Kolkata, Indien, Titel
Aspekte einer der Elendsmetropole

Kolkata


14. November 2020
Indien
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Die Sudder Street in Kolkata ist ein dreckiger Engel. Wer sich ihr anvertraut, findet Schutz und ein Leben nahe der Gosse. Schäbige Hotels stehen eng beieinander. Die Zimmer sind muffig und abgewohnt. Es ist schwer zu sagen, ob die Unterkünfte mit der Zeit schrecklich heruntergekommen sind oder schon immer so elendig waren. Rucksackreisende mit schmalem Budget mieten sich hier ein. Wer es sich leisten kann, macht einen Bogen um die Sudder Street.

Wer sich nichts leisten kann, sucht in der Sudder Street das Glück. Bettelnde Kinder mit ausdruckslosen Augen halten ihre schmutzigen Händchen den Vorbeilaufenden entgegen. Routiniert und resigniert. Freundlichkeit beantworten sie mit emotionslosem Gleichmut. Dennoch sind sie anhänglich. Die Straße hoch, die Straße runter, zum Geldwechsler an der Ecke und vorbei an den kleinen Kiosken: Die Knirpse bleiben an unserer Seite. Wir bringen ihnen Fingerspiele bei und ernten ein leises Lächeln. Das Leben ist hart.

Auch die Anderen sind hier. Mitleidsbettler. Die Milchpulvermafia. Frauen mit Babys auf dem Arm, die so flehentlich um Zuwendung betteln, dass sich mir das Herz zusammenzieht. Auch sie folgen uns die Straße rauf und die Straße runter. Ihre Anwesenheit ist viel schwerer zu ertragen. Sie wollen kein Geld, sagen sie. Es ginge nur um das Baby, sagen sie. Es bräuchte Milch, sagen sie. Wer sich darauf einlässt, kann wenig später beobachten, wie die Frau das gerade erst erstandene Milchpulver zum Ladenbesitzer zurückbringt und von ihm einen Teil des Verkaufspreises kassiert. Der Trick ist uralt, aber funktioniert immer noch prächtig.

Das abgekartete Spiel macht mich wütend. In meiner Welt ist nur Platz für ehrliche Bettler. Lüge und Betrug ist etwas für Chefetagen, für Verkehrsminister und Automobilbauer, aber nicht für Bettler. Wenn schon im Elend, dann anständig.

Sudder Street, Kolkata, Indien
Taxi in der Sudder Street, Kolkata, Indien

Das ist natürlich ein lächerlicher Gedanke. Wer hätte in dieser korrupten Welt ein größeres Anrecht auf Betrug als diejenigen, die sonst nichts haben? Es ist auch gar nicht der Betrug, der mich wütend macht, sondern seine Notwendigkeit. Ich reagiere auf Armut in der Großstadt wesentlich gereizter als auf Armut auf dem Land. Dort, in den Dörfern und auf den Feldern, wirkt sie viel weniger tragisch. Aber hier, in den Schluchten der Metropole, steht sie in Relation zu den Einkaufszentren, den schicken Restaurants und Cafés, den Türmen aus Stahl und Beton, den kolonialen Machtprotzen. Armut in der Stadt ist anklagend und ungerecht. Ich reagiere auf Bettler, Kranke, Krüppel, auf das ganze Elend erst mit Traurigkeit, dann mit Ohnmacht und schließlich mit ignoranter Gleichgültigkeit. Anders halte ich es nicht aus, ohne mir dauerhaft die Schuldfrage zu stellen.

Neben den Bettlern ist die Sudder Street auch für ihre Dealer berüchtigt. Jeder Zweite verkauft hier Haschisch. Rikscha- und Taxifahrer, Restaurantbesitzer und Hotelmanager – die Dealerdichte in der Sudder Street ist enorm. Auch ein paar Taugenichtse und Schleicher verdingen sich hier. Es sind junge Typen, gerade einmal zwanzig Jahre alt, groß, schlaksig, vernarbte Gesichter. Ihre Arbeit ist das Organisieren, das Ausloten von Möglichkeiten und natürlich der Haschischverkauf. Sie sind professionell, freundlich, unaufdringlich. Vor allem jetzt, da gerade wenig los ist. Nur ein paar Schritte entfernt von einer winzigen Hütte, in der ein Polizist auf Recht und Ordnung in der Sudder Street achtet, sprechen wir übers Geschäft.

Die Lieferkette des Haschischs ist lang. Die Jungs wissen selbst nicht genau, wo ihre Ware herkommt. Bestenfalls aus den Bergen Himachal Pradeshs, erzählen sie. Aber das scheint mir unwahrscheinlich. Dafür ist das Angebot zu groß und die Preise zu niedrig, als das es das beste Haschisch der Welt sein könnte, das in den fruchtbaren Tälern des Himalajas wächst.

„Macht euch der Polizist keinen Ärger?“, frage ich und deute auf das kleine Häuschen. „Kein Problem“, lachen die Jungs, „der ist nur da, damit die Touristen ein gutes Gefühl haben.“ Ein paar Ecken weiter lehnen schmierige, zwielichtige Gestalten an Mauerwänden. Es ist nicht sofort klar, ob sie Dealer oder Junkies sind.

In der Sudder Street dreht sich alles um die Touristen. Die Bettler, die Dealer, die Rikschafahrer wollen ihren Teil vom großen Los, das andere qua Geburt gezogen haben. Im Curd Corner wird westliches Frühstück serviert. Es gibt Müsli, Toast mit Marmelade und Eier. Das Spanish Café zieren vollgekritzelte Wände. Euphorisierte junge Inder spielen Jenga. Das Personal ist abgeklärt freundlich – es fehlt jegliche Atmosphäre. Die Sudder Street ist ermüdend. Sie wirkt ausgelaugt. Das vibrierende, bunte, lebendige Indien findet woanders statt.

Sudder Street, Kolkata, Indien

Rikscha-Wallahs und das Elend der Stadt

Am westlichen Ende der Sudder Street öffnen improvisierte Küchen auf dem Bürgersteig. Currys brodeln über selbst gebauten Feuerstellen. Ein paar Holzbänke stehen unter bunten Sonnenschirmen. Hier gibt es das günstigste Essen in ganz Kolkata – Tandoori Roti, Paneer Masala, Aloo Gobi. Jeden Morgen sind die Holzbänke bis auf den letzten Platz belegt. Rikschafahrer und Tagelöhner, Zeitungsverkäufer, Ladenbesitzer und Rucksackreisende starten hier in den Tag. Frauen waschen Geschirr in der Gosse an einer öffentlichen Pumpe. Kleinkinder krabbeln um ihre Beine. Auf dem Gehweg haben sie ihr Zuhause eingerichtet. Eine Heimat aus Holzverschlägen und Plastikplanen. Dahinter erhebt sich die koloniale Pracht des indischen Nationalmuseums.

In den schmalen Seitengassen, die von der Sudder Street abgehen, riecht es nach Urin. Ziegen suchen in Müllhaufen nach Fressbarem. Krähen sitzen auf Mauern und Dächern, recken ihre scharfen Schnäbel in die Höhe. In der Dämmerung verrichten ein paar arme Gestalten hier ihre Notdurft.

Müde Rikscha-Wallahs schleppen sich durch die Gassen. Hier in Kolkata rollen die letzten offiziell in Indien zugelassenen Laufrikschas über den Asphalt. Als Sinnbild kolonialer Zweiklassengesellschaft sollten sie bereits mehrfach verboten werden. Doch die Rikscha-Wallahs protestieren. Ihre als unwürdig bezeichnete Arbeit ist immerhin Arbeit und für viele Familie die Existenzgrundlage. So ziehen die Männer auch heute noch ihre Kutschen durch die Innenstadt Kolkatas. Gerade im Monsun, wenn schlammiges Wasser kniehoch in den Gassen steht, sind sie oft die zuverlässigsten Transportmittel.

Garküchen, Sudder Street, Kolkata, Indien
Rikscha-Wallah, Kolkata, Indien

Kolkata ist ein Drecksloch. Schon Günter Grass bezeichnete die Stadt literarisch anspruchslos als Scheißhaufen Gottes. Auch Mutter Theresa trug mit ihren Armen- und Waisenhäusern wesentlich zu Kolkatas Ruf einer Elendsmetropole bei. Etwa jeder dritte Einwohner lebt heute in einem Slum. Die Zahlen sind offiziell, erhoben in registrierten Armenvierteln. Wahrscheinlich sind es noch viel mehr, die ihre spärlichen Behausungen irgendwo zwischen dunkle Hauswände quetschen oder entlang der Bahngleise errichten.

Hier drängen sich Wellblechbaracken mit windschiefen Dächern eng zusammen. Fließendes Wasser gibt es nicht und oft auch keinen Strom. Der Müll in den Gassen verströmt einen beißenden Geruch. Meist sind es Migranten aus dem nahen Bangladesch, die seit mehr als dreißig Jahren in illegalen Slums hausen. Sie träumen von einem besseren Leben, vom Glück, das in der großen Stadt auf sie wartet. Als Tagelöhner verdingen sie sich mit dem, was ihnen gerade angeboten wird. Vier von fünf Arbeitern in Kolkata sind ohne Festanstellung. Manchmal verdienen sie etwas Geld, oft nicht.

Hinter den illegalen Baracken erheben sich die vielstöckigen Wohnhäuser der bessergestellten Gated Communities, eingezäunte Gebäudekomplexe mit Stacheldraht und Wachpersonal. Wer hier hoch genug wohnt, blickt vom Balkon mit Blumentöpfen über eine Betonmauer auf die Stelzenhäuser der Mittellosen. Zwei Welten berühren sich und sind doch weit voneinander entfernt.

Dazu kommen die emotional aufgeladenen Geschichten über die Müllkippen der Stadt und den dort lebenden Kindern. Kolkata ist der vorweggenommene Weltuntergang. Doch so sehr die Stadt erschreckt, so sehr fasziniert sie auch. Tatsächlich sind Leid und Not nicht größer als in anderen Metropolen des Subkontinents. Kolkata ist mehr als blankes Elend. Die Stadt gehört zum Triumvirat der großen indischen Ballungszentren. Neu-Delhi, Mumbai, Kolkata – Politik, Wirtschaft, Kultur.

Garküchen, Kolkata, Indien
Rikscha-Wallah, Kolkata, Indien

Die College Street in Kolkata

Kolkata ist das intellektuelle Zentrum des Landes. Die Filmszene hier versteht sich als künstlerisch anspruchsvoll. Sie verweigert sich dem Kitsch Bollywoods und verzichtet selbst auf die so beliebten choreografierten Tanzeinlagen. Stattdessen richtet sie einen kritischen Blick auf das Land, auf die Politik und die Umstände gesellschaftlichen Lebens.

Zwei Dutzend Theaterbühnen werden regelmäßig in Kolkata bespielt und noch mehr Museen zeigen historische und zeitgenössische Schätze. Hochschulen und Kunstakademien sind hier beheimatet. Auch das geschriebene Wort gehört unbedingt zur Stadt. Kolkata beherbergt die größte Bibliothek des Landes mit einer Gesamtregallänge von über fünfundvierzig Kilometern. Nirgendwo in Indien gibt es so viele Verlage wie hier.

In der College Street nahe der Universität von Kolkata stapeln sich in Dutzenden kleinen Läden die Bücher vom Boden bis unter die Decke. Mitten auf dem Bürgersteig befindet sich der größte nicht überdachte Buchmarkt der Welt. Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Bücher lagern hier. Der Buchmarkt ist thematisch in Gassen gegliedert. Da ist die Gasse für Mathematik, für Biologie, für Literatur. In einer weiteren Gasse liegen Tausende Biografien nebeneinander. Vor allem gebrauchte Bücher wechseln von einer Hand in die nächste. Die Studenten der Stadt bekommen hier Lehrbücher, aber auch Romane, Lyrik und Sachbücher, die weit über die Grenzen der akademischen Wissenswelt hinaus reichen.

College Street, Kolkata, Indien
College Street, Kolkata, Indien

Indian Coffee House – das Café der Revolutionäre

In der College Street sind wir mit Viv verabredet. Der junge Mann ist ein Kind der Stadt, sein Herz schlägt im Rhythmus der Metropole. Mit ihm schlendern wir entlang des Buchmarktes, bis er uns hinter den Bücherstapeln in den versteckten Eingang eines kolonialen Gebäudes führt. Das Treppenhaus ist eine Zumutung. Rostrote Paanflecken sprenkeln schmutzig-grünen Wände, es riecht unangenehm nach Abfall. Ein Bettler hockt auf den ausgetretenen Steinstufen.

Im ersten Stock öffnet sich eine Halle. Riesige Rotorblätter schwirren unter der hohen Decke. Wir stehen mitten im Indian Coffee House, einem alten Kaffeehaus aus der britischen Kolonialzeit. Es sieht noch so aus wie vor mehr als 70 Jahren, als die indische Künstler- und Intellektuellenszene, die Bohemiens der 1940er und Revolutionäre hier ihren Kaffee trinken. Im Schutz dichter Rauchschwaden diskutieren sie damals, wie die verhassten britischen Besatzer aus dem Land zu werfen seien. Hier treffen sich die führenden Köpfe der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Nationalisten und Kommunisten schmieden gemeinsam Pläne gegen die Kolonialherren.

Heute wie damals sitzen Studenten und Professoren an den eng beisammen stehenden Tischen in dem theatergroßen Saal. Lautstark besprechen sie Neuigkeiten und Skandale aus Wirtschaft und Politik. Die hohen, kahlen Wände sind mittlerweile vergilbt. Ein übergroßes Gemälde hängt an der Wand. Es zeigt den Schriftsteller Rabindranath Tagore, den ersten Nobelpreisträger Asiens, der sowohl für Indien als auch für Bangladesch die Nationalhymnen schrieb.

Heute wie damals tragen die Kellner klassisch weiße Hosen, Hemden und Kappen. Sie balancieren verbeulte Tabletts durch die Reihen, auf denen Tee und Kaffee in Porzellantassen schwappt. Ganz hinten links im Saal ist ein letzter Tisch frei. Auf dem Weg dorthin sausen einhundert Gesprächsfetzen an uns vorbei. Geschirr klappert und klirrt. Es ist so verdammt laut, dass wir unsere eigenen Worte kaum verstehen. Die Revolution ist schwerhörig geworden.

Das Indian Coffee House schmückt sich mit dem Glanz der Vergangenheit. Der Ruhm zurückliegender Tage ziert viele Ecken Kolkatas. Aus ihm zieht die Stadt bis heute ein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Hier war das Machtzentrum des britischen Kolonialreiches und hier balgte sich die indische Elite in den Jahren der Unabhängigkeitsbewegung.

Indian Coffee House, Kolkata, Indien

Kolkata und die Briten

Dabei ist die Stadt noch so jung, dass sie kaum mehr als einen Wimpernschlag der jahrtausendealten Geschichte des Subkontinents miterlebt hat. Damals, im Jahr 1690, sucht die britische Ostindienkompanie einen geeigneten Ort für eine Niederlassung im westlichen Gangesdelta. Am Ufer des Hooghly, einem Mündungsarm des Ganges, errichten sie nahe dem Dorf Kalikata ihre Handelssiedlung. Aus Kalikata wird bald schon Kalkutta. Die Siedlung floriert dank der Nähe zum Meer und wächst in wenigen Jahren zu einer bedeutenden Handelsstadt. Opium wird von hier gewinnbringend nach China verschifft. Nach Londoner Vorbild entstehen eindrucksvolle Villen, englische Kirchen, Prachtstraßen, Parkanlagen. Kalkutta entwickelt sich zum wirtschaftlichen und politischen Zentrum der britischen Ostindienkompanie und wird Hauptstadt ihres riesigen Einflussgebietes.

Knapp 140 Jahre genießt Kalkutta den Platz an der Sonne. Doch dann, im Jahr 1911, wechselt die Administration nach Neu-Delhi und auch wirtschaftlich verliert Kalkutta an Bedeutung. Der Hooghly verschlammt und ist für die großen Handelsschiffe nicht mehr befahrbar. Dafür spült die Landflucht immer mehr hoffnungsvolle Menschen in die Stadt.

Wirklich schwer trifft Kalkutta die Unabhängigkeit Indiens und die damit einhergehende Teilung zwischen Indien und Pakistan. Plötzlich liegt die Stadt nur noch am östlichen Rand Indiens. Millionen Religionsflüchtlinge aus dem nahen Ostpakistan drängen in die Stadt und bringen die ohnehin überfüllten Armensiedlungen Kalkuttas zum Kochen. Unter dem plötzlichen Andrang bricht die Lebensmittelversorgung zusammen. Menschen verhungern auf der Straße: Der Ruf einer Elendsmetropole ist geboren.

Gerade als sich die Situation bessert und die Neuankömmlinge nach Jahren ihren Platz in der Stadt finden, bricht Krieg zwischen Indien und Pakistan aus. In der Folge wird Ostpakistan zu Bangladesch und wieder einmal fliehen Hunderttausende nach Kalkutta. In fünfzig Jahren wächst die Bevölkerung von 4,5 Millionen auf 13 Millionen Menschen. Diesem gewaltigen Anstieg hält die Infrastruktur Kalkuttas nicht stand.

Mittlerweile leben offiziell rund fünfzehn Millionen Menschen im Ballungsgebiet der Stadt. Die Pendler, die jeden Tag aus dem Umland kommen, sind nicht mitgezählt, ebenso wenig die Menschen, die wie in der Sudder Street unter Planen wohnen. Sie haben oft nicht einmal Papiere, die ihre Existenz bescheinigen. Niemand weiß genau, wie viele Menschen hier unterwegs sind.

Straßenszene, Kolkata, Indien
Straßenszene, Kolkata, Indien
Fleischverkäufer, Kolkata, Indien

Kolkata, eine Stadt in Ausschnitten

Kalkutta heißt heute, nach einer groß angelegten, landesweiten Umbenennungsaktion kolonialer Namen Kolkata. Aber das ist nicht die einzige Veränderung: Der wirtschaftliche Aufschwung Indiens des zurückliegenden Jahrzehnts dringt auch durch die Straßen der einstigen Elendsmetropole. Rund um den Maidan, der grünen Lunge der Stadt, wirkt Kolkata aufgeräumt. Hier kann man frei atmen, ein Gefühl, dass in anderen indischen Großstädten schon mal verloren geht. Eine aufstrebende Mittelschicht flaniert durch Einkaufszentren und Geschäftsviertel, trinkt Kaffee in den Filialen globaler Franchiseunternehmen, die aus dem Heißgetränk einen Lifestyle machen.

Auch wir sitzen in einem Café. Ein dünner Nieselschleier hängt vor den großen Fenstern. Er ist so fein, dass draußen auf der Straße niemand nass zu werden scheint. Himmel und Beton und Asphalt: Alles ist grau. Es tröpfelt von der Dachkante. Drei Frauen hocken auf den Treppenstufen vor dem Café. Es sind Bettlerinnen, die hier ihre Basis aufgeschlagen haben. Zu ihnen gehören drei Kinder. Sie schwärmen durch ihr Revier und bringen verschiedene Lebensmittel zurück. In einer großen Plastiktüte lagern sie die Beute, die kontinuierlich von einer der Frauen bewacht wird. Doch während sich die Tüte füllt, bleibt der Blick der Frau leer. Ausdruckslos starrt sie hinein in den Tag, jeden Tag.  

Die Kinder sind aufgeweckter. Sie lachen selbst im Alltagsgrau, toben gemeinsam hin und her. Für sie ist das Leben noch ein Spiel. Das ändert sich, sobald ihre Niedlichkeit verschwindet. Dann lernen sie die Bitterkeit der Gosse. Jugendliche Bettler haben es schwer. Sie sind nicht erbärmlich genug, um erfolgreich zu sein. Niemand widmet ihnen auch nur einen Blick.

Straßenszene, Kolkata, Indien

Abseits der großen Einkaufsstraßen essen wir mit Viv und seinen Freunden in einem bengalischen Restaurant Aloo Posto – Kartoffeln mit Opiumsamen in Senfsoße. Alle Tische sind besetzt, dabei ist es noch viel zu früh fürs Abendessen. „Kolkata“, erzählt Viv, „ist entspannter der Rest des Landes. Wir haben immer genug Zeit, um in einem Restaurant zu sitzen.“ Die Menschen hier sind für ihre Gastfreundschaft berühmt, für ihre bejahende Einstellung zum Leben und für gutes Essen. Kati Rolls, frittierte, mit Ei ummantelte und mit scharfem Hühnchenfleisch oder Paneer gefüllte Wraps sind der Inbegriff der Snackkultur in Kolkata.

Seit Jahrhunderten ziehen Menschen aus nah und fern in die Stadt. Sie bringen ihre Traditionen mit und tragen zur vielfältigen Küche Kolkatas bei, die über die Landesgrenzen hinaus ihres gleichen sucht. Chinesen, Europäer und Muslime sorgen für Abwechslung. Dazu kommen die verschiedenen indischen Einflüsse vom Punjab bis Tamil Nadu und natürlich die lokale bengalische Küche.

In Kolkata gibt es Restaurants, die legal Rindfleisch servieren. In der mehrheitlich hinduistischen Stadt ist Rindfleisch nicht nur toleriert, es ist beliebt. Viv, selbst leidenschaftlich gerne in anderen Ländern unterwegs, kehrt für das Essen immer wieder nach Kolkata zurück. „So eine kulinarische Vielfalt wie in meiner Stadt“, sagt er, „habe ich noch nirgendwo anders erlebt“.

Straßenszene, Kolkata, Indien
Straßenbarbier, Kolkata, Indien

Kali, die Schreckliche

So spannend wie das kulinarische Angebot sind auch die Bräuche, Traditionen und Glaubenssätze in der Stadt. Kali, die schwarze Göttin, ist die Schutzpatronin Kolkatas. Sie ist der personifizierte Zorn, die dunkle Seite der Macht, die weibliche Energie des Zerstörers Shivas. Überall in der Stadt sind ihr Tempel geweiht. Der Kalighat Tempel gehört zu den wichtigsten Kalitempeln in ganz Indien und ist für die Hindus der heiligste Ort in Kolkatas. Er befindet sich umgeben von schmalen Gassen und Märkten mitten in einem Wohngebiet. Bettler und Prostituierte sind hier in der Gegend beschäftigt. Die räumliche Nähe zu Kali soll ihnen Glück bringen. Täglich pilgern die Gläubigen hierher, um der dunklen Göttin die Ehre zu erweisen.

Kali ist ein schreckliches Wesen. Sie zeigt sich mit grimmiger Fratze und ausgestreckter, bluttriefender Zunge. Abgeschlagene Köpfe baumeln um ihren Hals. Das Kolkata nicht schon lange untergegangen ist, liegt auch an ihr. Niemand wagt es, sich mit Kali anzulegen. Um ihren Blutdurst zu stillen, werden ihr gelegentlich schwarze Ziegen geopfert. Doch die Hindus verehren ihre dunkle Göttin nicht aus Furcht, sondern Dankbarkeit. Ihre zerstörerische Kraft, so glauben sie, ist die Voraussetzung für jeden Neuanfang. Ohne Kali gäbe es keine Zukunft.

Der hinduistische Aberglaube findet nicht nur in den Tempel statt, sondern auch auf der Straße. Das größte Fest der Stadt, die Durga Puja, ehrt die Muttergöttin Durga in prächtigen Prozessionen. Eine Woche feiern Hindus, Sikhs, Muslime und Christen zusammen. Sie schmücken gemeinsam Paradewagen und Altäre, die sie in der Nachbarschaft errichten. Jede Gemeinschaft trägt ihren Teil zum Straßenfest bei. Schon Tage im Voraus werden die leckersten Speisen vorbereitet. Die Durga Puja ist ein soziales Ereignis, das die Menschen über die Grenzen der Religion zusammenbringt.

Literatur Indien

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Zwischen Himalaja und Indischem Ozean entstehen atemberaubende Geschichten. Wenn ihr Lust habt mehr über den spannenden Subkontinent zu erfahren, bekommt ihr hier 11 Literaturtipps von uns, mit denen ihr vom heimischen Sofa in die faszinierende, ungeschminkte Welt Indiens eintauchen könnt. Und ja, Rochssare hat sie alle selbst gelesen.

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Die Handwerker von Kumartuli

Während der Durga Puja werden riesige Lehmfiguren der Göttin durch die Stadt getragen. Die meisten von ihnen stammen aus dem Viertel Kumartuli, dem Viertel der Kunsthandwerker und Bildhauer. Flussaufwärts vom Stadtzentrum befinden sich ihre Werkstätten. Hier am Fähranleger Bag Bazar wirkt Kolkata plötzlich kleinstädtisch, beinahe ländlich.

In der heißen Mittagssonne spazieren wir durch menschenleere, verwinkelte Gassen. Ein paar Hunde dösen im Schatten eines Baumes. Enge Pfade führen zwischen Häusern entlang. Sie sind gerade breit genug, um einer Person den Durchgang zu gewähren. Hinter halb geöffneten Flügeltüren stehen plumpe Strohpuppen in dunklen Werkstätten. Es dauert eine Weile, bis sich die Augen an das wenige Licht gewöhnen.

Drinnen ist es angenehm kühl. Große und kleine Figuren lehnen an den Wänden. Sie bilden die Gerüste der Prozessionsfiguren. Handwerker modellieren mit Lehm die Außenhüllen. Sie verwandeln die klobigen Strohbündel in hübsche Wesen mit runden Bäuchen, zarten Gliedern und ausdrucksstarken Gesichtern.

Kumartuli, Kolkata, Indien
Kumartuli, Kolkata, Indien

Dabei beschränken sich die Handwerker nicht nur auf Durga oder Kali. Das gesamte hinduistische Pantheon wird hier geformt. Shiva, Ganesh, Krishna – selbst Ikonen wie Mahatma Gandhi entstehen hier. Die Figuren dienen je nach Größe dem Hausgebrauch oder werden für Paraden, öffentliche Plätze und Museen angefertigt. Die Bildhauer arbeiten das ganze Jahr, doch ab August, wenn die Durga Puja näher rückt, sind sie besonders eifrig. Dann werden die Götterfiguren nicht nur geformt, sondern auch bunt bemalt und in festliche Kleider gehüllt.

Das Rohmaterial holen die Handwerker aus dem Hooghly. Mit schwerfälligen Frachtkähnen werden Stroh und Schlamm aus dem Flussbett nach Kumartuli gebracht. Auf dem Höhepunkt der Durga Puja werden die Figuren wieder im Hooghly versenkt. Ein ewiger Kreislauf.

Für die Bildhauer in Kumartuli gehört Handarbeit zum täglichen Geschäft. Das ganze Viertel ist eine Manufaktur. Die Schneider, Barbiere und Schuster arbeiten hier noch wie ihre Väter und Großväter. Ein Scherenschleifer klappert mit seinem Fahrrad und zwei Dutzend Scheren durch die Gassen. Er radelt an einem jungen Mann vorbei, der Zuckerrohrstangen durch eine mechanische Presse drückt. Hirten treiben eine Ziegenherde am Ufer entlang. Jugendliche baden im Fluss. Sie schwimmen hinaus bis zu den Fähren, die im regelmäßigen Takt den Hooghly befahren und lassen sich an herabhängenden Reifen durchs Wasser ziehen. Manch wagemutige klettern hinauf auf die Boote, um mit einem Salto zurück in die Fluten zu springen.

Kumartuli, Kolkata, Indien
Kumartuli, Kolkata, Indien
Kumartuli, Kolkata, Indien

Howrahbrücke und Blumenmarkt

An Bord einer dieser Fähren fahren wir flussabwärts. Die Ufer des Flusses sind geschäftig. An den Ghats waschen die Bewohner der Stadt erst sich selbst und dann ihre Kleider. Nach zwei Kilometern passieren wir die Howrahbrücke. Sie ist Kolkatas Wahrzeichen und eine der verkehrsreichsten Brücken der Welt. Stahl und Abgase gehören hier unweigerlich zusammen. Etwa eine Million Menschen passieren täglich die Brücke. Sie wechseln zwischen Kolkata und der Schwesterstadt Howrah am gegenüberliegenden Ufer hin und her. Klapprige Linienbussen, Lastwagen, hupende Autos und Taxis schieben sich gemächlich über die Brücke. Aber auch Fußgänger sind unentwegt auf ihr unterwegs. Für Zehntausende Pendler, die in katastrophal überfüllten Zügen täglich den Howrah Bahnhof erreichen, ist die Brücke das Tor nach Kolkata.

Nicht weit entfernt, am südöstlichen Ende der Howrahbrücke, befindet sich der Blumenmarkt am Mullik Ghat. Rund um die Uhr werden hier Blumen im großen Stil verkauft. Lastenträger schultern Tausende Blüten und Knospen in gigantischen Körben. Das Gedränge ist riesig. Wer auch immer in Kolkata Blumen braucht, kommt hierher. Das gilt für Hotel- und Restaurantbesitzer ebenso wie für Veranstalter von Konferenzen oder Hochzeitsfeiern. Täglich werden orangene und gelbe Ringelblumenblüten zu langen Tempelgirlanden gebunden und Gestecke für religiöse Zeremonien arrangiert.

Blumenmarkt, Kolkata, Indien
Blumenmarkt, Kolkata, Indien

Wohnzimmergespräche

Abends sitzen wir mit Viv und ein paar Freunden in einem Wohnzimmer, irgendwo in der Megametropole. Eine Flasche Old Monk – süßer, indischer Rum – steht auf dem Tisch, dazu eine Wasserpfeife.

Wir quatschen über Indien, Korruption auf allen Ebenen und darüber, das nur zwei Prozent der Einkommen im Land versteuert werden. Viv kennt sich aus, spürt er doch für die Regierung Steuerhinterziehung auf.

Wir sprechen aber auch über die in den letzten Jahren erstarkende hindunationalistische Bewegung unter Premierminister Modi. Darüber, dass die Politik im Land unter religiösen Einfluss gerät. Das liberale Indien, das in den 1970er-Jahren Ziel vieler Hippies und Aussteiger war, gibt es heute nicht mehr.

Einer der Freunde in unserem Kreis ist Rahul. Ein gutmütiger junger Mann, der beim Lächeln den linken Mundwinkel lässig nach oben zieht. Doch wenn er über den Istzustand Indiens spricht, verschwindet die Milde aus seinem Blick. Der wachsende Nationalismus macht ihm Angst. Er fürchtet sich vor dem immer heftiger propagierten Hinduismus als einzigen Weg Indiens. In seiner Fantasie entwickelt sich ein System im Land, das Indien in 20 Jahren wie den heutigen Iran werden lässt.

Viv geht es nicht anders. Die beiden Freunde halten wenig von ihrem Premierminister und dessen Politik. Doch politischen Unmut in der Öffentlichkeit auszudrücken, wird immer unangenehmer. Viv fürchtet um seinen Job, wenn er sich kritisch positioniert. Schon ein Gespräch mit Fremden kann gefährlich werden. Immer wieder kommt es zur Gewalt, weil radikale Hindus, ermutigt durch die gegenwärtige politische Linie, weder Kritik noch Vielfalt dulden.

Howrahbrücke, Kolkata, Indien
Howrahbrücke, Kolkata, Indien
Slum, Howrahbrücke, Kolkata, Indien

Auch wir haben während unserer Zeit in Indien den wachsenden Hindunationalismus erlebt. In einem Land, das seit Jahrhunderten von religiöser Vielfalt geprägt ist, werden öffentliche Äußerungen gegen Minderheiten immer populistischer und radikaler. Hinduistische Bürgerwehren attackieren christliche und muslimische Einrichtungen.

Indien ist mit mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern natürlich viel zu gigantisch und kulturell verschieden, als das eine Entwicklung nicht auch Gegenbewegungen mit sich ziehen würde. Doch die indische Gesellschaft ist roh. Im überbevölkerten Land herrscht ein ständiger Überlebenskampf. Es gibt keine Rücksicht auf Geschlecht oder Alter. Wir haben gesehen, wie Wortgefechte in Sekunden zu Schlägereien wurden und Menschen mit Holzlatten aufeinander losgingen. „Das Ego“, erzählt Rahul, „ist das wichtigste in Indien. Money matters, danach kommt die Familie und dann alles andere.“ Das romantische, verspielte Bild, das Bollywood von Indien zeichnet, rauscht kolossal an der Wirklichkeit vorbei.

Jemand rollt einen Joint. Das Gras stammt aus eigenem Anbau, die Samen aus dem Himalaja. „Zum Glück gibt es Kolkata“, lächelt Viv. Hier hatten die Kommunisten lange eine Hochburg, verwalteten vierunddreißig Jahre ununterbrochen die Stadt und die umliegende Provinz Westbengalen. Weltweit hielt sich weder davor noch danach eine demokratisch gewählte kommunistische Regierung so lange im Amt.

Wenn Viv über seine Heimatstadt spricht, interpretiert er sie gern als Gegenpol zu Neu-Delhi und Mumbai. In Kolkata laufen die Dinge einfach anders. Die Menschen sind hier kulturell näher an Europa. Sie geben ihre Einkommen eher für Bücher und Reisen aus, als für Autos und die neueste Technik. Außerdem sind die Menschen lieber angestellt, als unternehmerisch tätig. Die meisten großen Firmen in der Stadt werden deshalb von Zugezogenen geleitet.

Couchsurfing, Kolkata, Indien

Fußball ist in Kolkata wesentlich beliebter als Indiens Nationalsport Kricket. Die Premier League und La Liga sind ständige Gesprächsthemen. Die Nationalmannschaften von Argentinien und Brasilien haben hier große Fanlager. Mit Stolz erzählen Rahul und Viv das Oliver Kahn sein letztes Spiel für die Bayern gegen ihren Verein Mohun Bagan in Kolkata spielte. Gemeinsam haben die Freunde einen Förderverein gegründet: FIIOB – Football Is In Our Blood. Sie wollen mit dem Fußball die Gleichberechtigung zwischen Jungen und Mädchen voranbringen, aber auch das Bewusstsein für Umweltschutz und Müllvermeidung stärken.

Beschreibt Kolkata mit einem Wort, fordern wir unsere Freunde auf. Ihre Antwort kommt überzeugend schnell: Solidarität. Das ist es, was die Stadt zusammenhält. „Kolkata“, so sagt Viv, „ist die Stadt in der Hindus zu Weihnachten Schlange stehen, um in einer jüdischen Bäckerei von Moslems gebackenen Kuchen zu kaufen.“ Was nach utopischer Religionsverständigung klingt, passiert tatsächlich. Weihnachten ist nach der Durga Puja das zweitgrößte Fest der Stadt, obwohl nur ein Prozent der Bevölkerung Christen sind. Dann sind die Straßen überall in Kolkata beleuchtet, die Menschen feiern, treffen sich mit Freunden, essen und trinken gemeinsam.

Die berühmteste Bäckerei Kolkatas ist die jüdische Bäckerei Nahoum and sons. Während der Weihnachtsfeiertage stehen hier Hunderte Menschen Schlange und warten oft stundenlang auf den besten Kuchen der Stadt. Die meisten von ihnen sind Hindus. Die Mitarbeiter der Bäckerei sind Muslime.

Zwei Kilometer von der Bäckerei entfernt befindet sich die Synagoge von Kolkata. Sie wird seit Generationen von muslimischen Hauswarten und Verwaltern betreut. Die jüdische Gemeinde umfasste in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts noch viertausend bis sechstausend Mitglieder. Heute sind es weniger als dreißig, aber noch immer erfüllen die muslimischen Angestellten ihren Dienst. Juden und Muslime sind hier in Kolkata freundschaftlich miteinander verbunden.

„Die Stadt hat nicht viele Sehenswürdigkeiten. Es sind die Menschen, die ihr die Seele geben.“, erzählt Viv zum Abschluss. Wir prosten uns mit Old Monk zu. Kolkata begegnet jedem mit entwaffnender Menschlichkeit. Über der Stadt liegt ein atmosphärisches Netz aus Widersprüchen. Hier tanzen die Bewohner auf ihre eigene Weise. Kolkata kann man nicht einfach besuchen. Kolkata muss man fühlen.

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Fischer auf dem Hooghly, Kolkata, Indien
am Hooghly, Kolkata, Indien

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