„Schlafen. Schlafen. Einfach nur schlafen.“ In meinem Kopf dreht sich ein und derselbe stumpfe Gedanke immer und immer wieder. Er kreist um die Synapsen meines Hirnes und hypnotisiert mich von Innen.
Wir sind einfach nur müde. Es ist kurz nach Mitternacht. 14 Stunden auf türkischen Fernstraßen liegen hinter uns. 14 Stunden, in denen wir beinahe ausgeraubt wurden, im Geschwindigkeitsrausch unserer Mitfahrgelegenheiten gefangen waren und nur mit viel Glück einer Frontalkollision im dichten Nebel entkamen.
Zu viel Wahnsinn in zu kurzer Zeit. Körper und Geist wollen sich nur noch erholen und in Gedanken liege ich schon eingemummelt unter einer dicken Daunendecke, umgeben von weichen Kissen – flauschig und wohlig ins Reich der Träume hinein dämmernd.
Doch unsere Ankunft in Adıyaman gipfelt zunächst in enthusiastischer Fußballfachsimpelei. Soeben hat Trabzonspor Kulübü, der Sportklub Trabzons, mit Galatasaray einen der drei übermächtigen Klubs aus Istanbul mit 0:3 vom Platz gefegt und unser Gastgeber Murat springt noch immer voller Freude durch seine kleine Wohnung. Unentwegt liebkost er das dunkelblaue T im bordeauxfarbenen Wappen auf seinem Trikot.
Der türkische Fußball ist recht langweilig. Ein bisschen wie der aus Spanien, nur mit weniger Klasse gesegnet. Die Titel und vorderen Ligaplätze des Landes werden regelmäßig an die Metropole am Bosporus vergeben. Doch an diesem Tag leistet Trabzonspor wie ein kleines gallisches Dorf Widerstand gegen die Dominanz aus Istanbul.
Die Euphorie und Freude wird allerdings getrübt, denn Murat ist nicht allein. In der Hochstimmung sitzt ein Häufchen Elend auf der Couch, auf der wir liebend gerne in seligen Schlaf versinken möchten. Murats Freundin.
Mit auffallend leidendem Blick krümmt sie sich jedes Mal vor Schmerzen, sobald sie sich beobachtet fühlt. Brachiale Magenkrämpfe machen es ihr unmöglich zu kommunizieren. Selbst ein „Hallo“ zur Begrüßung bekommt die Arme nicht über die Lippen. Zum Glück hat sie noch genügend Kraft, um uns im Minutentakt mitzuteilen, dass ihr nur noch im Krankenhaus geholfen werden kann.
Irgendwann ist auch Murats Elan verflogen. Er streift sich das eben noch stolz getragene Trabzontrikot vom Leib und macht sich zusammen mit seiner plötzlich gar nicht mehr so leidenden Freundin auf den Weg in die nächste Klinik. Mittlerweile ist es ein Uhr morgens.
Wir machen es uns auf der Couch gemütlich und fallen in Sekundenschnelle in tiefen Schlaf. So verpassen wir, wie Murat samt Freundin gegen vier Uhr ergebnislos zurück nach Hause kommt. Offenbar waren die Magenschmerzen dann doch nicht lebensbedrohlich.
Der nächste Tag gehört uns allein. Murats Freundin spricht immer noch nicht mit uns und verzichtet selbst auf das von Murat zubereitete gemeinsame Frühstück. Stattdessen beginnt sie hinter der verschlossenen Tür des Schlafzimmers einen lauten Streit mit unserem Gastgeber, was dieser beschämt lächelnd mit den Worten kommentiert: „She is so cute when she is angry.“ Wir beschließen den beiden etwas Zeit für sich und uns einige Zeit ohne Murats Freundin zu gönnen.
Wir verlassen die Wohnung und machen uns auf den Weg zum berühmten Berg Mount Nemrut und dem größenwahnsinnigen Überbleibsel eines Königs und seines Reiches, welches in den Fluten der Vergessenheit versank.
Murat ist zu sehr mit den emotionalen Schwankungen seiner Freundin beschäftigt, als dass er uns eine Wegbeschreibung geben könnte und so laufen wir ohne Plan durch die Außenbezirke Adıyamans. Doch schnell geraten wir an eine Gruppe Schuljungen, die ganz aus dem Häuschen ist, dass sie uns zum Busbahnhof dirigieren darf. Es stellt sich jedoch bald heraus, dass die Jungs gar nicht so genau wissen, wohin sie uns eigentlich führen sollen. Doch wie es der Zufall will, treffen wir ihren Englischlehrer, der uns mit „Hallo Kollege“ grüßt und uns kurzerhand in seinem Auto zur Busstation fährt.
Mit dem lebensfrohen, redseligen Mann, der einige Jahre in Frankfurt lebte, schließen wir während der kurzen Fahrt zur Bushaltestelle eine innige Freundschaft, verabschieden uns mit einer brüderlichen Umarmung und dem Versprechen uns irgendwann in Deutschland wiederzusehen – Inshallah, wenn Gott es will.
Die einstündige Busfahrt nach Kahta in die Nähe des Mount Nemrut vergeht schnell. Da es dort jedoch an weiteren Transportmöglichkeiten mangelt, stehen wir erneut am Straßenrand und machen das, was wir am besten können: Trampen.
Es dauert auch nicht lange und ein etwas in die Jahre gekommener PKW hält. Der junge Mann am Steuer winkt uns freudig herein und zu dritt brausen wir bis ins 30 Kilometer entfernte Narince, vorbei an weiten Feldern und Weideflächen. Im Fahrzeug wackelt und klappert alles, was nicht an der Karosserie festgeschweißt ist – Fenster, Türen, Armaturenbrett, Handschuhfach. Doch die Soundanlage ist neu und türkische Folklore kämpft gegen die fahrzeugeigene Geräuschkulisse.
Wir erreichen Narince am Fuß des Mount Nemrut und schlendern bald darauf in Richtung des Berges. Hier sind wir ganz allein. Nichts als grüne Wiesen, ein paar Ziegen und Schafe und eine einsame, sich langsam den Berg hinaufschlängelnde Straße.
Schon von weitem richtet sich unser Blick auf die schneebedeckte Kuppel des Mount Nemrut. Etwa 2.000 Jahre ist es her, als Antiochos I, seines Zeichens König des Reiches Kommagene, eine wahnwitzige Idee ersinnt. Ungefähr so muss es abgelaufen sein:
Irgendwann im 1. Jahrhundert vor Christus liegt Antiochos I auf einem weich gepolsterten Diwan in seinem Palast, lässt sich Trauben in den Mund stecken und den freigelegten Bauch streicheln. Genüsslich blinzelt er in die Sonne.
Antiochos kleines Reich erstreckt sich zwischen Taurusgebirge und Euphrat. Es liegt strategisch wertvoll zwischen dem mächtigen Römischen Reich im Westen und dem damals ebenfalls einflussreichen, aber im Laufe er Zeit vergessenen, Partherreich im Osten, im heutigen Iran.
Von beiden Seiten wird um die Gunst Antiochos‘ geworben und so wachsen Reichtum und Überfluss in seinem Haus.
Dem König steigt so viel Zuwendung aber offensichtlich zu Kopf, denn eines Tages trommelt Antiochos seine Architekten, Baumeister und Steinmetze zusammen, gibt Anweisungen und erwartet Ergebnisse. Doch was er von seinen Untergebenen verlangt, bereitet vielen Unbehagen. „Antiochos ist verrückt geworden“, tuschelt man immer wieder hinter vorgehaltener Hand. Nichtsdestotrotz werden Antiochos Anweisungen befolgt.
An der Spitze des Mount Nemrut werden zwei ausladende Terrassen in den Berg geschlagen. Auf ihnen lässt Antiochos riesige Statuen hellenistischer und zoroastrischer Gottheiten errichten. Da sitzen auf steinernen Thronen Apollo, Tyche, Zeus und Heracles und zwischen ihnen, nicht minder groß, Antiochos höchstselbst. Den eigenen Personenkult hebt der Herrscher auf ein neues Level. Der König steht nun auf einer Ebene mit den Göttern.
Zwischen den gegenüberliegenden Terrassen wird eine 50 Meter hohe künstliche Bergspitze aufgeschüttet. Hier in mehr als 2.000 Metern Höhe möchte Antiochos einmal begraben werden. Doch bis dahin ist noch genug Zeit für egomanische Höhenflüge.
26 Jahre regiert Antiochos I, bevor er sich in einem selbstüberschätzenden Wahn gegen Rom stellt. Am Ende ist Antiochos seinen Thron los, sein Reich ein Vasallenstaat des Römischen Reiches und sein ganzes Leben wäre ein vergessener Wimpernschlag der Geschichte – wäre da nicht der Berg Nemrut.
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2018 Malik, Taschenbuch, 320 Seiten
Zurück in der Gegenwart laufen wir noch immer entlang der kurvigen Straße, die hinauf zum Berg führt. Es sind bereits zwei Stunden vergangen, ohne dass wir ein einziges Auto gesehen hätten. Das Problem: Die Gipfelstraße ist eine Sackgasse. Sie führt hinauf und endet an einem Parkplatz einige Höhenmeter unter den künstlichen Terrassen, die Antiochos einst in das Gestein schlagen ließ. Und anscheinend hat heute niemand Lust dort hinauf zu fahren.
Doch wie so oft haben wir unverschämtes Glück. Das einzige Fahrzeug, das an uns vorbei den Berg hinauf fährt, hält und wir steigen freudestrahlend ein. Am Steuer sitzt ein türkischer Geschäftsmann, der mittlerweile in England mit Teppichen handelt und heute das Dorf seiner Kindheit und Jugendfreunde besucht. Mit ihm gelangen wir bis ganz hinauf auf den Berg, wo einer seiner Cousins als Parkwächter arbeitet.
Vom Parkplatz sind es etliche vereiste Stufen bis zu den Terrassen. Knietiefe Schneemassen müssen wir überwinden, bevor eiskalter Wind unsere Gesichter und Hände einfrieren lässt.
Die Götterstatuen, von irgendeinem Erdbeben in den letzten 2.000 Jahren geköpft, erheben sich noch immer gewaltig vor dem Schutthaufen, der die Spitze des Berges krönt – die zwei Meter hohen Köpfe zu ihren Füßen. Auf der Ostseite des Berges, im Schatten des Gerölls ist es empfindlich kalt. Die porösen, vom Wetter gezeichneten Körper sitzen schneebedeckt, vereist und erhaben auf ihren steinernen Podesten. Sie harren aus, doch uns fällt es redlich schwer, nicht sofort den Rückzug anzutreten. Es ist so kalt am Gipfel des Mount Nemrut, dass mein Atem in meinem Bart hängenbleibt und gefriert. Eis bricht, als ich mit den Fingern über mein Gesicht streiche.
Wir umrunden den Gipfel und stehen bald auf der westlichen Terrasse. Hier glitzern die Sonnenstrahlen des späten Nachmittags im Schnee. Weiches Licht trifft auf die am Boden liegenden Köpfe der steinernen Riesen. Zeus und Antiochos blicken starr hinaus in die Weite – seit Tagen, seit Jahren. Antiochos und Zeus, der König und der Gott, sie schauen hinaus in das Land, als würden sie noch immer darüber wachen. In der Ferne verfärbt sich der Himmel erst orange, dann rot.
Es ist Zeit zu gehen. Wir stapfen die Schneemassen und vereisten Treppen wieder hinab. Im kleinen Souvenirshop am Parkplatz stärken wir uns mit heißem, süßen Çay und haben erneut Glück. Drei junge Männer im einzigen Auto, das sich noch auf dem Parkplatz befindet, bringen uns zurück nach Kahta, von wo wir mit dem Bus nach Adıyaman fahren.
Die Situation in Murats Wohnung hat sich offensichtlich etwas gebessert. Immerhin sitzt Murats Freundin nun mit uns zusammen in einem Zimmer, auch wenn sie immer noch kein Wort mit uns spricht und auch nicht auf Ansprache unsererseits reagiert.
Wir verabreden uns zum gemeinsamen Abendessen in einem nahen Restaurant, das von einem Bekannten Murats geführt wird, der einige Jahre in Deutschland lebte und uns gerne kennenlernen möchte. Doch als wir schon beinahe aus der Wohnung sind, erfasst Murats Freundin ein erneuter Sinneswandel. Ihr Appetit scheint verflogen und sie zieht es vor, zuhause zu bleiben. Ihre Lieblingsseifenoper läuft.
Fünf Minuten später, wir haben gerade das Restaurant erreicht, klingelt Murats Telefon. Seine Freundin hat ihren Appetit wiedergefunden und verlangt nach einem Hauslieferservice.
So verschwindet Murat wieder und wir verbringen den Abend im Restaurant seines Bekannten, sprechen über Deutschland und die Türkei, lassen uns Adıyamans berühmtes Çig Köfte schmecken. Erst als wir nach zwei Stunden zum Nachtisch übergehen, schafft es auch Murat wieder an unseren Tisch. Zusammen verspeisen wir extrem süßes und extrem leckeres Künefe – eine Käse-Zucker-Spezialität – und ziehen dann weiter in eine Shishabar.
Als wir zurück nach Hause kommen, fehlt von Murats Freundin jede Spur. Nicht, dass sie nicht mehr da wäre, nur zeigt sie sich uns nicht mehr. Am nächsten Morgen, als wir eigentlich schon mit Murat auf dem Weg sind, die alten Ruinen Adıyamans zu erkunden, dringt lautes Weinen und Wehklagen aus seinem Schlafzimmer. Keine 20 Meter von der Haustür entfernt, klingelt Murats Telefon. Er muss zurück und wir sind wieder ungeplanter Weise allein unterwegs. Doch es sind unsere letzten Stunden in Adıyaman. Die Ruinen der antiken römischen Anlage halten uns nicht lange auf und wir sind frohen Mutes, als wir die Stadt und mit ihr Murats Freundin weit hinter uns lassen.
Unsere nächste Station führt uns weiter in den tiefen Südosten des Landes. Wir machen uns auf den Weg nach Urfa, nahe der syrischen Grenze, und reisen damit mitten hinein ins türkische Kurdistan.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.
#dasisjaanstrengend Also das Mädl, mein ich. 😉