Und dann fliegt auf einmal dieser Nike-Schuh durch die Luft. Eigentlich habe ich keine Ahnung, ob er wirklich aus der Kollektion von Nike stammt. Sehr wahrscheinlich ist es nur eine billige Fälschung, die da gerade in Richtung Spielfeld saust und ihr Ziel nur knapp verfehlt.
Etwa einen Meter hinter dem Linienschiedsrichter schlägt der Schuh auf dem Boden auf, springt noch ein, zwei Mal an der Werbebande entlang. Es dauert nicht lange, bis das gerade erst getrennte Paar dort unten wieder vereint ist. Ihnen folgen zwei Flip-Flops und eine Colaflasche, die es sogar bis auf den Rasen schafft und jede Menge Feuerzeuge. Begleitet wird das alles von wütendem Gepfeife, tausendfachen „Puta Madre“ und „Boludo“-Rufen und wild gestikulierenden Männern, Frauen und Kindern. Ein ganz normales Fußballspiel in Buenos Aires. Oder eben doch nicht ganz normal, denn diese eine Szene ist schon am sechsten Spieltag der Saison 2012 das wohl meist diskutierte Ereignis der Saison.
Zwei Stunden zuvor sitzen wir im Colectivo, einem klapprigen, stinkenden und nicht immer zuverlässigen Stadtbus in Buenos Aires. Uns gegenüber steht ein dicker Argentinier in Jogginghose und viel zu engem T-Shirt. Es sieht aus, als würde er sich lässig gegen die Tür des Busses lehnen, aber eigentlich ist er nur betrunken. Das verraten sowohl die müden Augen als auch die fast leere Flasche Wein in seiner Hand. „Mit dem ist nicht viel anzufangen“, denke ich, als er plötzlich beginnt mit der flachen Hand gegen die Innenwand des Busses zu schlagen und mit bellender Stimme ein Lied anstimmt. Sofort grölen alle Insassen des Colectivos begeistert mit, springen von ihren Sitzen, klatschen, reißen die Arme in die Luft. Es ist laut, es macht Spaß, es fühlt sich wild und lebendig an, ich bekomme Gänsehaut – wir sind auf dem Weg ins Stadion. San Lorenzo spielt.
Der Club Atlético San Lorenzo de Almargo
Für europäische Fußballfans ist der Club Atlético San Lorenzo de Almargo wohl eine unbekannte Größe. Dieser Ignoranz spreche auch ich mich schuldig. Tatsache ist jedoch: San Lorenzo gehört zu den fünf besten Vereinen Argentiniens und wurde von der spanischen Presse als „beste Mannschaft der Welt“ geadelt. Zugegeben, dieses Zitat ist etwas gealtert, stammt aus dem Jahr 1946. Damals gewann San Lorenzo Spiele gegen die Nationalmannschaften Portugals und Spaniens, fertigte auch noch den Club Atlético aus Madrid und den ruhmreichen FC Porto ab.
Außerdem gelang es San Lorenzo bereits zwei Mal die nationale Meisterschaft ohne eine Niederlage zu gewinnen. Ein außergewöhnlicher Verein also, der aus einfachen Verhältnissen kommt und der Legende nach seine Gründung einer Handvoll Kindern verdankt, die sich im beginnenden 20. Jahrhundert gegenseitig zum Straßenfußball herausforderten. Nachdem in Buenos Aires jedoch die Straßenbahn installiert wurde, entwickelte sich das Fußballspielen zu einem gefährlichen Sport. Als Reaktion auf einen Unfall, bei dem ein Spieler schwer verletzt wurde, ließ der katholische Priester Lorenzo Massa die Jungs auf der Wiese hinter seiner Kirche spielen. Aus Dankbarkeit, so vermute ich, heißt der Klub heute noch San Lorenzo.
Das Stadion San Lorenzos, bekannt als El Nuevo Gasómetro, liegt direkt hinter Bajo Flores, einem finanziell schwachen Stadtteil der argentinischen Hauptstadt. Das ist eine euphemistische Beschreibung. Bajo Flores ist geprägt von Armut und Arbeitslosigkeit. Es ist eine Villa, wie sie in Argentinien sagen: kein schmuckes Haus, sondern eine Favela, ein Slum. Der Verein hat seine Wurzeln im Blickfeld.
Von der Bushaltestelle bis zum Stadion lassen wir uns von der Masse ziehen. Es ist unser erstes Fußballspiel außerhalb Europas und aus Respekt vor der Leidenschaft der Argentinier und ihrem innigen Verhältnis zum Fußball sitzen wir, anstatt das Chaos in den Populares, den Stehtribünen, hautnah mitzuerleben. Aber auch die Plateos, die Sitzplätze, bieten stimmungsmäßig jede Menge. Hier ist das Publikum ähnlich wie in deutschen Stadien: Alte Herren, Familien mit Kindern – und trotzdem ist es anders.
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Rabatz im Stadion
Schon vor dem Anpfiff schallen lautstarke Gesänge durchs Stadion. Die Kleinen lernen von den Großen. Fußball wird nicht bloß angeschaut, es wird gelebt. Die Tribünen sind Teil des Spiels. Auf den Populares quetschen sich die Zuschauer eng zusammen. Riesige San Lorenzo-Banner hängen über den Köpfen der auf und abspringenden Fans, als die Mannschaften einlaufen. Es geht gegen Colon aus dem fünfhundert Kilometer entfernten Santa Fé. Das Spiel beginnt vielversprechend mit einigen gefährlichen Szenen auf beiden Seiten, doch an einem heißen Nachmittag wie diesem nimmt die fußballerische Qualität schon bald ab. Die Partie wird zusehends langweiliger, nicht nur auf dem Rasen, sondern auch auf den Rängen. Nach 20 Minuten der erste Aufschrei: Rote Karte gegen Santa Fé. Kurze Zeit später unterbricht der Schiedsrichter das Spiel und bittet die Mannschaften vom Platz.
Der Grund sind weder Krawalle noch Pyrotechnik auf den Rängen, sondern die erbarmungslose Sonne. Kurze Trinkpause. Und danach das 1:0 für San Lorenzo. Ein wirklich albernes Tor. Der abgefälschte Ball trudelt langsam ins linke Eck, während der Torwart in der entgegengesetzten Ecke auf dem Boden liegt. Solche Tore regen mich auf. Sie sind je nach Perspektive immer ungerecht oder sehr, sehr glücklich. Aber egal, San Lorenzo führt, die Stimmung ist gut. Halbzeit.
Wir sitzen seit anderthalb Stunden im Stadium und verbrennen uns die Haut unter einem wolkenlosen Himmel. Ein schattenspendendes Dach ragt leider nur über die gegenüberliegende VIP-Tribüne. So dampfen wir auf unseren Plätzen, bis sich ein junger Mann mit einem riesigen Tablett nähert. Er trägt Erfrischungsgetränke durch die Sitzreihen, die er an die durstige Masse verteilt. Wir erwischen gerade noch die letzten Becher und stürzen ihren Inhalt durstig in unsere Kehlen.
Doch was da gerade über unsere Zungen und vorbei am Gaumen durch die Speiseröhre rollt, ist keine kühle, prickelnde, wohltuende Flüssigkeit, sondern warme, abgestandene Cola. Die wahren Helfer in der Not stehen im Inneren des Stadions vor den Publikumsrängen. Dort spritzen einige Ordner mit Feuerwehrschläuchen Wasser in die Mengen und werden dafür mit tosendem Applaus gefeiert.
Der Linienrichter
Das Spiel geht weiter. Santa Fés Trainer hat sein Team zur zweiten Halbzeit gut eingestellt. In Unterzahl und mit einem Tor Rückstand verteidigt die Mannschaft jeden Angriff San Lorenzos und lauert dabei auf Kontermöglichkeiten. Allerdings habe ich das Gefühl, dass beide Mannschaften noch Stunden spielen könnten, ohne ein weiteres Tor zu erzielen. Es gibt einfach Tage, da läuft es nicht. Und genau so einen Tag hat auch der Linienrichter erwischt, wie er in der nun folgenden Szene unter Beweis stellt: Santa Fé greift an. Aus dem Halbfeld kommt eine Flanke, die von einem Verteidiger San Lorenzos zur Seite geklärt wird. Dort steht jedoch ein Spieler Santa Fés, der den Ball erneut vor das Tor schlägt.
Warum auch immer, aber der Linienrichter hebt seine Fahne und zeigt eine Abseitsposition an. Unmöglich eigentlich, da der Ball vom Gegenspieler kommt. Lustlos unterbrechen sowohl San Lorenzo als auch Santa Fé das Spiel. Und selbst der Stürmer der Gästemannschaft, den die Flanke gerade erreicht, schießt nur halbherzig aufs leere Tor und in die Maschen. Der Einzige, der die Szene richtig beurteilt, ist der Schiedsrichter auf dem Feld und der pfeift: kein Abseits, sondern Tor – zur Freude der Spieler Santa Fés und zum Entsetzen der Mannschaft von San Lorenzo und der Fans im Stadion.
Sofort stürmen elf wütende Fußballer auf den Assistenten zu und versuchen zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Das Tor zählt und jetzt fliegen die Schuhe. Auf den Rängen ist die Hölle los. Es hilft der Stimmung auch nicht, als San Lorenzo ein zweites Tor schießt, das zurecht wegen einer Abseitsstellung aberkannt wird.
Das Spiel endet letztendlich leistungsgerecht 1:1, weil es San Lorenzo trotz einstündiger Überzahl nicht versteht, den Gegner auszuspielen. Für die Schiedsrichter ist es jedoch eine herbe Niederlage, was sie nach dem Abpfiff zu spüren bekommen. Selbst von der VIP-Tribüne fliegen Feuerzeuge und andere Geschosse, sodass die Unparteiischen nahe des Mittelkreises warten, bis Ordner und Polizisten ihre Sicherheit gewährleisten können. Auch außerhalb des Stadions droht die Situation zu eskalieren. Es ist unübersichtlich. In allen Richtungen laufen wütende, fluchende Fans umher. Berittene Polizisten sind im Einsatz. Ein Hubschrauber kreist über dem Gelände. Eine mit Pump Guns bewaffnete Motorradstaffel fährt einige Male an uns vorbei. Mehrere Krankenwagen rasen mit Blaulicht und Sirenen heran.
Das schwarze Schaf des Tages ist und bleibt der Linienrichter. Eine derartige Fehlentscheidung erträgt die stolze, fußballverrückten Seele der Argentinier nur schwer. Einige Tage später lese ich in der Zeitung, dass der Linienrichter Morddrohungen erhält und vorerst nicht mehr eingesetzt wird. Ist wohl besser so, schießt durch meinen Kopf. Vida loca.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.