erinnerungsfotos – erst mit der Familie in verschiedenen Positionen und Konstellationen, dann mit jedem der 2.500 geladenen Gäste. Die erfahrenen Fotografen veranschlagen ungefähr sechs Stunden.

Die beiden Militärkapellen, die rechts und links der Bühne positioniert sind, begleiten das Geschehen weiter mit zackiger Musik. Zwei Stunden später steht die Müdigkeit dem Brautpaar bereits deutlich ins Gesicht geschrieben, das Lächeln ist eingefroren, die Mimik steif.

Wir sind mindestens genauso beschäftigt. Jeder Gast möchte ein Selfie mit uns. In die traditionelle festliche Kleidung Rajasthans gehüllt, bieten wir die ideale Ablenkung für jene Hochzeitsgäste, die noch darauf warten, ihr Erinnerungsfoto mit den Frischvermählten schießen zu lassen.

indische Hochzeit, Jaipur, Rajasthan, Indien
eine Bühne, sechs Stunden Fotoshooting

Die Hochzeitsfeier: Das Menü

Irgendwann knurrt uns der Magen. Auf den verbleibenden drei Seiten des riesigen Geländes ist ein mindestens zweihundert Meter langes Büffet aufgebaut. Aromatische Curries blubbern in großen Töpfen und Schalen. Die gesamte nordindische Küche ist hier vereint: von Palak Paneer bis Malai Kofta, von Dal Mahkani bis zu Leckereien aus Auberginen, Okraschoten, Kartoffeln und Blumenkohl. Dazu gibt es die verschiedensten Reisgerichte, Briyani und Kashmiri Pulao, Chicken Tikka – im traditionellen Tandoori-Ofen zubereitetes Hühnchen – und duftendes, frisches Knoblauch-Naan. Selbst ein Paanhändler ist anwesend, der neben Betelblättern und Arekanüssen auch ein Schälchen Anis als Munderfrischer bereitstellt.

Eine Seite des Büffets ist ausschließlich den Desserts gewidmet. In dickflüssigem Zuckersirup warten Gulab Jamun, Rasgullah und Jalebi darauf, verspeist zu werden. Daneben erheben sich Gebirge aus Laddu und Barfi, bevor literweise Kheer und Kulfi in bodenlos scheinenden Töpfen angeboten werden. So scharf und geschmacksintensiv indische Hauptgerichte schmecken, so süß und klebrig sind die Nachspeisen. Es ist wie bei so vielem auf dem indischen Kontinent. Zunächst ist man schockiert, später kann man kaum genug davon bekommen.

Auf der Bühne werden noch immer Fotos geschossen. Ich beobachte, wie Radvin ein Glas Wasser gereicht wird, das er hinunterstürzt, um schnell wieder sein Fotolächeln aufzusetzen. Seine Braut wirkt, als könne sie ein Stück Schokolade vertragen. Während sich sogar die Fotografenteams abwechseln, wird dem Brautpaar keine längere Pause gegönnt.

Wir futtern uns hingegen durch das reichhaltige Büffet. Mit vollem Magen setzen wir uns zufrieden auf zwei Stühle, die zu Hunderten vor der Bühne aufgereiht, aber kaum besetzt sind. Die Gäste belagern das Büffet, essen oft schon in der Warteschlange ihre Teller leer, um am nächsten Trog direkt wieder zuzulangen.

Zwischen den Gästen huschen in elegante, schlichte Kurtas gekleidete Kellner, die auf silbernen Tabletts Häppchen und Getränke servieren. Noch ein Chai hier, eine Köstlichkeit aus getrockneten Früchten, Cashewkernen und Jaggery dort? Passt vielleicht sogar noch ein Gulab Jamun hinein? Die kleinen Häppchen halten unsere Laune auf einem konstant guten Level, obwohl die Stunden nur zäh dahin fließen und die donnernde Marschmusik bereits schwer zu ertragen ist.

indische Hochzeit, Jaipur, Rajasthan, Indien
Zusammenkunft während einer der vielen Vorfeiern zur Hochzeit
indische Hochzeit, Jaipur, Rajasthan, Indien

Die Hochzeit: Randnotizen

Mein persönliches Highlight der Hochzeitsfeier befindet sich in einem halb gefüllten, aufblasbaren Kinderplanschbecken. Mittendrin steht eine blonde Russin in einem Kostüm, das mich an Das Ding aus dem Sumpf erinnert. Spärliche Kleidung hängt in Fransen von ihrem Körper. Das Gesicht ist in verschiedenen grünen Schattierungen bemalt. Gartenschläuche sind mit Isolierband um ihre Beine und Arme gewickelt und lassen Wasser von den Extremitäten der jungen Frau plätschern, die wohl versucht, mit akrobatischen Bewegungen einen menschlichen Brunnen darzustellen. Oder einen weinenden Baum. Ich bin mir bei dieser Kunstinstallation nicht ganz sicher.

Wenig später stehen wir mal wieder vor dem Dessertbüffet, als Radvins Busenkumpel Shane uns in geheimnistuerischer Manier auffordert, ihm zu folgen. Wir quetschen uns durch die Menge und gelangen mit ihm in ein niedriges Gebäude am Rande des Veranstaltungsgeländes. Auf dünnen Bastmatten lassen wir uns zwischen einer Handvoll junger Männer nieder. Weil auf der Hochzeit kein Alkohol ausgeschenkt wird, feiern Radvins Freunde im Geheimen ihre eigene kleine Party. „Auf Radvin“, rufen sie und schon klingen ihre Gläser aneinander. Auch wir halten bereits eiskaltes Bier in den Händen, bevor uns, ganz indisch, mit Wasser verdünnter Whiskey angeboten wird.

Radvins Freunde kommen aus Frankreich, England und den Niederlanden. Von ihnen erfahren wir mehr über die hiesige Schwulenszene: Cedric, ein junger Franzose, kommt regelmäßig nach Indien. „In der Öffentlichkeit passiert hier gar nichts“, sagt er, „aber viele Inder sind gegenüber einem gleichgeschlechtlichen Abenteuer offen.“ Weil es in Indien erst nach der Ehe Sex gibt, haben viele heterosexuelle Männer so starkes Verlangen, dass es ihnen egal ist, mit wem sie Verkehr haben, solange sie den aktiven Part ausüben, behaupten die Freunde. Cedric nennt das Verhalten fluid – instabil, veränderlich. Shane geht noch weiter und erklärt, dass es nirgendwo so einfach sei, gleichgeschlechtliche Sexualpartner zu finden wie in Indien. „Wenn ich schätzen müsste“, so sagt er, „würde ich wohl 80 Prozent der indischen Männer überreden können, mit mir ins Bett zu steigen.“

Nach Bier und Whiskey kommt Schnaps in die Mitte der Bastmatten. Radvins Freunde sind bereits völlig betrunken. Aufgeregt reden sie durcheinander und weil wir ihren Gesprächen nicht folgen können, spazieren wir noch eine Runde um das Büffet.

Gerade greifen wir nach den großen glänzenden Tellern, da kommt Radvins Schwester Shreeta aufgeregt auf uns zu. „Euch habe ich gesucht“, ruft sie uns entgegen. „Ihr habt doch hoffentlich noch nichts gegessen, oder?“ Vorsichtig schiebt sie uns durch eine gläserne Tür. „Lasst es euch schmecken“, lacht sie und eilt davon.

Ein großgewachsener Inder mit hochgezwirbeltem Schnurrbart und leuchtend pinkem Turban führt uns zu einem flachen Tisch. Sitzkissen und Polstern sind darum gebettet. Im Schneidersitz machen wir es uns bequem. Einen Augenblick später werden uns köstlich cremige Currys in verschnörkelten goldenen Schälchen und knusprig frisches Naan serviert. Wir essen in einem Restaurant, das nur erlesenen Hochzeitsgästen zugänglich ist. Während draußen am Büffet schon leckere Speisen verteilt werden, wird hier drinnen Extravaganz im Maharadscha Stil zelebriert.

Mittlerweile ist der Abend vorangeschritten. Das Festgelände leert sich. Wer die Fotos mit dem Brautpaar gemacht und sich am Büffet satt gegessen hat, verlässt die Veranstaltung. Radvin und Kaholie stehen hingehen immer noch auf der Bühne. Radvin stopft sich bei einem Gästewechsel auf der Bühne kleine frittierte Teigtaschen – Samosas – in den Mund, bevor er sich mit trainiertem Lächeln in die fünfte Stunde des Fotomarathons aufmacht.

Nach weiteren zwei Stunden ist das Ende des großen Tages absehbar. Außer den Mitgliedern beider Familien sind kaum noch Gäste anwesend. Die Drohne über unseren Köpfen hört endlich auf zu surren und auch die Marschkapellen packen ihre Instrumente ein.

indische Hochzeit, Jaipur, Rajasthan, Indien
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Die Hochzeit: Schlusslicht

Nun, nach einem sechsstündigen Fotoshooting, ist anscheinend der richtige Moment gekommen, um die wichtigsten Fotos des Abends zu schießen: Braut und Bräutigam in gemeinsamer Pose. Das völlig ermüdete Brautpaar lächelt weiter tapfer in die Kamera. Doch Radvins wesentlich jüngere Frau ist schüchtern, traut sich nicht, ihren Ehemann anzufassen. Selbst auf die Anweisungen des Fotografen wagt sie nicht zu reagieren, bis dieser hinter seinem Stativ hervortritt und die Hand der Braut auf der Schulter ihres Ehemannes platziert. Dann sind auch die letzten Fotos des Abends im Kasten. Die Pflicht ist getan und urplötzlich macht sich Aufbruchstimmung breit.

Die Braut eilt schluchzend zu ihrer Familie, von der nun die offizielle Verabschiedung stattfindet. Die Mutter entlässt die Tochter in den neuen Lebensabschnitt. Die Trennung von der Familie, der Auszug aus dem Elternhaus wird tränenreich zelebriert – so will es die Tradition in Indien. Schluchzend und jammernd liegen sich Mutter und Tochter lange in den Armen. Die junge Frau, die nun mit einem ihr fremden Mann in ein neues Zuhause fährt, weint verzweifelt, doch die Trennung von ihrer Familie kann sie nicht verhindern.

Zeitgleich sitzt Radvin alleine im Restaurant und verschlingt sein Abendessen.

In verschiedenen Autos machen wir uns mit der Familie auf den Weg nach Hause. Radvin und Kaholie sitzen weder im selben Fahrzeug, noch kommen sie gemeinsam in ihrem neuen Zuhause an. Sie teilen nicht einmal dieselbe Wohnung. Während wir bei Radvin im zweiten Stock des elterlichen Hauses schlafen, bezieht Kaholie ein Zimmer im Erdgeschoss in der Wohnung ihrer Schwiegereltern. Radvin wird bald zum Studieren nach Paris ziehen. Bis er wiederkommt, wird Kaholie ihren Schwiegereltern im Haushalt helfen.

Wir verbringen noch zwei weitere Tage mit unserem frisch vermählten Gastgeber Radvin und seinen Freunden. Kaholie bekommen wir nicht mehr zu Gesicht. Die Wohnung ihrer Schwiegereltern verlässt sie nicht und, so erzählt uns Radvin, offenbar nicht einmal ihr Zimmer.

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Affen in Jaipur, Rajasthan, Indien

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