Karatschi ist ein Monster, eine Megacity. In der Stadt am Arabischen Meer leben dreiundzwanzig Millionen Menschen – mehr als auf dem australischen Kontinent insgesamt. Karatschi ist das Wirtschafts- und Handelszentrum Pakistans und zugleich größter Hafen des Landes. Ein Umschlagplatz für alle Waren auf dem Weg ins Landesinnere. Zeitgleich ist Karatschi die Spielwiese der Schönen und Reichen in Pakistan. Für uns bedeutet Karatschi aber vor allem, dass wir uns zum ersten Mal während unserer Pakistanreise ohne Polizeischutz bewegen dürfen. So bleibt im Angesicht des Molochs ein Lächeln auf unseren Gesichtern zurück.
So bedeutend Karatschi für Pakistan ist, so mäßig ist der Ruf der Stadt. Schon als wir mit dem Zug die Stadtgrenze erreichen, fallen uns die vielen heruntergekommenen Zeltunterkünfte entlang der Gleise auf. Armut regiert weite Teile der Metropole. Gleichzeitig taucht Karatschi immer wieder weit oben in den Ranglisten der gefährlichsten Städte der Welt auf. Es heißt, in keiner anderen Stadt werden so viele Menschen ermordet wie hier. Das alles erfahren wir jedoch erst, als wir Karatschi bereits verlassen haben.
Unsere Zeit in Karatschi ist dagegen phänomenal. Mit Freunden trinken wir Whiskey am Strand der Hawks Bay, betrachten aufwendig geschmückte Kamele am Clifton Beach, treffen Musiker, Filmemacher, Models und Journalisten und lernen jeden Tag etwas mehr über Pakistan. Wir sind fasziniert von der Vielfalt Karatschis – Armut und Gewalt neben schicken Cafés und riesigen Einkaufszentren, in denen sich die High Society des Landes regelmäßig über den Weg läuft. Eine hochwertige Oldtimer-Ausstellung mitten in der Stadt ist der für uns überraschendste Höhepunkt dieser Glitzerwelt.
Draußen, auf den Straßen Karatschis, geht es chaotisch zu. Fußgänger, Eselkarren, Kamele, Motorräder, Autorikschas, PKWs und Minibusse drängen sich durch ein heruntergekommenes koloniales Ambiente. Ambulante Obst- und Gemüsehändler verengen die ohnehin schon völlig überfüllten Straßen. Die Luftverschmutzung ist hoch, die Abgase giftig. Dennoch sind wir gerne hier. Es wird gerufen, geschimpft und gehupt, aber auch gesungen, gescherzt und gelacht. An jeder Ecke lächelt man uns freundlich zu. Wir werden mehrfach im Vorbeigehen zum Chai eingeladen; einfach, weil man sich mit uns unterhalten möchte. Viele zeigen sich erfreut über unseren Besuch, ohne jedoch aufdringlich zu werden. Von Neppern und Schleppern fehlt hier jede Spur.
Doch noch etwas treibt uns immer wieder auf die Straßen. Es sind die aufwendig geschmückten und eindrucksvoll dekorierten LKWs, die schwer durch die Stadt donnern. Die Könige der Straße erscheinen in majestätischem Gewand. Auf Hochglanz poliert, klingeln, rasseln und rauschen sie mit Hunderten kleiner Glöckchen und Ketten. Nie zuvor haben wir etwas Derartiges gesehen: kräftige, leuchtende Farben, detaillierte Motive, umfangreiche Dekorationen.
Pakistans LKWs sind mit Abstand die schönsten der Welt. Den dekorierten Schwerlastern widmet sich eine ganze Kunstszene. „Phool Patti“ – „Blume und Blatt“, so der Name dieser ureigenen pakistanischen Kunstform.
Wir sitzen auf einer Pritsche in einem kleinen zementierten Raum in einer engen Gasse irgendwo in der dreiundzwanzig Millionen Metropole und schlürfen Chai. Uns gegenüber sitzen Ali und Haider, zwei sogenannte Truck Artists, deren rollende Kunst wir bereits seit Tagen bestaunen. Haider, mittlerweile vierunddreißig Jahre alt, schmückt seit seinem achten Lebensjahr LKWs. Zunächst an der Seite des Vaters und nun selbstständig mit etwa zehn Mitarbeitern.
Wenn Ali und Haider von ihrer Arbeit berichten, dann schwärmen sie: Phool Patti ist tief verwurzelt in der pakistanischen Kultur. Es ist Pakistans einzige originäre Kunstform. Alle anderen Künste, sei es Musik, Literatur oder Film unterliegen ausländischen Einflüssen. Phool Patti hingegen besitzt einen eigenen, rein pakistanischen Stil, eigene Designs, Muster und Motive. Sie verwandelt monströse Trucks und Abgasbestien in fliegende Teppiche auf Rädern, die überall die Blicke auf sich ziehen.
Die dekorierten LKWs sind Statussymbole ihrer stolzen Besitzer. Nicht selten geben die Fahrer mehr Geld für die Verzierung ihrer Fahrzeuge aus, als für ihre Häuser und Familien.
Auf den LKWs prangen vor allem volkstümliche Motive Pakistans. Übergroße Blüten und Blätter, wie der Name Phool Patti es bereits andeutet, tragen eine übergeordnete Rolle. Daneben sind es Landschaften und Wahrzeichen aus der Heimat der Fahrer, die auf den Außenwänden der Trucks verewigt werden. Die Fahrer, so erklärt uns Haider, wollen zeigen woher sie stammen. Ihre Herkunft und ihr kultureller Hintergrund fließen in die Dekoration der LKWs ein. Auch Kalligrafie und Tierzeichnungen sind allgegenwärtig. Vor allem der Bengalische Tiger als Ausdruck für Stärke und Eleganz taucht immer wieder auf. Heldenszenen aus der pakistanischen Mythologie zieren einige Trucks und nicht wenige Helden ähneln dabei ganz zufällig den Fahrern selbst. Mit diesen Darstellungen suchen die Straßenkapitäne spirituelle Unterstützung für die langen Wege kreuz und quer durchs Land – vom Arabischen Meer bis in den Himalaja. Religiös, sentimental, emotional, regional – das sind die prägenden Attribute Phool Pattis.
Doch Phool Patti ist mehr als nur kräftige Farbe und bunte Motive. Die LKWs werden komplett neu auf- und umgebaut, erzählen Ali und Haider. Wir wollen es genau wissen und treten hinaus aus dem zementierten Raum in die gleißende Sonne. Eine enge Gasse, wenige Hundert Meter lang, erstreckt sich vor uns. Alle paar Schritte öffnen sich eine Tür, ein Tor, eine Pforte. Dahinter schweißen, klopfen, hämmern und feilen die Arbeiter.
Hier wird Metall zu langen Auspuffrohren gedreht, dort werden Gewinde gefräst. In dunklen, hohen Hallen türmen sich die unterschiedlichsten Metallarbeiten. Unter einer Werkbank stillt eine Hündin vier kleine Welpen. In einem Hinterhof bearbeiten drei Männer etwas, das irgendwann einmal ein Tank für Benzin oder Öl werden wird. In einer Ecke sitzen zwei Arbeiter um einen Schraubstock und biegen zentimeterdicke Eisenstäbe. An anderer Stelle werden gerade zwei LKWs lackiert.
Wenn ihr unsere Abenteuer und Geschichten gerne auf Papier lesen wollt, dann schaut doch mal hier:
In unserem Buch Per Anhalter nach Indien erzählen wir von unserem packenden Roadtrip durch die Türkei, den Iran und Pakistan. Wir berichten von überwältigender Gastfreundschaft und Herzlichkeit, feiern illegale Partys im Iran, werden von Sandstürmen heimgesucht, treffen die Mafia, Studenten, Soldaten und Prediger. Per Anhalter erkunden wir den Nahen Osten bis zum indischen Subkontinent und lassen dabei keine Mitfahrgelegenheit aus. Unvoreingenommen und wissbegierig lassen wir uns durch teils kaum bereiste Gegenden in Richtung Asien treiben.
2018 Malik, Taschenbuch, 320 Seiten
Jeder beliebige Aufbau eines LKWs wird in diesen Werkstätten hergestellt – von der Ladefläche bis zur Fahrerkabine. Reifenmacher recyceln abgenutzte Reifen. Sattler beziehen Fahrer- und Beifahrersitze. Es werden Achsen gerichtet, Fanfaren verschweißt und Dekorationen geformt.
Ali führt uns in einen weiteren Hof. Hier ist die Basis eines LKWs aufgebahrt. Eine lange, schmale, simple Konstruktion, die weit davon entfernt scheint einmal schwere Lasten durchs Land zu transportieren. Es ist das einzige Element des späteren Trucks, das nicht in dieser Gasse hergestellt und stattdessen aus Japan importiert wird. Als wir durch die Werkstätten schlendern und uns alles genau anschauen ist Ali sichtlich stolz auf das, was seine Arbeiter in den umliegenden Manufakturen schaffen.
Unweit entfernt steht ein LKW, an dem die letzten dekorativen Feinheiten vorgenommen werden. Eine riesige, bunt geschmückte Konstruktion ragt wie eine Krone über der Fahrerkabine. Verschiedenfarbige Aufkleber sind zu kunstvollen Motiven zusammengefügt, Ketten und Glöckchen an Stoßstangen und Kühlergrill befestigt. Kleine Spiegel, Teil der Dekoration, lassen den LKW im Sonnenlicht blinken.
Dann entdecken wir Haider. Zusammen mit zwei weiteren Dekorationskünstlern steht er auf einem hölzernen Podest neben einem LKW. Zu seinen Füßen ein Dutzend Farbdosen. Gerade zeichnet er aus freier Hand einen Löwen auf die Außenwand des LKWs. Nur wenig später skizziert er eine weitere, menschliche Figur daneben. Die LKWs erzählen Geschichten und Sagen; sie verkünden Leidenschaft, Tragik und Magie.
Jedes Bild, jede noch so kleine Verschönerung, jeder Schnörkel hat eine Bedeutung. Keine Veränderung geschieht zufällig. Jedes Detail ist ein Talisman für den Fahrer, ein Glücksbringer auf dem Weg durch die Wüste Belutschistans oder die engen, kurvigen Gebirgsstraßen im Norden Pakistans.
Haider hat mittlerweile einen dicken Pinsel in der Hand. Blaue Farbe umspielt die Silhouetten der beiden soeben gezeichneten Figuren. Seine Mitarbeiter zeichnen Fische und Vögel.
Karatschi ist die wichtigste Stadt für die Kunst des Phool Patti. Aus dem ganzen Land kommen Anfragen für LKW-Dekorationen und die Anfertigung spezieller Aufbauten. Einige Fahrer legen mehrere Hundert oder gar Tausend Kilometer zurück, nur um ihrem alten Redford Truck hier ein neues Gesicht zu verleihen.
So verschieden die Dekorationen der einzelnen LKWs sind, so verschieden sind auch die Schulen der Dekorateure. Karatschi und die Provinz Sindh im Süden Pakistans sind berühmt für Arbeiten aus Kamelknochen. Besonders eindrucksvoll sind die aus Holz angefertigten Arbeiten in Belutschistan und um Peshawar im Nordwesten. Wunderschön geschnitzte Holzverkleidungen zieren die Fahrerkabinen, massive Holztüren ersetzen die Originale aus Metall. Rund um Islamabad setzt man dagegen hauptsächlich auf Kunststoff.
Wir schauen Haider und seinen Mitarbeitern noch eine Weile zu. Betrachten die Pinselstriche, sehen die Szene vor uns entstehen. Wir hören das Hämmern, Schleifen, Klacken, Pfeifen und Klingen der Metallarbeiten um uns herum.
Nachdem wir die Werkstatt verlassen und Haider und Ali schon lange aus dem Gedächtnis verloren haben, bleibt Phool Patti doch stets unser Begleiter. Im ganzen Land sehen wir die kunstvoll dekorierten LKWs, Minibusse, und Rikschas – in Karatschi, auf der Landstraße, in Islamabad und auf dem Weg in den Himalaja. Überall begegnen uns die fliegenden Teppiche auf Rädern.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.
Hier macht ein Künstler das in Form von Miniaturen: https://www.facebook.com/AlHabibEjazTruckArtAndCraft/