Auroville, Matrimandir, Spiritualität
Auroville, die größte internationale Kommune der Welt wird 50 Jahre alt 8/11

Auroville: Spirituelle Wahrheiten


6. Mai 2018
Indien
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Es ist still, atemberaubend still. Bis ich das akzeptiere, dauert es die Ewigkeit von Augenblicken. Zeit ist relativ, bedeutungslos. Ich öffne die Augen, schaue auf einen Glaskristall, größer als mein Kopf – 70 Zentimeter im Durchmesser. Er spiegelt meine Umgebung, zeigt gekreuzte Beine auf Sitzkissen und die aufrechten Oberkörper derer, die neben mir sitzen.

Gebündeltes Sonnenlicht fällt durch eine Öffnung in der hohen Decke, trifft auf den Kristall, bricht und erleuchtet den vollständig weißen Raum. Hohe Säulen führen ins Nichts, enden ein gutes Stück unterhalb der Decke. Sie sind weder tragend, noch haben sie irgendeine andere ersichtliche Funktion. Sie sind da, weil La Mère von ihnen träumte. Ich höre mein Blut durch die Adern rauschen und unterdrücke den Reflex mich zu räuspern, den Reflex mit einem Geräusch das Nichts zu brechen. Absolute Stille ist schwer auszuhalten, wenn man sie nicht gewohnt ist.

Zusammen mit etwa 20 anderen Personen sitze ich im Allerheiligsten, was Auroville zu bieten hat, dem Matrimandir, dem Tempel der Mutter. Eingebettet in einen saftig grünen Garten und abgetrennt von der Außenwelt durch hohe Zäune, steht dieses Symbol einer spirituellen Revolutionsidee im geografischen Zentrum Aurovilles.

12 Grundsätze Aurovilles, Spiritualität
12 Grundsätze Aurovilles

Der Matrimandir in Auroville – Heiligtum ohne Religion

Der Matrimandir ist das Zentrum des galaktischen Stadtplans. Wie ein goldenes Ufo erhebt er sich aus der Erde. Und ist man erst einmal drin, wird es echte Science-Fiction. Der Tempel ist leer, nichts als freier Raum, weiße Wände und gleißendes Licht. Zwei Rampen führen langsam an den Seiten nach oben. Wie eine Spirale winden sie sich in ihrer Architektur gegeneinander. Es ist der betonierte DNS-Strang Aurovilles, das Gen einer Überzeugung. Futuristische Architektur der 1970er Jahre.

Die beiden Rampen enden weit oben in einer Kugel, der Inner Chamber, der inneren Kammer – ein Raum im Raum. Hier befindet sich der Glaskristall, hier befinden wir uns in Meditation, hier wird man aufgefordert zum Husten den Raum zu verlassen. Stille ist das Maß der Dinge. Stille und Ehrfurcht, und Demut, und irgendwann das Gefühl, ganz bei sich selbst zu sein.

Der Matrimandir ist Aurovilles einzige Sehenswürdigkeit und ein exklusiver Ort, hauptsächlich vorbehalten für Aurovillianer. Außenstehende Besucher müssen sich persönlich für den Folgetag anmelden und hoffen, dass in dem begrenzten Zeitfenster von neun bis elf Uhr nicht schon alle Plätze reserviert sind. Mal eben rein, das funktioniert nicht – und sorgt gelegentlich für Frust und Ärger, vor allem bei den Tagestouristen.

Am Matrimandir entscheidet sich die Frage, was denn nun Spiritualität für Auroville genau bedeutet. Für manche ist der Matrimandir der wichtigste Ort auf der Suche nach dem supramentalen Bewusstsein, wie es Sri Aurobindo einfordert. Prägend für die persönliche Entwicklung.

goldene Kuppel des Matrimandir in Auroville
der Matrimandir in Auroville

Dabei ist der Matrimandir gesellschaftlich absolut nutzlos und dennoch das wichtigstes Projekt in Auroville. Ein Zeichen dafür, was möglich ist. Glaubt man der Legende, dann entstand der Matrimandir aus einer Vision von La Mère. Das ganze Gebäude ist allein nach ihrem Traumbild entworfen. Zu Beginn der Bauphase waren vielen Dinge völlig unklar. Die technische Realisierung stand mehrfach infrage.

So dauerte der Bau 40 Jahre und war auf neue Methoden und Entwicklungen verstreichender Jahrzehnte angewiesen. 2008 wurde der Matrimandir endlich eingeweiht und kostete gut 20 Mal so viel, als wenn er in einem Rutsch gebaut worden wäre. Heute gilt der Matrimandir, das goldene UFO, als ein Zeichen dafür, dass etwas erreicht werden kann, auch wenn man nicht weiß, wie.

The Matrimandir will be the soul of Auroville. The sooner the soul is there, the better it will be for everybody and especially for the Aurovillians. A place…for trying to find one’s consciousness. It is like the Force, the central Force of Auroville, the cohesive Force of Auroville. The Matrimandir is there for those who want to learn to concentrate.

– La Mère

Mira Alfassa, La Mère, gab bereits die Richtung vor. Sie sagte voraus, dass der Matrimandir die Seele Aurovilles sein würde, die treibende Kraft in der Entwicklung der Stadt. Die ersten Pioniere, die 1968 begannen Auroville aufzubauen, waren voll spiritueller Hingabe. Wer damals den Weg bis in den Süden Indiens hinter sich brachte, war auf der Suche nach Revolution, auf der Suche nach einem Gegenentwurf zum westlichen Wertekanon der Nachkriegsgeneration.

Für die 68er hatten die asiatischen, mystisch interpretierten Kulturelemente – Buddhismus, Yoga, transzendente Ideen – eine unheimlich starke Anziehungskraft. Spiritualität galt der jungen Generation als etwas Neues, etwas, das eine Verbindung zu Gleichgesinnten außerhalb materieller Zwänge erlaubte. Für Auroville war sie regelrecht notwendig. In den Gründungsjahren löste allein die Spiritualität die Begeisterung und den Zusammenhalt aus, der unabdingbar für das Erschaffen Aurovilles war.

Bis heute glauben viele Aurovillianer an die Weitsicht von La Mère und hängen unumstößlich an den gelobten Worten. Aber La Mère sagt mehr. Sie spricht auch davon, dem Matrimandir keinen religiösen Status zu verleihen, den Ideen Sri Aurobindos nicht unreflektiert hinterherzulaufen, keinen Personenkult zu forcieren, keine exklusive Gesellschaft zu formen.

Und genau hier greift die immer wiederkehrende Kritik der Außenwelt. Denn für manche, so ist es über Auroville zu vernehmen, scheint die hier lebende Gemeinschaft vor allem eine komische, schwer greifbare Sekte zu sein, die den wirklichkeitsfremden Idealen zweier Exzentriker folgt und sich in einer Blase weit weg von der Realität befindet. Niemand weiß, so ein häufiges Fazit, was genau in Auroville passiert und das scheint a priori gefährlich.

Pinnwand irgendwo in Auroville
Pinwand irgendwo in Auroville

La Mère und ihre Kinder in Auroville

Auch wir sind skeptisch. Überall in Auroville hängen sie, Sri Aurobindo und vor allem La Mère. Mit durchdringenden Augen schauen sie von Schwarz-Weiß-Fotografien herab. Sie schauen in Büros und öffentliche Einrichtungen, sie schauen in Küchen und Wohnzimmer, in Treppenhäuser und Hauseingänge. Kaum ein Winkel in Auroville ist frei von ihrem Blick.

Dazu dieser Name: La Mère. Mehr Abhängigkeit lässt sich sprachlich kaum ausdrücken. Sie – die Eine, die Übergeordnete, die Entscheiderin, die Autorität. Ihre Anhänger – die Kinder, die Gehorchenden, die Folgenden, die Unkritischen. Soweit das metaphorische Bild.

Doch anders als Religion versteht sich die spirituelle Lehre in Auroville als mentales Buffet, von dem man nur nimmt, was gefällt. Sie verfolgt keinen Exklusivitätsanspruch und kennt auch keine Sanktionen. Sie taugt nicht einmal als Anleitung. Das integrale Yoga Sri Aurobindos verzichtet auf jegliche Anweisungen zur spirituellen Praxis, wie etwa konkreten Hinweisen zur Meditation.

Da wundert es fast, dass Sri Aurobindos spirituelles Erbe so viele Anhänger erreicht, obwohl niemand genau weiß, was zu tun ist. Vielleicht sind es aber auch genau deshalb so viele: Es gibt unendlich viel Platz zur Auslegung. Was alle verbindet, wird von jedem anders verstanden. Wichtig ist allein der Fokus auf das eigene Ich, ohne sich dabei der Welt zu verschließen – so lautet zumindest der Anspruch.

La Mère auf dem Beistelltisch, Auroville
La Mère auf dem Beistelltisch

Spiritualität in der neuen Generation

Die Ideale der beiden Gründer gelten als Fundament Aurovilles auf dem jeder seine eigenen Vorstellungen entwickeln und aufbauen kann. Für den Großteil der Generation der hier Geborenen, für die Jugendlichen in der Stadt der Zukunft, ist die Philosophie Sri Aurobindos etwas Abstraktes. Kaum jemand hat sich intensiv mit ihr beschäftigt. Die Charta Aurovilles ist für sie so bedeutend, wie die zehn Gebote für die Agnostiker – sie akzeptieren ihr Dasein und verschwenden sonst keinen Gedanken daran. Die Charta gilt ihnen nichts weiter als eine losgelöste Sammlung gut gemeinter Regeln, fernab vom Alltag.

Wir treffen die Auroville Kids, den Nachwuchs der Hippiegeneration, im Youth Centre, beim Rave im Wald, oder eines Samtagnachts vor einer riesigen, weißen Villa mit Swimming-Pool. Die Eltern sind aus, die Bude ist sturmfrei und deswegen wird hier ordentlich gefeiert. Jeder ist willkommen. Es sieht aus wie beim amerikanischen Spring Break. Knapp bekleidete, hübsche junge Menschen, jede Menge Alkohol, laute Musik, euphorisches Geschrei. Die Gespräche drehen sich um Partys, Sex, Alkohol – nicht immer in dieser Reihenfolge.

Auch wir sind selten nüchtern. Krishna und TJ begegnen wir immer wieder am Kickertisch, wo sie stets versuchen uns abzuziehen, manchmal mit Erfolg. Häufig treffe ich auch Batman, einen großgewachsenen jungen Mann, vielleicht mit niederländischen Wurzeln, sicher bin ich mir da nicht. Ich nenne ihn Batman, denn als wir uns das erste Mal unterhalten, trägt er ein ebensolches Shirt. Dafür nennt er mich Sultan, vor allem deshalb, weil er meinen Namen in betrunkenem Zustand nicht richtig versteht und es sowieso egal ist. Wir bleiben bei Batman und Sultan. Immer und immer wieder.

Kolam, buntes Straßenmandala, Pongal, Auroville
Kolam, heißen die bunten Straßenmandala, die während des südindischen Erntefestes Pongal gezeichnet werden

Auf einer der vielen Partys, die an den Wochenenden durch den aurovillianischen Wald wummern, nimmt mich Batman beiseite und erklärt mir lallend seine Probleme. Er steht auf vier Frauen gleichzeitig und alle sind auf derselben Party. Wo anfangen? – Spiritualität geht anders. In diesen Momenten siegt primitive Menschlichkeit.

Doch es ist nur ein Aspekt, ein Blickwinkel. Dreht man sich um, schaut man in eine andere Wirklichkeit. Da versammelt man sich bei Vollmond zum gemeinsamen Tanz, da wird aus der Savitri, der Lehre Sri Aurobindos, gelesen und Kurse dazu abgehalten, da wird die eigene Arbeit spiritualisiert und zur Meditation verklärt. Und immer wieder diese Om-Gesänge. Der kraftvoll aufgeladene Ton aus der hinduistischen und buddhistischen Tradition gehört zu jeder Gruppenveranstaltung in Auroville. Om, Om, Om – Kraft, Energie, Friede für alle.

Doch die Om-Gesänge sind eher gemeinschaftsstiftendes Ritual als strenge Praxis. Spiritualität wird in Auroville als Privatvergnügen interpretiert. Meditation und Yoga gehören untrennbar zur Stadt der Zukunft, sind aber kein Pflichtprogramm. Schon gar nicht am Matrimandir, dem golden leuchtenden Tempel einer Gemeinschaft ohne Religion.

der Matrimandir, die Seele Aurovilles
der Matrimandir, die Seele Aurovilles

Auroville, die größte internationale Kommune der Welt in elf Teilen

Teil1: Die Idee einer besseren Welt

Teil 2: Auf den ersten Blick

Teil 3: Leben in der Stadt der Zukunft

Teil 4: Gesundes Essen für gesunde Körper

Teil 5: Nachhaltiger Hausbau im Wald

Teil 6: Alternative Bildung in der Schule des Lebens

Teil 7: Die Stadt der Zukunft und die Dörfer

Teil 8: Spirituelle Wahrheiten

Teil 9: Die Sache mit den Touristen

Teil 10: Die Utopie der Widersprüche

Teil 11: Was war und was kommen mag

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