Matrimandir, Auroville
Auroville, die größte internationale Kommune der Welt wird 50 Jahre alt 1/11

Auroville: Die Idee einer besseren Welt


28. Februar 2018
Indien
22 Kommentare

Als ich das erste Mal von der Kommune Auroville höre, muss ich an Aremorica denken, die antike nordwestliche Küste Frankreichs – und an ein kleines gallisches Dorf aus der Zeichenfeder Albert Uderzos. Berauscht von einem unwiderstehlichen Zaubertrank trotzen die lustigen Bewohner um Asterix und Obelix den Widerständen der Außenwelt. Chaotisch, charmant, nonchalant.

Aremorica wird in meinem Kopf zum quatschigen, hippiehaften Vorbild einer freien Welt und entspricht meiner vagen Vorstellung von der einzigartigen Gemeinschaft Auroville im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu. Ich kann sie schon vor meinem geistigen Auge sehen, all die Langhaarigen, die Halbnackten, die Blumenketten, die bärtigen, barfüßigen Barden mit ihren Klimpergitarren, wie sie auf dem Dorfplatz um ein riesiges Lagerfeuer zusammensitzen und kiffen. Ich gebe zu, als ich das erste Mal von Auroville höre, habe ich keine Ahnung.

Als ich das erste Mal von Auroville höre, sind wir im Nordosten der Türkei und bereits auf dem Landweg nach Indien; auf einer Strecke, die vor ein paar Dekaden als Hippie-Trail bekannt war. Obwohl er heute durch geopolitische Ränke keine Option für eine sichere Reise ist, übt der Hippie-Trail noch immer eine starke Anziehungskraft auf viele Reisende aus. Auch wir sind fasziniert. Die Schätze der Türkei, die alte Kultur im Iran, die Gastfreundschaft in Pakistan. Auroville verliert sich unter den Eindrücken einer Reise.

Als ich das zweite Mal von Auroville höre, sind wir schon im Norden Indiens angekommen. Jetzt schwingen große Worte mit. Da ist plötzlich die Rede von einer Sekte, die den Ideen des Gurus Sri Aurobindo unterworfen sei und von einer Französin, die von allen nur La Mère oder The Mother genannt wird.

Ein anderes Mal hören wir aber auch von Auroville als eine Spielwiese für Freigeister und Aussteiger, von Spiritualität und Workshops zur Persönlichkeitsentwicklung. Außerdem ist von nachhaltigen Lebensweisen die Rede, von Yoga und Meditation in einem wundersamen Wald. Und wieder verschwindet Auroville im Unterbewusstsein. Doch dort arbeitet es, bohrt sich unmerklich ins Hirn, bleibt im Gedächtnis hängen. Unser Weg führt uns weiter – kreuz und quer durch Indien – bis wir die ehemalige französische Kolonialstadt Pondicherry ganz im Süden des Subkontinents erreichen.

futuristische Architektur im Wald von Auroville
futuristische Architektur im Wald von Auroville
futuristische Architektur in Auroville

Sri Aurobindo und La Mère

Hier trifft es uns! In den hübschen, mediterranen Gassen befindet sich der Ashram, das Meditationszentrum, von Sri Aurobindo, dem frühen indischen Freiheitskämpfer, Poeten, Guru und Begründer einer Lebensform, die er selbst als Integrales Yoga bezeichnet. Hier in Pondicherry verbreitet er seine Philosophie.

Sri Aurobindo sagt Sätze wie „Alles Leben ist Yoga.“, oder „Der Mensch ist nur eine Zwischenstufe der Evolution.“ Das klingt für viele verrückt und für wenige verheißungsvoll. Ich mag vor allem den zweiten Satz. Nicht, dass ich ihn verstünde, aber mir gefällt die Idee, dass der Mensch noch nicht an seinem Ende angekommen ist. Sri Aurobindo hämmert jede Menge Risse in den Sockel der höchsten Schöpfung, auf den sich der Mensch seit Entwicklung der Selbstreflexion gesetzt hat.

Ihm zur Seite steht Mira Alfassa, eine Französin, die er als spirituelle Partnerin anerkennt. Beide ergänzen sich: Der Guru philosophiert, La Mère, seit den 1930er Jahren im Ashram, organisiert. Sri Aurobindo entwickelt und verfolgt eine Philosophie des höheren Bewusstseins, die versucht durch inneres Wachstum, durch Transformation der menschlichen Natur, eine neue Gesellschaft zu formen.

Dabei will Sri Aurobindo keine Mönche im Kloster erziehen, will niemanden von der Außenwelt abschotten. Stattdessen wünscht er sich ein Wirken auf die Welt von jedem Einzelnen und als Gemeinschaft. Die Menschheit soll den nächsten evolutionären Schritt machen, erklärt er. Das supramentale, das metaphysische Bewusstsein ist das Ziel. Das alles klingt schwer nachvollziehbar und auch die Bücher des Philosophen sind für den unbedarften Leser eher Last als Genuss.

Doch die großen Worte werden in einer Ära geäußert, in der sie auf fruchtbaren Boden fallen. Mitte der 1940er sucht Indien nach einer Erneuerung, die Unabhängigkeitsbewegung steht vor ihrem Ziel, die Menschen sehnen sich nach Veränderung und Sri Aurobindo inspiriert sie. Seine Anhänger kommen vor allem aus seiner alten Heimat Kalkutta und dem heutigen Westbengalen.

Streetart in Pondicherry im Süden Indiens
Streetart in Pondicherry im Süden Indiens

In Scharen ziehen sie in den Ashram nach Pondicherry, um ihrem Guru nahe zu sein. Als Sri Aurobindo 1950 seinen Körper verlässt, so beschreiben sie in Indien den Tod, hat er bereits viele Anhänger um sich versammelt. La Mère leitet jetzt den Ashram und führt die Philosophie fort, die auch in Europa und Nordamerika Anhänger findet.

In den 1960er Jahren ist die Jugend in der westlichen Welt geprägt von der Flower-Power-Bewegung, äußert sich kritisch zum überbordenden Materialismus der Nachkriegsgeneration, verurteilt Unterdrückung und Gewalt, stellt sich vehement gegen den Vietnamkrieg. Sie heiligt dem mystisch-spirituellen Wertekanon und den philosophisch-transzendentalen Strömungen Asiens.

Der Buddhismus ist ein heißes Thema, Yoga ist en vogue und weil in der Heimat viele Köpfe noch sehr verschlossen sind, fliehen junge Wohlstandskinder nach Osten. Die Philosophie Sri Aurobindos eröffnet der gerade geborenen Hippie-Generation eine praktisch-spirituelle Alternative zum Bausparvertrag. Wer dem Buddhismus nahe steht, findet auch in der Philosophie Sri Aurobindos viel Erhellendes. Das Überkommen von Leid und ein undogmatischer Ansatz sind wesentlich für die Lehre.

Bilder von Sri Aurobindo und La Mère im Studio von Auroville Radio
Sri Aurobindo und La Mère im Studio von Auroville Radio

Auroville wird geboren

Geprägt von der Idee Sri Aurobindos auf die Welt einzuwirken, entwickelt Mira Alfassa, La Mère, das Konzept einer Stadt, deren Bewohner der Welt als Experimentierfeld und bestenfalls leuchtendes Beispiel dienen sollen. Nichts Geringeres als das Ideal einer geeinten Menschheit ist das Ziel.

La Mère nennt die Stadt Auroville, eine Komposition aus dem französischen aurore, Morgenröte, und ville, Stadt. So trägt Auroville, die Stadt der Zukunft, seit dem ersten Tag den Beinamen Stadt der Morgenröte. Formal wird natürlich auch die Nähe zu Sri Aurobindo ausgedrückt.

Weder Geld noch Politik, so ist es geplant, sollen das Leben in Auroville bestimmen. Stattdessen sollen Menschen ungeachtet ihrer Herkunft und Religion als Weltbürger friedlich und in Harmonie miteinander leben. Frei von Machtbedürfnissen, frei von privatem Grundbesitz und materiellen Wünschen, kapitalistischen Wachstumsideen und Unterdrückung. Eine moralisch integre, universelle Gemeinschaft, die sich der persönlichen Entwicklung hin zu einem höheren Bewusstsein verschreibt; deren Mitglieder nicht im Wettbewerb, sondern in Freundschaft und Brüderlichkeit zueinanderstehen.

Auroville ist eine Vision, ein Traum von einer besseren Welt. Frei von materiellem Ballast soll hier das spirituelle Bewusstsein gefördert werden. Auroville, so ist es der Wunsch von La Mère, solle keine Nation ihr Eigen nennen – ein unabhängiger Ort für freie, aufrichtige Menschen.

Am 28. Februar 1968 erfolgt der erste Spatenstich. Roger Anger, ein französischer Architekt steht dafür Pate. Repräsentanten aus 124 Nationen sind der Einladung gefolgt und bringen Erde aus ihren Heimatländern mit, die sie nun gemeinsam in einer Urne auf dem Gelände Aurovilles versiegeln; auf dass die Menschheit zusammenwachsen und all ihre Probleme gemeinsam lösen möge. Auch die UNESCO unterstützt Auroville vom ersten Tag als zukunftsweisendes Projekt. Die Fiktion Auroville wird zur Realität.

Die indische Regierung gestattet Auroville Sonderrechte und eine gewisse Autonomie. Bis heute mischt sich der Staat nicht in die Belange Aurovilles. Die indische Polizei darf nur dann in Auroville arbeiten, wenn sie von der Stadt der Zukunft dazu aufgefordert wird.

Hütte in der Siedlung Aspiration, erste Siedlung in Auroville
Hütte in Aspiration, der ersten Siedlung in Auroville
freie Wurzeln eines Bayanbaums in Auroville
Bayanbaum in Auroville

Der Stadtplan Roger Angers ist dem Zeitgeist entsprechend futuristisch. Wie eine Galaxie soll sich die Stadt der Zukunft ausbreiten. Das Zentrum des Spiralnebels bildet der Matrimandir, der Tempel der Mutter. Ein Gebäude, geträumt von La Mère, das den Bewohnern Aurovilles als Quelle spiritueller Kraft dienen soll. Doch noch weiß niemand, wie der Matrimandir errichtet werden kann. Damals, 1968, ist die Umsetzung schlicht nicht möglich.

Pioniergeist für die Stadt der Zukunft

Ganz in der Nähe des Golfs von Bengalen und nur wenige Kilometer von Pondicherry entfernt, befindet sich das Laboratorium für eine bessere Welt. Doch in den Anfangsjahren hat das Projekt Auroville erst einmal mit sich selbst zu tun. Die Sonne brennt erbarmungslos auf die freiwilligen Helfer, die sich, aus aller Welt kommend, dem Aufbau Aurovilles verschrieben haben. Das Land ist unfruchtbar, kaum ein Baum spendet Schatten, die Wasserversorgung ist eine Katastrophe.

Es gibt weder Flüsse noch Seen. Viele Quellen der umliegenden Dörfer sind erschöpft. Ein Resultat der rücksichtslosen Abholzung während der lange andauernden britischen Kolonialzeit. Aber auch die in den 1960ern eingeführte Grüne Revolution, die traditionelles Saatgut durch schnell wachsende Hochleistungssorten ersetzte und damit die regionale Diversität der Monokultur opferte, trägt ihren Teil zur  Erschöpfung des Bodens bei. Rotes Land, blauer Himmel und der glitzernde, fünf Kilometer entfernte Golf von Bengalen sind die unverwüstlichen Konstanten jener Tage.

Doch der Pioniergeist der ersten Stunde ist unbändig. Etwa 400 angehende Bewohner schuften in den ersten Jahren unter der prallen südindischen Sonne für die Stadt der Zukunft. Und immer mehr Freiwillige zieht das Projekt an. 50.000 Menschen sollen einmal dort leben, wo brüchiger, staubiger Boden bis zum Horizont reicht. Ein grauer Hippiebus, der den weiten Weg von Frankreich bis nach Auroville überstanden hat, ist der einzige Komfort. Mit ihm werden Lebensmittel, Werkzeuge, Baumaterialien – alles, was zum Leben in der Ödnis benötigt wird – aus Pondicherry herangefahren. So lautet die Legende.

Bambus-Pavillon in der Siedlung Bamboo Land, Auroville
Bambus-Pavillon in der Siedlung Bamboo Land
Versammlungshalle in der Siedlung Sadhana Forest in Auroville
Versammlungshalle in der Siedlung Sadhana Forest in Auroville

Auf dem niedrigen Plateau, das sich langsam von der Küste im Osten nach Westen erhebt, sind die Lebensbedingungen harsch. In einfachen, mit Palmwedeln gedeckten, Hütten hausen die ersten Bewohner der noch zu errichtenden Stadt. Das heiße und feuchte Klima des südlichen Subkontinents macht ihnen zu schaffen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang bearbeiten sie zusammen mit vielen einheimischen Arbeitern die Erde, graben Wasserbecken und Kanäle, pflanzen die ersten Bäume, verbessern die Bodenqualität. Eines ist allen klar: Für eine Stadt der Zukunft muss zunächst eine fruchtbare Grundlage geschaffen werden.

50 Jahre später ist das Auroville der ersten Tage nicht mehr wiederzuerkennen. Das Glitzern des Golfs von Bengalen ist schon lange nicht mehr zu sehen. Zwischen dem blauen Himmel und der roten Erden breitet sich ein scheinbar undurchdringlicher Wald aus. Tropischer Trockenwald, so wie er vor Jahrhunderten hier beheimatet war, erstreckt sich über Dutzende Kilometer.

Heute gehören über einhundert Siedlungen zu Auroville, das sich auf einer Fläche von etwa 20 Quadratkilometern erstreckt. Aufforstung ist noch immer einer der wesentlichen Aufgabenbereiche der Stadt; doch schon lange nicht mehr der einzige. Organische Landwirtschaft, alternative Energien, Bildung, Gesundheit, Bauwesen, Handwerk, Kunst und Kultur, Verwaltung und Stadtplanung sind Teil der Agenda in Auroville geworden.

Gartenbau in der Siedlung Pebble Garden, Auroville
Gartenbau in der Siedlung Pebbles Garden
wilde Beete in Pebble Garden, Auroville
wilde Beete in Pebble Garden

Mittlerweile zählt Auroville über 2.500 registrierte Einwohner, die Aurovillianer. Sie stammen aus über 50 verschiedenen Nationen; etwa die Hälfte von ihnen kommt aus Indien. Franzosen stellen die größte ausländische Gruppe, gefolgt von Deutschen und Italienern.

Sie alle setzen sich dem übermäßigen Leistungsdruck, dem Konsum, dem kapitalistischen Wertesystem entgegen und arbeiten unermüdlich an einer besseren Welt. Darüber kann man schmunzeln oder man schaut es sich an. Auroville ist mehr als eine Fassade aus guten Ideen und viele der erträumten Ideale, das werden wir während unserer zehn Monate in Auroville lernen, sind auch 50 Jahre nach der Gründung noch immer im Entstehungsprozess.

Motorrad auf Torbogen in Auroville
Auroville, ein Ort für Kreativität

Auroville, die größte internationale Kommune der Welt in elf Teilen

Teil 1: Die Idee einer besseren Welt

Teil 2: Auf den ersten Blick

Teil 3: Leben in der Stadt der Zukunft

Teil 4: Gesundes Essen für gesunde Körper

Teil 5: Nachhaltiger Hausbau im Wald

Teil 6: Alternative Bildung in der Schule des Lebens

Teil 7: Die Stadt der Zukunft und die Dörfer

Teil 8: Spirituelle Wahrheiten

Teil 9: Die Sache mit den Touristen

Teil 10: Die Utopie der Widersprüche

Teil 11: Was war und was kommen mag

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  • Anonymous
    28. Februar 2018

    11 Teile? Ihr habt ja nicht zu viel versprochen. Bin gespannt.


    • Morten & Rochssare
      28. Februar 2018

      Steckt eine Menge Arbeit hinter aber hat sich auf jeden Fall gelohnt ❤


  • Anonymous
    28. Februar 2018

    Isabelle Ewig


  • Anonymous
    28. Februar 2018

    Simon 🙂 <3


  • Anonymous
    1. März 2018

    Eike Pilger


  • Anonymous
    2. März 2018

    Peggy


  • Anonymous
    3. März 2018

    Wow klingt echt interessant. Wie habt ihr es geschafft, dort „einzuziehen“? Wie ist das Leben dort? Bin wirklich gespannt auf die nächsten Teile! 🙂


    • Morten & Rochssare
      3. März 2018

      Auroville hat eine ziemlich normale urbane Infrastruktur. Alle Infos gibts in den weiteren Teilen zu lesen


  • Anonymous
    3. März 2018

    Klingt super!


    • Morten & Rochssare
      3. März 2018

      Ist es auch. Zu den Widersprüchen kommen wir auch noch in den anderen Teilen


    • Anonymous
      3. März 2018

      Gern!


  • Anonymous
    5. März 2018

    toll geschrieben, sehr informative. Wie ist das Wasser dort (Frei von Pestizide, Nitrat etc.) Danke dir für die Info. Weiterhin viel erfolg.


    • Morten & Rochssare
      5. März 2018

      Das Wasser ist unbedenklich. Zwar wird es in vermutlich jedem Haushalt durch Vulkanstein gefiltert, aber es gibt auch Personen, die das Wasser direkt trinken.


  • Anonymous
    5. März 2018

    Danke dir für die info…