Kurz vor Sonnenuntergang erreichen wir Discipline, eine von 15 Farmen und Landwirtschaftsbetrieben in Auroville. Bereits seit Stunden rollen wir mit unserem Moped über die staubigen, buckligen Pisten der visionären Stadt, die wesentlich weitläufiger ist, als wir es erwartet hatten. Wir sind auf der Suche nach einem Ort, an dem wir unsere Arbeitskraft gegen Kost und Logis eintauschen können. Wie sich herausstellt, ist das gar nicht so einfach. Denn in Auroville gedeiht mittlerweile nicht nur ein prächtiges Ökosystem, sondern auch die Bürokratie.
Wer sich ganz offiziell um einen Platz als freiwilliger Helfer in Auroville bemüht, muss mindestens zwei Monate Zeit mitbringen und sich über SAVI, den Auroville Volunteer Service, registrieren. Für beides sind wir zu planlos oder zu freilebig – Auslegungssache. Außerdem müssen offizielle Freiwillige neben ihrer Arbeitskraft auch noch einmal ins Portemonnaie greifen und für ihren Aufenthalt in Auroville bezahlen. Auch das gehört zu den Richtlinien.
Jetzt, im Mai und Juni, ist es im indischen Süden außerdem besonders heiß und die meisten Projekte sind auf ein Minimum zurückgestuft. Viele europäische Aurovillianer fliehen vor der Hitze in ihre Heimatländer, besuchen Familien und Freunde, genießen den europäischen Sommer und überlassen ihre Häuser und Wohnungen im aurovillianischen Wald denjenigen, die sie für verantwortungsvoll genug halten, um für ein, zwei oder drei Monate darauf aufzupassen.
Persönlicher Besitz gehört nicht zur Philosophie Aurovilles und so ist der Begriff Eigenheim in der Stadt der Zukunft obsolet. Jedes Haus in Auroville gehört der Gemeinschaft und unbewohnte Gebäude werden idealer Weise schnellstmöglich weitergegeben – sei es auch nur temporär. In Auroville herrscht Wohnungsknappheit. Es ist eines der größten Probleme in der Stadtentwicklung.
In der Auffahrt der Discipline Farm treffen wir Max.
Mit lockigem Haar und schmutzigem Shirt betrachtet er die Vinylplatte in seiner Hand, die er gerade zu einer Handyhalterung für sein Fahrrad verformt hat. Unser Anblick reißt ihn aus den Gedanken, holt ihn zurück in die Wirklichkeit. Schon bald stellt sich heraus, dass Max nicht nur PVC in praktische Formen bringt, sondern zur Zeit auch das Haus einer vierköpfigen Familie bewohnt, die für einige Wochen in ihre ursprüngliche Heimat irgendwo in Europa verreist ist. Viel zu viel Platz für eine Person. Wir teilen uns King Fisher, das indische Bier, sind uns sympathisch und ziehen bereits am nächsten Tag ein. Ab jetzt führen wir eine gemeinsame WG.
Max, 20-jähriger Freiburger, ist über das Austauschprogramm weltwärts nach Auroville gekommen. Nach dem Abi ging es für ihn für ein Jahr nach Indien. Max wird in kurzer Zeit ein Freund; einer, der uns in die Welt von Auroville einführt, die von außen betrachtet so verworren wirkt. Außerdem gehört Max zu jener Kategorie Mensch, die man selbst gerne wäre, wenn man Geisteswissenschaften studiert hat: ein Praktiker. Max ist Gärtner, Landwirt, Tischler, Schmied, Metallarbeiter, Schweißer, Köhler. Einer, der aus nichts alles machen kann – das A-Team in einer Person.
Die Discipline Farm befindet sich, wie alle anderen Farmen auch, im Green Belt, dem Waldgebiet, der sich wie ein Ring um das Zentrum Aurovilles legt. Seit der Gründung Aurovilles 1968 haben Hunderte Helfer die Umgebung stark transformiert. Die rote, rissige und unfruchtbare Erde ist unter einem dichten Wald verschwunden. Mehr als zwei Millionen Bäume wachsen in den Himmel.
Unterwegs in Auroville
Die Wege hier sind staubig, steinig und viel zu lang, um sie zu Fuß zurückzulegen. Es gibt keinen Ortskern, kein zusammengehöriges Land. Auroville ist zerstückelt, unterbrochen von drei indischen Dörfern und privatem Landbesitz. Die vielen Siedlungen – sie tragen klangvolle Namen wie Creativity, Fertile, Aspiration oder Eternity – liegen weit voneinander entfernt. Ohne Fahrrad oder Motorrad bleibt man allein im Wald zurück.
Schlaglöcher und kleine Dämme, die das Regenwasser im Monsun daran hindern sollen, fruchtbare Erde aus Auroville heraus zu spülen, wechseln sich regelmäßig ab. Eigentlich gibt es hier kaum eine ebene Strecke. Stattdessen rollen wir auf unseren Rädern immer ein bisschen bergauf oder bergab.
Knatternde Motorräder kommen uns entgegen. Aurovillianer auf einzylindrigen Mopeds brausen durch den Wald. Manche sitzen auf sportlicheren Maschinen. Graumelierte Strähnen wallen im Wind, nackte, braun gebrannte Oberkörper aus dem Westen ragen über die Lenker der Zweiräder. Die Jugend trägt lockere Muskelshirts und luftige Hosen. Leichte Baumwolltücher bedecken das eine oder andere Gesicht und schützen so die Atemwege vor ständig aufwirbelnden Staubwolken. Kühe trotten immer wieder gemächlich über die Straßen, blockieren die Fahrbahn, erzwingen Spurwechsel aller anderen Verkehrsteilnehmer. Niemand stört sich daran.
Flip-Flops sind das meistgetragene Schuhwerk; wenn die alten Hippies und Naturfreunde aus Auroville nicht gerade barfuß unterwegs sind. Zwischen den Westlern hocken Tamilen auf ihren Maschinen. Sie tragen Hemd und Lungi, den traditionellen Wickelrock Südindiens. Einheimische indische Frauen hüllen sich in leuchtend bunte Saris. Jasminblüten schmücken die schwarzen, zu langen Zöpfen geflochtenen Haare. Ein Fahrer grüßt den anderen; Lächeln tauscht die Straßenseite. Man kennt sich.
Pour tous – nachhaltiger Supermarkt ohne Preisschilder
Sie alle knattern kreuz und quer durch Auroville, fahren hinaus in den Green Belt oder zum eigenen Supermarkt Pour tous, wo sie in Auroville hergestellte Produkte und Lebensmittel kaufen. Was Auroville nicht liefern kann, wird aus dem Großhandel dazu bestellt. Das Angebot ist immer ausreichend, geht aber auch nicht darüber hinaus.
Hier gibt es keine verschiedenen Produktvarianten, keine konkurrierenden Unternehmen, die ein und dieselbe Ware absetzen wollen. Dafür gibt es nur ein Shampoo und das schwappt in einem 15-Liter Kanister an der Wand. Genauso wie das Spülmittel. Auch bei Pour tous macht man sich Gedanken um Nachhaltigkeit. Auf Verpackungen wird, wo es geht, verzichtet; man versucht sich am Zero Waste.
In hohen Plastikbehältern befinden sich Getreide und Müsli zum Abfüllen, große Körbe vollgestopft mit Obst und Gemüse stehen daneben. Prächtig geformte Früchte und ihre weniger schönen Brüder und Schwestern liegen zusammen darin. Eine Norm gibt es hier nicht. Jede Frucht wird geschätzt.
Wer Shampoo oder Spülmittel benötigt, bringt einen eigenen Behälter mit und zapft aus dem großen Kanister ab. Marmeladen und Getränke werden in wiederverwendbaren, einheitlichen Gefäßen verkauft, die nach dem Gebrauch erneut den Weg zurück in die Regale von Pour tous finden.
Kein einziges Produkt ist mit einem Preisschild versehen. Niemand soll glauben, sich etwas nicht leisten zu können oder andersherum übermäßig viel konsumieren, weil es günstig erscheint. Man nimmt allein das Benötigte. Von der Psychologie unserer Supermärkte, die ihr Sortiment so anregend arrangieren, dass man mehr kauft als man braucht, fehlt jede Spur.
Zwar hat natürlich jedes Produkt seinen Preis, nur erfährt der Kunde ihn nicht direkt. Die Kosten werden von einem einsehbaren Kundenkonto abgezogen, das monatlich mit einem festgelegten Betrag aufgeladen wird. Was am Monatsende auf diesem Konto übrig bleibt verfällt und wird genutzt, um überzogene Konten anderer Kunden auszugleichen. Dann starten alle wieder von vorn.
Ein weicher, sozialer Finanzausgleich. Bei Pour tous gibt es keine Schulden – niemals. Stattdessen erwirtschaftet Pour tous mit seinem Bezahlsystem sogar Gewinne, denn dem einen oder anderen Minus eines überzogenen Kontos steht ein weit höheres Plus ungenutzten Guthabens gegenüber. Hier verwirklicht sich Aurovilles gesellschaftliches Prinzip des Gebens. Einkaufen bei Pour tous setzt Herz und Verstand voraus. Wie viel habe ich? Wie viel brauche ich? Wie viel kann ich konsumieren, ohne dass die Gemeinschaft dafür aufkommen muss? – sind grundsätzliche Überlegungen, die sich jeder Kunde stellt. Pour tous lädt dazu ein, so viel zu kaufen, wie man braucht; nicht, so viel wie man will.
Von Pour tous geht es zurück durch Auroville in Richtung Rathaus und vorbei am goldglänzenden Matrimandir, der sich in einem herrlichen Garten erhebt. 2008 wurde das spirituelle Zentrum Aurovilles endlich fertiggestellt. Es sieht aus wie ein überdimensionaler Golfball oder ein startendes UFO – architektonisch eindrucksvoll. Hohe Zäune und ausladende Baumkronen schirmen die Außenwelt ab und bewahren den Garten als eine Oase der Ruhe. Rund um den Matrimandir wird nur noch geflüstert, um niemanden hier bei der Meditation zu stören.
Auroville ist Urbanität mitten in der Natur
Die Pisten führen in weitem Bogen um den Matrimandir herum. Im Unterholz und in den Bäumen am Wegrand haben sich Nattern eingenistet. Der Wechselkuckuck schmettert seinen erschütternden Ruf vor allem in den frühen Morgenstunden durch den Wald, während der Schwarze Thaiskorpion, eine Bestie mit bis zu 13 Zentimetern Körperlänge, besonders nach Sonnenuntergang die staubigen Straßen kreuzt. Auch kleinere, giftigere Verwandte sind dann unterwegs. Mungos huschen durchs Dickicht und machen Jagd auf die vielen Schlangen im Wald – auch auf die giftigen Vipern und Kobras. Manchmal stolzieren wilde Pfauen zwischen den Sträuchern umher.
Auroville ist eine Stadt mit typischer Infrastruktur. Hier gibt es Büros, Handwerker, Dienstleister, Wohnviertel, ein Schwimmbad, Theater, Bibliotheken, Kinos und die gesamte Bandbreite touristischer Einrichtungen – Hotels, Gasthäuser, Restaurants, Cafés – die jedem Besucher offen steht. Nur: Auroville sieht nicht aus wie eine Stadt. Alles ist versteckt im Wald. Nur hier und da erblickt man schemenhaft ein futuristisches Gebäude hinter einer dichten Blätterwand.
Auf unseren Fahrrädern strampeln wir über die erdigen Wege. Der Fahrtwind macht die heiße, feuchte Luft erträglich, spornt zu mehr Geschwindigkeit an. Doch so leicht lässt sich das Klima nicht austricksen. Bereits Sekunden nach dem Absteigen zollen wir unserem Übermut Tribut. Ohne Ankündigung klebt das T-Shirt schweißnass am Rücken. Von Armen und Beinen lecken dicke Wassertropfen. Schmale Bäche rinnen über die Stirn und entlang der Augenbrauen – Nebenwirkungen des südindischen Klimas zwölf Breitengrade nördlich des Äquators.
Im Café La Terrace über der Solar Kitchen, der solarbetriebenen Großkantine Aurovilles, kämpfen wir mit Limonade gegen die Luftfeuchtigkeit. Um uns herum auf der weitläufigen Terrasse sitzen ergraute Aurovillianer. Von der Sonne gegerbte Arme schauen aus weiten, luftigen Oberteilen. Brillengläser verschärfen den Blick auf die ausliegenden Tageszeitungen. Hinter ihnen fügt sich das Blätterdach Aurovilles zu einem grünen Teppich.
Namen werden aufgerufen: Claire, Elisa, Krishna. Sie alle holen ihre Bestellungen an der Theke ab. Veganer Bananenkuchen und Espresso, Tofu-Salat, Kombucha. Vegan ist dabei einer der zentralen Begriffe in Auroville, der den Geist des Ortes recht gut zu treffen scheint. Noch nie zuvor habe ich so viele Veganer und Vegetarier getroffen. Fleischesser sind hier die Exoten. Auf den Speisekarten der Restaurants übersteigt die Anzahl veganer Gerichte häufig das Fleisch- und Fischangebot um das Doppelte.
Nachhaltigkeit ist in Auroville auch bei der Ernährung ein wesentlicher Grundsatz. Biologischer Anbau und organische Landwirtschaft sind die Prinzipien der Lebensmittelproduktion. Chemikalien, Pestizide, genetisch verändertes Saatgut spielen hier keine Rolle. Die Philosophie: gesundes Essen aus gesundem Anbau für gesunde Körper.
Aurovilles Ernährungsgrundsätze können mit jedem Hipster-Lifestyle mithalten. Nur geht man hier nicht in den nächsten Bio-Supermarkt, sondern auf die eigenen Felder, erntet die eigenen Beete und Plantagen ab, bedient sich der Natur vor der Haustür. Ein Luxus, der in den Industrienationen schon lange nicht mehr möglich scheint. Doch Auroville ist mehr als Bauern und Beete. Die Stadt der Zukunft befasst sich mit Dutzenden Aufgabenfeldern. Für jeden ist etwas dabei und auch wir finden in den zehn Monaten unseres Aufenthalts mehr als nur ein Projekt, das wir unterstützen möchten.
Auroville, die größte internationale Kommune der Welt in elf Teilen
Teil 1: Die Idee einer besseren Welt
Teil 2: Auf den ersten Blick
Teil 3: Leben in der Stadt der Zukunft
Teil 4: Gesundes Essen für gesunde Körper
Teil 5: Nachhaltiger Hausbau im Wald
Teil 6: Alternative Bildung in der Schule des Lebens
Teil 7: Die Stadt der Zukunft und die Dörfer
Teil 8: Spirituelle Wahrheiten
Teil 9: Die Sache mit den Touristen
Teil 10: Die Utopie der Widersprüche
Teil 11: Was war und was kommen mag
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.
Kyra Lambinus