Die Anfänge waren harsch. Doch mittlerweile ist ein Leben in Auroville ein Leben in üppiger Natur. Im dichten aurovillianischen Wald liegen Äcker, Beete, Plantagen. Seit Anbeginn gehören Landwirtschaft und Lebensmittelversorgung zu den dringlichsten Aufgabenbereichen in Auroville. Wer sich hier dem Anbau verschreibt, macht es mit Leib und Seele. Krishna ist einer von ihnen. Seit mittlerweile 23 Jahren lebt der gebürtige Brite in der Stadt der Zukunft und verwirklicht seine Vorstellungen im Umgang mit der Natur.
Er ist einer der Gründer der Solitude Farm, einem zweieinhalb Hektar großen Landwirtschaftsbetrieb ganz in der Nähe des Visitor`s Centres – dem ersten Anlaufpunkt für all jene, die als Touristen den Weg nach Auroville finden.
Wenn man Krishna, groß wie ein Bär und genauso liebenswürdig, sprechen hört, spürt man die Energie und Hingabe, mit der er seit 20 Jahren die Farm leitet. Seine Philosophie geht dabei weit über den bloßen Anbau von Lebensmitteln hinaus. Krishna liegt viel daran, eine Beziehung zwischen Mensch und Nahrung zu schaffen – eine Beziehung zwischen Mensch und Natur.
Wer jemals mehr über Nahrungsmittel wissen wollte, als die Entfernung zum nächsten Supermarkt, der hängt gespannt an Krishnas Lippen. Woher kommt unser Essen? Wie viel Aufwand steckt in der Lebensmittelproduktion? Was erwarten wir von unserer Nahrung? Krishna bezieht zu allem Stellung. Um ihn herum wuchert es. Auf einem Breitengrad auf dem Bananen, Avocados, Mangos, Papayas, Guaven und Zitronen wachsen, ist das Nahrungsangebot reich. Cashewbäume spenden Schatten, Kürbisse wachsen zu riesigen Ballonen, Chilis und Tomaten gedeihen prächtig. Wilder Spinat wächst in verschiedenen Variationen. Die Natur entfaltet ihre Kraft.
Das Geschäft mit der Landwirtschaft
Doch die Solitude Farm ist eine seltene Ausnahme. Die Böden Indiens, auf denen moderne, industrialisierte Landwirtschaft betrieben wird, sind von Pestiziden und Chemikalien verseucht. Monokulturen verdrängen die natürliche Vielfalt auf den Feldern. Die Böden, aufgerissen, der sengenden Sonne und Erosion ausgesetzt, werden immer nährstoffärmer.
Künstlicher Dünger vergiftet die Böden auf lange Sicht und macht sie letztendlich unbrauchbar. Das ist kein indisches Phänomen – es ist die Triebfeder der globalen Landwirtschaft. Industrielles Saatgut verspricht großartige Erträge. Doch die unfruchtbaren Ernten treiben die Bauern in die Abhängigkeit von Konzernen.
Jedes Jahr sind sie gezwungen neues Saatgut einzukaufen, das auf immer schlechteren Böden gedeihen muss. Dafür benötigen die Bauern immer potentere Dünger und Pestizide, was die Böden weiter schädigt. Herkömmliches Saatgut hat in den derart belasteten Böden keine Chance auf Wachstum und würde zudem am starken Düngemittel und Pestizideinsatz zugrunde gehen. Eine Spirale, aus der es kein Entkommen gibt. Viele indische Kleinbauern gehen an der Politik internationaler Agrarkonzerne zugrunde. Sie sind hoch verschuldet und nicht wenige sehen nur einen Ausweg: Suizid.
All das ist bekannt, doch wenn Krishna über den Zustand der Landwirtschaft spricht, dann weckt er Emotionen; entlarvt in wenigen Worten vermeintlichen Fortschritt und Effizienz. „Die industrielle Landwirtschaft hat ihre Grenzen.“, sagt er, sie blende die Menschen und entferne den Konsumenten immer mehr von dem, was Essen natürlicherweise ausmacht.
Nichts tun für eine bessere Ernährung
Ganz entgegen diesem globalen Trend arbeitet Krishna auf seiner Solitude Farm. Inspiriert vom 2008 verstorbenen japanischen Bauern, Biologen und Verfechter der Permakultur Masanobu Fukuoka, praktiziert Krishna eine Landwirtschaft des Nichts-Tuns. Kein Düngen, kein Jäten, kein Pflügen, kein Einsatz von Pestiziden und kein Beschneiden der Bäume. Die Natur bleibt sich selbst überlassen. Lediglich bei Aussaat und Ernte, so die Theorie, greift der Mensch ein.
An manchen Stellen sieht die Solitude Farm deshalb auch aus wie ein Dschungel. Schlingpflanzen ranken an Baumstämmen empor, der Boden ist übersät von verschiedenen Spinatsorten, Kürbis- und Melonenpflanzen. Mais und Bohnen ragen in die Höhe. Die Pflanzen unterstützen sich gegenseitig. Sie halten den Boden feucht und schattig, oder dienen einander im Wachstum.
Krishnas Ackerland ist bunt bewachsen. Ein pflanzliches Miteinander statt isolierter Monokulturen. Hier herrscht ein natürliches, sich selbst erhaltendes Ökosystem, das die Saat vor Schädlingen schützt und zugleich den Boden mit Nährstoffen anreichert.
Nutz- und Heilpflanzen wachsen nebeneinander – ganzjährig, ununterbrochen. Permakultur ist das moderne Wort für eine Landwirtschaft, die bereits seit Jahrtausenden praktiziert wird. Egal ob bei den Mayas und Azteken in Zentralamerika, den Ureinwohnern Afrikas oder den asiatischen Bauern vergangener Jahrhunderte. Allein aus dem Beobachten der Natur leiteten sie erfolgreiche Anbaumethoden ab; lernten, welche Pflanzen es miteinander zu kombinieren galt, um ihre jeweiligen Eigenschaften füreinander auszunutzen.
Heute steht Permakultur für weit mehr als eine natürliche Landwirtschaft. Es ist eine Ethik, eine Lebenseinstellung im Einklang zwischen Mensch und Natur. Dem Boden, als gesunde Grundlage aller Lebensmittel, gilt hohe Priorität. Zugleich soll er allen Menschen zugänglich sein. Permakultur fordert ein Recht auf Boden für jedermann.
Wir schlendern mit Krishna über die Solitude Farm. Beinahe jede Pflanze ist hier nutzbar. Sei es als Lebensmittel oder Medizin. Die Ressourcen scheinen so unendlich wie Krishnas Begeisterung, wenn er von irgendeinem Baum oder Busch ein Blatt abreißt und es sich genüsslich in den Mund steckt.
Immer wieder schwärmt er von verwertbaren Pflanzen, die beinahe vergessen, überall in Indien wachsen. Doch kaum jemand nimmt sich ihrer an. In diese Hinsicht ist die Solitude Farm ein Refugium der Unbeachteten: Saftige, ätherische Blätter, vitaminreiche und heilenden Kräuter gedeihen im Überfluss.
In Auroville wird Ernährung zum Happening
Fukuokas Nichts-Tun-Methode, kombiniert mit der uralten Idee der Permakultur, funktioniert jedoch nur, wenn sich die Menschen auf saisonale und lokale Kost einlassen können. Wenn sie sich dem regionalen Angebot bewusst sind und sich darauf beschränken. Sämtliche Lebensmittel rund um das Jahr verfügbar zu machen, bedeuten lange Transportwege und maximale Produktionserträge unter Ressourcen verschwendenden und umweltschädigenden Bedingungen. Beides schließen Fukuokas Philosophie und Permakultur aus.
Um seine Überzeugung hinaus in die Welt zu tragen, ersinnt Krishna immer wieder neuer Projekte. Aktuell sind es die Zirkelgärten: kleine Parzellen mit einem Durchmesser von etwa fünf Metern. Auf minimalem Raum werden hier die unterschiedlichsten Nutzpflanzen angebaut. Ein Obstbaum steht im Zentrum, darum wachsen Stauden und Büsche, an den Rändern Bohnen, Hülsenfrüchte oder Kräuter. Irgendwann, so die Idee, sollen die Gärten an Familien oder Freundesgruppen vermietet werden, die gemeinsam die Gärten pflegen, ernten und zusammen essen. So wird die Lebensmittelbeschaffung zum gesellschaftlichen Ereignis.
Und sie lohnt sich auch finanziell. Wie das funktioniert, erklärt Krishna einheimischen Bauern in regelmäßig stattfindenden Seminaren. Seine Zuhörer kommen nicht nur aus der Umgebung, sondern selbst aus entfernten Bundesstaaten, um mehr über Permakultur und die Möglichkeiten ihrer Vermarktung zu lernen.
Im eigenen Restaurant der Solitude Farm werden die Früchte und Blätter, die Beeren und Knollen, die Körner und Samen, die Stängel und Blüten, an denen wir auf unserem Spaziergang über die Felder vorbei kamen, veredelt. In der offenen Küche wird gehackt, geschnitten, gemahlen, gestampft, püriert, gebraten, gekocht und gedünstet. Alles vegan, alles aus biologischem Anbau vor der eigenen Tür.
Wir sitzen an einem der Tische, schauen hinaus in das Grün, das uns mit all dem beschert, was nun vor uns auf Emaille-Tellern duftet. Leckeres Thai-Curry, indisches Thali mit kaum bekannten Zutaten. Seien es die Beeren des Pokastrauchs, Bananenstämme und –blüten, die Blätter der Süßkartoffel, verschiedene Sorten Okrabohnen, Auberginen, Chilis, Spinat und Bohnen, Sprossen, Ranken, Kalebassen oder Tapioka – die Köchinnen veredeln alles, was Krishna ihnen unter die Nasen hält.
So wird auf der Solitude Farm ein Bewusstsein für Lebensmittel geschaffen, die auf den Märkten im Land nur schwer oder gar nicht mehr zu finden sind. Selbst altes, traditionelles Saatgut, das einst die Bevölkerung in Indiens Süden ernährte, dann aber im Zeitgeist des „Höher, Schneller, Weiter“ verdrängt und vergessen wurde, verhilft Krishna zu neuer Blüte.
Die Gartenrevolution beginnt in Auroville
Krishna ist ein Gartenrevolutionär, einer der versucht in die Köpfe der Menschen vorzudringen. Doch das ist kein leichtes Unterfangen. Selbst in Auroville nicht. Wo das liebste Gemüse aus europäischer Gewohnheit noch immer die Kartoffel oder Blumenkohl ist und aus anderen Teilen Indiens importiert werden muss, haben es die Früchte des Meerrettichbaumes und Tamarinde noch immer schwer.
Doch mit lieb gewonnenen Gewohnheiten zu brechen ist nicht einfach. Wenn schon in Auroville die regionale und saisonale Ernährung nicht funktioniert, wie soll sie dann in einer Welt funktionieren, die sich weit wenige Gedanken um eine nachhaltige Lebensweise macht?
Projekte wie Krishnas Solitude Farm sind Wegweiser. Sie legen den Finger in die Wunde unserer Ernährungsgrundsätze und zeigen zugleich Alternativen auf. Für ihre Umsetzung müssen wir uns als Konsumenten jedoch umgewöhnen. Der Luxus, dass alles immer verfügbar ist, ist weder nachhaltig noch dauerhaft haltbar. Eine gesunde Ernährung aus gesunder Produktion bedeutet zunächst unseren Verzicht auf Überfluss.
Es steht außer Frage, dass wir das schaffen können – dazu reicht der Blick zurück in die nahe Vergangenheit. Massentierhaltung gibt es erst seit den 1950ern, von Chemikalien und Pestiziden verseuchte Böden unwesentlich länger, Monokulturen erst seit der Industrialisierung vor etwa 200 Jahren. Davor war die Lebensmittelproduktion wesentlich schonender und nachhaltiger, als sie es heute ist. Was uns in der Gegenwart am Verzicht hindert, sind allein Ego und Ignoranz. Beides lässt sich überwinden – und sei es noch so schmerzhaft.
Auroville, die größte internationale Kommune der Welt in elf Teilen
Teil1: Die Idee einer besseren Welt
Teil 2: Auf den ersten Blick
Teil 3: Leben in der Stadt der Zukunft
Teil 4: Gesundes Essen für gesunde Körper
Teil 5: Nachhaltiger Hausbau im Wald
Teil 6: Alternative Bildung in der Schule des Lebens
Teil 7: Die Stadt der Zukunft und die Dörfer
Teil 8: Spirituelle Wahrheiten
Teil 9: Die Sache mit den Touristen
Teil 10: Die Utopie der Widersprüche
Teil 11: Was war und was kommen mag
Wenn dir dieser Artikel gefallen hat und du gerne mit uns auf Reisen gehst, dann unterstütze uns doch mit einem kleinen Trinkgeld. Spendiere uns ein Käffchen, Schokoladenkuchen oder ein anständiges Rambazamba – alles ist möglich.
Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.
Wunderbar interessant und super zum Lesen!