Bäume, nichts als Bäume! Riesige Gestalten, die sich mächtig in die Höhe recken. Unter ihrem dichten Blätterdach riecht es nach feuchter Erde und verrottenden Pflanzen. Es ist beinahe still, nur der Ruf der Gibbons dringt aus der Ferne durch das Geäst herüber. Der Wald wird aufgeteilt. „Ich bin hier, bleib du da“ rufen sie sich gegenseitig zu. Hier im Taman Negara, einem tropischen Regenwald und Naturschutzgebiet in Malaysia, machen sie das bereits eine ganze Weile.
Über ausgetretene Pfade spazieren wir durch eine Vegetation, die ihren Platz einnahm, als die Welt noch ein real existierender Jurassic Park war. Der Wald war schon immer da, lange schon bevor der Tyrannosaurus auf Beutejagd ging. Etwa 130 Millionen Jahre, heißt es, steht der Wald an dieser Stelle. So alt ist kein anderes Waldgebiet auf unserem Planeten. In all dieser Zeit ist viel geschehen. Es gab Eiszeiten, Klimaschwankungen, Veränderungen des Meeresspiegels, aber hier zwischen den Bäumen auf der Malaiischen Halbinsel blieben die Verhältnisse stabil. Die Tier- und Pflanzenwelt konnte sich beinahe ungestört entwickeln, was den Taman Negara zu einem besonders artenreichen Wald macht.
Leoparden pirschen sich im Dickicht an Wildschweine und Hirsche heran, Elefanten knacken durch das Unterholz, Affen schwingen über ihnen durch die Baumkronen. Selbst vom Aussterben bedrohte Arten wie der malaysische Tiger und der Schabrackentapir finden im Nationalpark einen Lebensraum. Der Taman Negara bietet ihnen ausreichend Platz, um vom Menschen ungesehen und vor allem ungestört durch den Wald zu ziehen. Auch im tropischen Malaysia ist das keine Selbstverständlichkeit, denn hier, wo es vor wenigen Jahrzehnten noch beachtliche Primärwälder gab, werden im großen Stil Ölpalmplantagen angelegt. Malaysia ist heute der weltweit zweitgrößte Produzent und erntet jährlich etwa eine Million Tonnen der Ölpalmfrucht. Um den Taman Negara schnürt sich ein gewaltiger Gürtel monokultureller Landwirtschaft.
Die Macht des Waldes
Eigentlich bin ich noch zu müde für den Zauber der Natur, für das Zirpen der Insekten, das Krabbeln der Käfer und Ameisen und den lautlosen Schlägen der Schmetterlinge. Der Nebel hat sich gerade erst vom Tahan Fluss gelöst, der in der Nähe sanft dahin plätschert. Doch Wald ist ein ziemlich gutes Wohlfühlprodukt. Ganz unaufgeregt. In ihm fühle ich mich schnell lebendig. Die Bäume dämpfen die Umgebung, filtern Geräusche, versperren die Sicht auf dass wir nicht jeden sehen müssen, der genauso wie wir durchs Gebüsch krabbelt. Wald ist angenehm, nicht zu heiß, nicht zu kalt, wohl temperiert und bedingungslos. Er steht rum, raschelt ein bisschen, aber sonst macht er nichts. Gar nichts. Ist einfach nur da. Baum für Baum. Mal huscht ein Eichhörnchen durchs Geäst, mal entlässt ein Nashornvogel seinen markanten Ruf über die Wipfel. Der Rest ist ganz ruhig, stilvoll. Der Wald zieht uns auf seine eigene Weise immer tiefer in sich hinein.
Wir wandern zwischen Bäumen und Farnen umher, über Wurzeln und Bäche, bergab, bergauf. Stacheliger Rattan klettert lianengleich überall umher. Aus den Stämmen werden Korbwaren und geflochtene Möbel gefertigt. Gedanken bewegen sich in den grünen Bereich. Ob das diese viel besungene Waldeinsamkeit ist, die nicht nur in der deutschen Romantik, sondern auch im Mönchtum des Hinduismus und Buddhismus Relevanz besitzt? Wir sind weder Asketen noch Einsiedler, doch der Wald wirkt auch auf uns, füllt die inneren Akkus ganz ohne Ladekabel. Wireless sozusagen.
Der Taman Negara, vier Mal so groß wie Hongkong, ist ein hügeliges bis bergiges Gebiet, dessen höchster Gipfel, der Gunung Tahan, den Brocken im Harz um mehr als eintausend Meter überragt. Wer tief in den Dschungel hinein möchte, braucht einen Guide. Wer den Wald erleben möchte, braucht nur sich selbst. Mehrere Wanderwege führen am südlichen Ende des Taman Negara durch den Nationalpark.
Wir folgen Plankenwegen und erdigen Pfaden mitten durch den Regenwald. Der Morgennebel ist bereits bis zum Blätterdach aufgestiegen und löst sich dort langsam auf. Die ulkigen Rufe der Gibbons verstummen. Ihr Revier ist für den heutigen Tag abgesteckt. Dafür lärmen nun ein paar Makaken in den Bäumen. Unten auf dem Waldboden spaziert ein Fasan über den Weg und schlüpft schon bald zwischen Busch- und Strauchwerk zurück in die Wildnis.
Vom Ufer des Tahan biegen wir ins Innere des Waldes und je tiefer wir hineingeraten, desto feuchter wird es. Hügel auf und Hügel ab führt der Weg vorbei an Salzlecken und über Bachläufe. Schon am Morgen beginnt der Wald zu dampfen und treibt uns den Schweiß aus den Poren. Doch die Anstrengung tut gut, Natur entschädigt. Nach etwa vier Kilometern gabelt sich der Weg. Eine Treppe kreuzt den erdigen Pfad, führt linker Hand hinauf und rechter Hand hinab. Wir folgen den Stufen nach oben. Sie führen zum Bukit Terisek, einer 334 Meter hohen Hügelkuppe, die über weite Teile des Regenwaldes hinausragt.
Kurz vor der Spitze blitzt ein heller Fleck von einem Baumstamm herüber. Dort drüben, vielleicht fünfzig Meter entfernt, klammert sich ein Riesenhörnchen nur ein paar Meter über dem Erdboden an die Rinde. Beinahe einen Meter misst es wohl von der Nasen- bis zur Schwanzspitze. Ein erstaunliches Exemplar, das so weit unten eigentlich nichts zu suchen hat, denn normalerweise leben die Riesenhörnchen in zwanzig bis vierzig Metern Höhe.
Das Riesenhörnchen vor uns ist ein Blasses Riesenhörnchen, eine Unterart, die lediglich auf der Malaiischen Halbinsel sowie auf Sumatra und Borneo beheimatet ist. Der hellbraune Farbton des Fells hebt sich deutlich vom dunklen Stamm an, an dem es rasch hinaufklettert und Schwups aus unserem Blickfeld verschwindet.
Wenig später stehen wir am ersten von zwei Aussichtspunkten des Bukit Terisek. Der Blick geht nach Süden, wo in einiger Entfernung der Fluss Tembeling versteckt zwischen den Bäumen mäandert. Doch weit spannender ist das Panorama vom zweiten Aussichtspunkt, der etwa zehn Minuten entfernt liegt. Soweit das Auge reicht, breitet sich der Regenwald aus. Im Schatten ausladender Kronen blicken wir auf ein undurchdringliches Grün, das im ersten Moment ganz einheitlich wirkt. Doch dann heben sich die verschiedenen Färbungen im Sonnenlicht ab und geben ein fantastisches Bild des enormen Waldes. Ein paar Vögel steigen weit entfernt aus den Baumwipfeln auf und ganz weit weg, im Dunst versteckt, erhebt sich der Gunung Tahan im Nordwesten des Taman Negara.
Auf dem Rückweg folgen wir den Treppen, die uns bis ans Ufer des sedimentreichen, braun gefärbten Tembeling und zum Besucherbüro des Nationalparks führen. Zwei Warane schleichen ganz in der Nähe durch einen sumpfigen Bereich des Waldes. Makaken tollen ungeniert knapp über unseren Köpfen in den Bäumen, klammern sich an Äste, hocken auf dem Boden, fressen Früchte. Hier im Wald sind sie viel friedlicher und hübscher als ihre garstigen und struppigen Verwandten in den Städten und Metropolen Süd- und Südostasiens.
Kuala Tahan, das Tor zum Taman Negara
Am Tembeling angekommen, setzen wir mit einem Fährmann und seinem schmalen, wendigen Boot hinüber ans gegenüberliegende südliche Flussufer. Hier liegt die malaiische Siedlung Kuala Tahan. Sie befindet sich bereits außerhalb der Grenzen des Taman Negara am Zusammenfluss des Tahan mit dem Tembeling. Schwimmende Restaurants sind am Ufer befestigt, in denen mäßige Gerichte serviert werden. Dahinter reihen sich einfache Bungalows und Gasthäuser aneinander.
Kuala Tahan ist das Haupttor zum Taman Negara. Wer den alten Wald besuchen will, macht sich meist hierher auf den Weg. An den Wochenenden und in den Schulferien, so heißt es, kommen einheimische Besucher zu Hunderten, doch in diesem Moment wirkt der Ort verschlafen. Auf lediglich einer Handvoll staubiger Straßen sind wir beinahe allein unterwegs.
Kuala Tahan ist eine Sackgasse und nur über eine einzige Straße zu erreichen, die über Dutzende Kilometer hinweg durch schier endlose Ölpalmplantagen führt. Während drüben, am nördlichen Ufer des Tembeling die Natur zu explodieren scheint, sich zu einem vielfältigen Lebensraum aufschwingt, bestimmt diesseits des gemächlich dahinfließenden Wassers öde Monokultur die Umgebung. Die Böden sind ausgelaugt. Ölpalmen dulden keine Konkurrenz um die Nährstoffe.
Anders ausgedrückt: In Kuala Tahan endet die Monotonie der industriellen Agrarflächen. Ein Sprung über den Fluss und die Fesseln der zivilisatorischen Moderne scheinen gelöst. Im Taman Negara spielt der Mensch eine vermeintlich untergeordnete Rolle. Lediglich ein paar kleine Siedlungen der Orang Asli befinden sich auf seinem Gebiet.
Die Orang Asli
Orang Asli ist die malaiische Bezeichnung für die Ureinwohner des Landes. Es bedeutet etwa „ursprünglicher Mensch“ und ist ein Sammelbegriff für achtzehn verschiedene indigene Völker, die in Malaysia noch 150.000 Mitglieder umfassen. Sie leben als Jäger und Kleinstbauern in den Wäldern der Malaiischen Halbinsel und folgen häufig noch den animistischen Traditionen ihrer Vorfahren, die bereits seit vier Jahrtausenden hier heimisch sein sollen.
Von Kuala Tahan ist es möglich Orang Asli-Siedlungen im Taman Negara zu besuchen. Es wäre ein tolles Erlebnis, könnte man meinen. Wir würden Einblick gewinnen, in die natürliche Lebensweise, in Jagdtechniken, in Bräuche und Traditionen. Wir lassen es sein. Den gekauften Kontakt zu indigenen Menschen, die außerhalb unserer Zivilisation durchs Leben gehen, haben wir selten als angenehm empfunden. Stattdessen hatten wir oft das Gefühl, dass sich Menschen zur Schau stellen, zur Schau gestellt werden. Wie in einem Freiluftmuseum. Ein bisschen Anstarren, eine kleine Vorführung in traditioneller Kleidung, Fotos von den „Wilden“. Das Gefühl von kolonialem Voyeurismus ist hier nicht mehr nur Beigeschmack, sondern erfüllt Mundraum und Rachen, lässt den Gaumen nicht mehr los, geht hinab in den Magen. Bis zum Erbrechen.
Natürlich lässt sich mit wirtschaftlichen Gründen für derartige Veranstaltungen argumentieren. Besucher bringen Geld in die Gemeinschaften, das sie brauchen, weil ihnen nicht zugestanden wird, ohne Geld zu leben. Weil ihnen nicht zugestanden wird, das Leben, wie sie es seit ungezählten Generationen kennen, ohne Repressalien fortzuführen. Weil es nicht vorgesehen ist, derartige Gemeinschaften sich selbst zu überlassen. Die Perspektive ist immer gleich: Wir sind fortschrittlicher, moderner, technischer; das müsst ihr auch werden, weil es das beste für euch ist. Vielleicht ist diese Perspektive nicht immer richtig.
Die Orang Asli haben den ersten Kontakt mit Fremden im zehnten Jahrhundert, als indische Händler die malaysische Küste und das Hinterland erreichen. Es ist keine gute Wendung der Geschichte. Schon wenig später setzt sich das auf Sumatra gegründete Reich Srivijaya auf der Malaiischen Halbinsel fest und handelt die Orang Asli als Sklaven. Es ist eine Praktik, die das Sultanat von Melaka ab dem fünfzehnten Jahrhundert weiter intensiviert.
Die europäischen Kolonisatoren haben dagegen kaum Interesse an den Orang Asli. Weder ökonomisch noch strategisch machen sie oder der Wald, in dem sie leben, etwas her. Dagegen gelten sie als primitiv und rückständig. Dann, Malaysia ist nun unabhängig, erhalten die Orang Asli zwar Bürgerrechte, sollen aber nach dem Wunsch der Regierung möglichst zum Islam konvertieren. Außerdem erhöht der wirtschaftliche Aufschwung des Landes den Druck auf die indigenen Völker. Ihre Heimat, der Wald, wird großflächig gerodet und durch Monokulturen, vor allem Ölpalmplantagen, und Bauflächen ersetzt. Entschädigt wurden die Orang Asli meist nicht. Stattdessen ziehen sie sich wie hier an den Rand des Taman Negara zurück und zeigen Touristen, wie sie vermutlich leben würden, wenn sie nicht den Ambitionen der modernen Welt ausgesetzt wären.
Im Hochstand
Am späten Nachmittag kehren wir zurück in den Taman Negara. Wir haben die Hoffnung auf weitere Tierbeobachtungen nicht aufgegeben und wandern zu einem Hochstand in der Nähe des Flusses. Er ist auf eine Salzlecke ausgerichtet und mit etwas Glück hoffen wir irgendein Wild, vielleicht sogar ein Tapir oder ein Stachelschwein zu erblicken.
Geduld und Ruhe braucht es, aber beides ist im Hochstand nicht vorhanden, denn mit uns erreicht eine Gruppe ergrauter Ornithologen den Ausguck. Sie sind mit den größten Objektiven, Stativen und Ferngläsern ausgestattet, die wir seit Langem gesehen haben und machen sich sofort daran, ihre Ausrüstung in Position zu bringen.
Mit der Ruhe ist es vorbei. Es wird getuschelt, geraschelt und geklappert. Vor allem ein Mann aus der Gruppe ist mit dem eigenen Gehör nicht mehr zuverlässig in Verbindung. Ansprache und Hinweise versteht er nur in lauten, deutlich artikulierten Worten. Es ist verflixt. Immerhin schwingen sich ein paar Vögel in der beginnenden Dämmerung über die Kronen des Regenwaldes. Spannender sind jedoch die beiden Feuerrückenfasane, die ganz unvermittelt unter dem Hochstand auftauchen und im Untergrund nach Würmern scharren. Es sind schöne Tiere mit blauem Federkleid und jeweils einem kupfernen Fleck auf Brust und Rücken. Auch der Feuerrückenfasan leidet unter dem Verlust seines Lebensraumes durch rigorose Abholzung der Tieflandwälder. Hier im Taman Negara scheint er sich allerdings wohlzufühlen. Ganz unbefangen schreiten die Fasane zwischen den nahen Büschen umher, lassen sich auch von der Geräuschkulisse auf dem Hochstand nicht irritieren.
Doch nach ein paar Minuten sind die beiden auch schon wieder im Dickicht verschwunden. Es wird dunkel im Dschungel, dem wir nun den Rücken kehren. Eine letzte Überfahrt über den Tembeling, ein letzter Blick zurück auf das älteste Waldgebiet der Welt, dann sind wir wieder in Kuala Tahan und vor uns breiten sich gigantische, kilometerlange Ölpalmplantagen aus, die in winzig kleinen Portionen in Schokoriegeln, Seifen, Cremes und vielen anderen Dingen des täglichen Bedarfs unser Leben bereichern.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.