Delhi, Indien, Titel
Vom Rajpath zum Chandni Chowk

Delhi – Stadt der Städte


10. Januar 2021
Indien
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Magie, Müll, Menschenmassen. Delhi, diese berühmt berüchtigte Stadt, schluckt uns. Knapp siebzehn Millionen Menschen leben hier zwischen uralten Märkten und mittelalterlichen Ruinen, zwischen gläsernen Bürotürmen und modernen Einkaufszentren. Nirgendwo zeigt sich die Geschichte des Subkontinents so eindrucksvoll wie in der Hauptstadt Indiens. Armee auf Armee zog einst über die Gangesebene hierher und hinterließ ihre Spuren, ihre Identität, bevor sie von einem nachrückenden Heer vertrieben wurde. Aufstieg und Fall begleiten herrschaftliche Festungen, elegante Mausoleen, staubige Basare und ausladende Boulevards. Von Epoche zu Epoche wird die Stadt neu erobert und vernichtet und wieder aufgebaut.

Im Lauf der Zeit sollen sieben Städte auf dem Gebiet der heutigen Metropole gegründet worden sein. Die ältesten Funde reichen 3000 Jahre in die Vergangenheit zurück. Später kommen und gehen die Sultane von Delhi. Dann beaufsichtigt Mogulkaiser Shah Jahan den Bau königlicher Palastanlagen und Märkte in Old Delhi. Jede Herrscherdynastie errichtet ihre eigene architektonische Pracht. Die Briten protzen mit breiten Straßen und viktorianischer Herrlichkeit im von ihnen geschaffenen Neu-Delhi, der achten Stadt, die bald darauf zur Hauptstadt des unabhängigen Indiens ausgerufen wird.

Snackverkäufer in Old Delhi, Indien
Snackverkäufer in Old Delhi
Panipuriverkäufer in Old Delhi, Indien
Pani Puri gehören zu den beliebtesten Snacks in Indien
Nuss- und Trockenobstverkauf, Old Delhi, Indien
Nuss- und Trockenobstverkauf in Old Delhi

Stadtplaner bemühen sich, eine glänzende, auf Beton, Stahl und Glas ruhende, in den Himmel greifende Metropole zu errichten. Doch die Zeugen der Jahrhunderte weisen immer wieder zurück in die Vergangenheit. Delhi ist eine Stadt der Ruinen, durchflochten von Mythen und Legenden, übersät mit Grabstätten und Tempeln. Überall tauchen alte Moscheen und Medressen, antike Koranschulen, im modernen Stadtbild auf. Ganz plötzlich sind sie da, mitten auf einem Kreisverkehr, in den öffentlichen Gärten, umringt von mehrspurigen Straßen. Verschiedene Jahrtausende existieren hier nebeneinander. Neu-Delhi ist nicht neu. Die Stadt steht auf einem Friedhof untergegangener Machtzentren. Ihre Straßen führen heute Motorräder und Taxis, so wie sie einst die Kutschen und Elefanten der Sultane führten.

Delhi ist dynamisch. Zusammen mit den Trabantenstädten Noida und Gurgaon ist die Stadt international und zugleich die Drehscheibe des Landes. Delhi wächst unaufhaltsam in die Moderne und driftet doch immer wieder in mythisch verklärte Dimensionen ab. Delhi verstehen ist eine Lebensaufgabe. Langweilig wird es hier nie. Satellitenschüsseln und Klimaanlagen hängen in ungezählten Dutzend an den Fassaden der Hochhäuser, die der wachsenden Mittelschicht ein behagliches, weil teures Heim versprechen. Vor allem der IT-Sektor hat in den zurückliegenden Jahren viel Geld in die Stadt gespült, das in glitzernden Einkaufszentren, Sterneküchen und gehobenen Bars und Cafés verjubelt wird. Die Sommerferien verbringt Delhis Oberschicht nicht mehr in den Hill Stations im Himalaja, sondern in der Alten Welt Europa oder in den USA.

Delhis gestiegene Wirtschaftsleistung führt aber auch zu verstopften Straßen, einer katastrophalen Luftverschmutzung und Millionen Litern ungeklärter Abwässer, die täglich in den Yamuna geleitet werden. Je weiter die Stadt wächst, desto größer wird auch die Armut. Es heißt, dass jede Woche etwa sechstausend mittellose Arbeiter nach Delhi ziehen. An den großen Kreuzungen der Stadt zeigen Bettler ihre schmutzigen Handflächen in der Hoffnung, man möge ihnen aus Erbarmen ein paar Rupien zustecken. Sie hausen unter Straßenbrücken und in Parkanlagen, leben auf der Straße und in Jhuggis, den heruntergekommenen Slums. Ihre Küchenfeuer flackern nachts überall in der Stadt.

Rashtrapati Bhavan, Delhi, Indien
der Präsidentenpalast Rashtrapati Bhavan gehört zu Indiens größten Raj-Bauten aus der britischen Kolonialzeit
Rashtrapati Bhavan, Delhi, Indien

Rajpath

Das Zentrum der modernen Stadt, das Zentrum Neu-Delhis, liegt um den Präsidentenpalast Rashtrapati Bhavan. Es ist eine Demonstration britischen Machtanspruchs, die sich auch vor den Palästen vergangener Jahrhunderte nicht verstecken muss. Mit seinen Kuppeln, Türmen und Säulen gehört es zu den größten und prächtigsten Bauwerken, die unter britischer Herrschaft in Indien errichtet wurden. Hier begegnen sich die architektonischen Stile des Okzidents und des Orients. Griechische Bögen und Säulen verschmelzen mit asiatischer Steinmetzkunst und kommen gleichsam klassisch und verspielt daher.

Von hier führt die Prachtstraße Rajpath zweieinhalb Kilometer schnurgerade bis zum östlich gelegenen Kriegsdenkmal India Gate. Breite Grünstreifen, Brunnen und Wasserläufe säumen die Strecke. Ausladende Kasuarinen spenden Schatten. Für die Briten ist der Rajpath eine imperiale Champs-Élysées – breiter und beeindruckender als alle Paradestrecken im alten Europa. Der Rajpath ist so weitläufig, das er selbst in einer vollgestopften Stadt wie Delhi viel Platz bietet. An schönen Tagen sitzen Familien und Liebespaare im Grün, picknicken, tagträumen. Sie spazieren vorbei an Neem- und Tamarindenbäumen, vorbei auch an viktorianischen Bungalows hinter hohen Zäunen und Büschen, vorbei an Ministerien und Museen.

Eine schwere Smogwolke hängt über der Stadt. Der graue Schleier ist so dicht, dass selbst ein Blick zur Sonne problemlos auszuhalten ist, wenn man sie denn überhaupt hinter dem undurchlässigen Vorhang findet. Auch das India Gate verschwindet in der Suppe. Lediglich die Umrisse des gigantischen Triumphbogens lassen sich erahnen. Schon seit Wochen berichten lokale Zeitungen über die zunehmend verschmutzte Luft im Dezember. In den letzten Tagen wurde ihre Qualität stets irgendwo zwischen schlecht und sehr schlecht verortet. Heute trägt sie das Prädikat: bedrohlich. Atmen wird zum Abenteuer.

Rashtrapati Bhavan, Smog, Delhi, Indien
Rashtrapati Bhavan im Smog
Rajpath, Smog, Delhi, Indien
die Paradestrecke Rajpath verbindet den Präsidentenpalast mit dem India Gate
Rajpath und India Gate, Delhi, Indien
India Gate, Delhi, Indien
das India Gate ist ein Mahnmal für gefallene Soldaten im ersten Weltkrieg

Connaught Place

Vom India Gate sind es nur ein paar Minuten in nördlicher Richtung bis zum Connaught Place, der besten Einkaufsgegend der Stadt. Drei Ringstraßen führen um ein Zentrum, in dem eine gigantische indische Nationalflagge flattert. Acht strahlenförmig abgehenden Straßen kreuzen die Ringe. Hier flanieren die Reichen und Schönen, schlürfen Coffee to go, der von internationalen Franchiseunternehmen vertrieben wird oder mieten sich eine der weltweit teuersten Büroflächen mit luxuriöser Aussicht. Banken, Bars und Boutiquen reihen sich aneinander. Geld ist hier in ständiger Bewegung.

Koloniale Ordnung prägt den Connaught Place. Breite Straßen und Bürgersteige bieten Platz für Autos und Fußgänger gleichermaßen. Die Wege sind sauber, eben, frei von Stolperfallen und Rutschgefahren – keine Selbstverständlichkeit in Indien. Nachts funkeln Kostbarkeiten aus beleuchteten Schaufenstern auf die Gehwege und spiegeln sich in den resignierten Augen bettelnder Kinder.

Paharganj

Hinter dem Connaught Place werden die Straßen schmaler, schmutziger, schmieriger. Es sind zehn Minuten zu Fuß nach Paharganj, einem durchtriebenen Viertel, das für viele Reisende der erste Kontakt mit dem indischen Subkontinent darstellt. Hier befinden sich mehrstöckige Unterkünfte, die für sehr wenig Geld sehr wenig bieten. Hier schlendern aalglatte Typen, schräge Vögel und trickreiche Kleinganoven über die geschäftigen Märkte. Straßenkinder sind stets in Gruppen unterwegs, denn allein haben sie in Neu-Delhi keine Chance. Gegen die Grausamkeit der Stadt hilft Klebstoff. Schnüffeln betäubt den Schmerz.

Unzählige Geschäfte verkaufen sonderliche Kleidung, bunte Taschen, duftende Räucherstäbchen und Öle. Dazwischen öffnen Restaurants und Cafés, die mindestens fragwürdige Hygienestandards aufweisen. In einfachen Dhabas essen Rikschafahrer leckere Thalis.

Aus einem Imbiss heraus, der ausgezeichnete Puris, guten Chai und mäßigen Kartoffelbrei serviert, betrachten wir die Straße. Neu-Delhi im Speziellen und Indien ganz allgemein sind kein einfaches Pflaster; für niemanden. Das Land ist mächtig, zu mächtig für die Meisten. Das gilt nicht nur für die einfachen Arbeiter und Tagelöhner, die mit ihren dürren, klapperigen Körpern die schwersten Lasten schleppen. Viele Seelen gehen verloren. Auch und gerade Aussteiger aus dem Westen zerbrechen hier. Manch einer lebt die Freiheiten und Möglichkeiten des Landes, bis das eigene Leben aus den Fügen gerät. Dann versacken sie, bleiben zurück im Chaos des Subkontinents und landen früher oder später in Paharganj.

Zu ihnen gehört eine 72-jährige Britin, die seit vier Jahren in Delhi festhängt. Am Nachbartisch erzählt sie ihre Geschichte, redet pausenlos auf ein junges australisches Paar ein. Ihre Worte sind so laut, dass auch wir sie gut hören. Verrückte Dinge kommen aus ihrem Mund. Alles ein bisschen wirr, unwahrscheinlich, abstrus, ohne Zusammenhang. Der Imbiss hier ist der einzige Laden in der Straße, der ihre Anwesenheit noch toleriert, erfahren wir vom Kellner.

Auch Rainer sitzt in seiner Jeanskluft aus den 80ern häufig in unserer Nähe. Ganz oben auf seinem mageren Aussteigerkörper wuselt ein langer, grauer Schopf. Rainer sieht lumpig aus und wechselt berufsmäßig Geld auf der Straße. Was so viel bedeutet wie: Er sitzt jeden Tag stundenlang in diesem Imbiss, trinkt Chai, isst Chow mein und setzt sich sofort zu anderen Gästen, sobald die verrückte Britin eintritt, damit er nicht mit ihr reden muss. Aber auch Rainer hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Sein Weltbild ist in einem der letzten Jahrzehnte stehen geblieben und Gespräche mit ihm sind überwiegend sarkastisch und wütend und wenig fundiert.

Ein letzter regelmäßiger Gast hockt mit Trenchcoat und Jogginghose an einem Tisch draußen auf der Straße. Auf seinem faltigen Kopf sitzt eine Kappe, die die Einwohner des Kinnaur Tales in Himachal Pradesh tragen. Dämonische Züge verzerren sein Gesicht, eine Handvoll Zähne fehlt im Gebiss. Wir hören ihn nie sprechen. Wahrscheinlich ist er einsam, denn er freut sich überschwänglich über jede zufällige Begrüßung.

Paharganj ist voll mit ähnlichen Gestalten. Indiens Versprechen von Freiheit und Leichtigkeit balanciert auf einem schmalen Grat. Die Abgründe sind tief; tiefer vielleicht als anderswo. Leben in legalen Grauzonen ist weit verbreitet und es braucht wenig, um im Sumpf der Möglichkeiten stecken zu bleiben. Wer in Indien das Glück sucht, findet manchmal auch den Einstieg zur Hölle.

mobiler Verkaufsstand, Old Delhi, Indien
mobiler Imbissstand in Old Delhi
Arbeiter, Old Delhi, Indien
Arbeiter zwischen den Jobs
Old Delhi, Shahjahanabad, Indien
Old Delhi, das ehemalige Shahjahanabad
Ladenbesitzer in Old Delhi, Indien
Gasse in Old Delhi, Indien
in den Gassen Old Delhis
Gasse in Old Delhi, Indien

Old Delhi, die Stadt des Mogulkaisers

Von Paharganj, über die Gleise der New Delhi Railway Station, ist es nicht mehr weit bis nach Old Delhi, das im 17. Jahrhundert Shahjahanabad heißt. Hier ist es endgültig vorbei mit den Prachtstraßen, Boulevards und weiten Plätzen. Stattdessen steht die Hitze in den engen Gassen. Knatternde Motoren und unnachgiebiges Hupen hallen zwischen den nah beieinander stehenden Häusern. Rikschas und Lastenträger drängen durch die Straßen. Stinkende Abwässer rollen in schmalen Bächen an den Geschäften vorbei. Räucherstäbchen verströmen schweren Duft.

Eine acht Kilometer lange Stadtmauer umschließt Shahjahanabad, die bis heute von einer mächtigen Festung, dem Lal Qila, dominiert wird. Auch die gewaltige Jama Masjid, Indiens eindrucksvollste Freitagsmoschee, gehört zur architektonischen Finesse Old Delhis. Heute bröckelt Shahjahanabad vor sich hin. Die Stadtmauer liegt in Trümmern und von den einst vierzehn Stadttoren sind nur noch vier erhalten. Die stolze Hauptstadt des großen Mogulreiches erlebt schwere Zeiten. Doch noch immer sind die alten Gassen, die engen Schluchten und Seitenstraßen turbulent. Wer sich hinein wagt, braucht ein wenig Kühnheit. Übermächtige Menschenmassen drängen durch Old Delhi. Der dichte Verkehr ist kaum auszuhalten.

Doch genau hier, wo die Häuser immer näher zusammenrücken, ist es, wo uns Delhi endgültig vereinnahmt. Als Shahjahanabad errichtet wird, steht die Stadt in höchster Blüte. Schon die Sultane von Delhi, die bereits vier Jahrhunderte zuvor an dieser Stelle regieren, haben Wohlstand angehäuft. Shahjahanabad überragt sie alle. Europäische Reisende schwärmen in dieser Zeit vom Glanz der Stadt, berichten von Konkubinen am Hof und dem Wohlstand innerhalb der Stadtmauern. So prachtvoll und wohlhabend wie zu Beginn ist Shahjahanabad nie wieder.

Der Abstieg ist dramatisch. Spätestens mit der Unabhängigkeit Indiens 1947 und dem damit verbundenen Aufstieg Neu-Delhis versinkt Shahjahanabad in Armut. Der Sitz des Mogulkaisers verkommt zum beschämenden Anhängsel der modernen Metropole. Old Delhi überlebt, weil es sich in das größte Warenhaus Nordindiens verwandelt. Die Herrenhäuser und Prachtbauten der Stadt werden zu Lagerhallen. Noch heute flüstern die Geister der Vergangenheit aus ihren Mauern. Es sind brutale Geschichten, die sich hinter der höfischen Etikette der Moguln abspielten. Intrige und Mord, Verrat, Gier, Machtrausch.

Der alte, verführerische Charme Shahjahanabads ist verflogen. Was einst von Zeitgenossen als Weg ins Paradies gepriesen wurde, ist heute ein überfülltes, hektisches Armen- und Arbeiterviertel. Paanflecken beschmutzen abgenutzte Wände, die einst den Reichtum der Kaufleute bargen. In den Havelis, den schönsten Wohnhäusern der Stadt, befanden sich elegante Innenhöfe, kleine Lustgärten, Büchereien und Privatgemächer. Sie bildeten eine eigene kleine Welt in dem großen Durcheinander aus Gassen und Märkten. Heute sind die Innenhöfe Parkplätze, Brachen, Schutthalden. Kühe und Ziegen spazieren ein und aus. Aus den Privatgemächern sind kleine Werkstätten geworden, Schneider und Metallarbeiter verrichten hier ihre Arbeiten.

Arbeiter und Tagelöhner in Old Delhi, Indien
Arbeiter und Tagelöhner in Old Delhi
Arbeiter und Tagelöhner in Old Delhi, Indien
Arbeiter und Tagelöhner in Old Delhi, Indien
Chaipause nach der Arbeit

Chandni Chowk

Chandni Chowk ist die Hauptverkehrsstraße Old Delhis. Unter Shah Jahan ist sie ein lieblicher, von Bäumen umstandener Kanal. Zu beiden Seiten zieren Märkte das Ufer, die zu den prächtigsten in Asien und der gesamten islamischen Welt gehören. Elegante Karawansereien und Prachtgärten befinden sich hier. Handwerker verkaufen Schmucksteine und Perlmutt für königliche Wandverzierungen. Trampeltiere aus Kashgar werden ebenso gehandelt wie Zimt aus Madagaskar, Karawanen bringen Waren aus Zentralasien, burmesische Mädchen dienen als Konkubinen.

Es sind die Briten, die den Kanal 1857 zuschütten und asphaltieren, die Bäume fällen. Heute fahren Rikschas in ohrenbetäubendem Geknatter über ihn hinweg. Tagelöhner schieben schwere Holzkarren über die Straße, die meterhoch mit Kisten und Bündeln bestückt sind. Sie wuchten ihre Last erst an den vielen motorisierten Fahrzeugen vorbei und biegen dann in schmale Gassen, die sie mit ihren Karren zu blockieren drohen.

Chandni Chowk ist ein Trauerspiel, verglichen mit dem, was es einmal gewesen sein muss. Es scheint, als stehe der Verkehr hier ständig im Stau. Abgase vergiften die ohnehin schon schlechte Luft. Dazu kommt der Geruch von Ammoniak aus den öffentlichen Urinalen. Putz platzt von Fassaden, Fensterscheiben sind trüb, Häuserecken abgewetzt. Auf den Gehwegen kauen Kühe aufgeweichte Pappe. Gebrochene Geländer, löchrige Wellblechdächer, gammlige Lattenroste – alles ist hier im Verfall.

In den Seitengassen wird es noch verrückter. Hier raucht der Kopf. Abgase vermischen sich mit dem intensiven Geruch von Gewürzen und Räucherstäbchen, dem Schweiß der Menschen und all den anderen Ausdünstungen, die Old Delhi zu bieten hat. Dazu balgen sich Zähne fletschende Hunde, die ihren Frust in die Menge bellen. Es gibt Geschrei und Gezänk, Bollywoods hektische Filmmusik knarrt aus übersteuerten Lautsprechern. Motorradfahrer fordern hupend einen freien Weg durch verstopfte Gassen.

Rund um die Jama Masjid herrscht das größte Chaos. Hier geht gar nichts mehr voran. Passanten drängen zwischen Rikschas und Warenträgern, bis niemand mehr weiter kommen. Gemüsehändler, Juweliere und Teppichverkäufer hocken in ihren Geschäften, schlürfen Chai aus schmutzigen Gläsern. Unter der Hand verkaufen sie Haschisch, wechseln Geld und arrangieren, was in Indien arrangiert werden kann.

Chandni Chowk, Old Delhi, Indien
Schmuckverkäufer in Old Delhi, Indien
Schmuckverkäufer in Old Delhi
Stoffverkäufer in Old Delhi, Indien
Stoffverkäufer in Old Delhi

Delhi, harte Liebe

Delhi ist laut, dreckig, überfüllt, chaotisch. Die Stadt kämpft mit einem Image, das von Momentaufnahmen genährt wird. Ein einziges Bild der indischen Hauptstadt steckt in unseren Köpfen: gefangen im Verkehrssumpf zwischen Motorrädern, Karren, Kühen, Hunden und Ziegen, Fahrradfahrern und Fußgängern. Da sind die Männer, die Kisten auf den Köpfen tragen und Frauen, die Körbe balancieren oder ganze Baumstämme. Kein Durchkommen, kein Durchatmen. Dazu die erdrückende tropische Hitze und die von Abgasen verpestete Luft. So ist Delhi, ganz klar.

Und immer, wenn Delhi so ist, wenn sich gerade ein knochiger Alter auf einem Fahrrad mit Übergepäck durch die gefühlt schmalste Gasse von Old Delhi quetscht, wenn wegen ihm der ganze Verkehr stockt, das elendige Hupen noch elendiger in den Himmel schießt, dann, ja genau dann zücken Fotografen ihre Kameras, um den Daheimgebliebenen das typische Bild von Delhi zu liefern. Es ist ein Phänomen. Als Reisende wollen wir immer genau das Motiv einfangen, welches wir schon kennen, weil es typisch ist für das Land, die Stadt oder die Region. Sei es der Strohhut in Vietnam oder eben das Verkehrschaos in Delhi.

Niemand spricht über die fünf jungen Männer, die dem knochigen Alten augenblicklich zur Hilfe eilen, die von ihren Motorrädern springen und gemeinsam die schwere Ladung durch die Straße schieben. Ob sie aus reiner Nächstenliebe handeln, ihr Karma aufbessern wollen oder schlicht, weil sie es eilig haben und wissen, dass es ohne ihre Hilfe noch länger dauern wird, sei dahin gestellt.

Wenn man über Delhi spricht, erzählen Außenstehende vom Dreck der Stadt, von in Müllbergen sitzenden Kindern, von Kühen und Hunden, die es ihnen gleichtun. Und ja, diese Szenen existieren, sind Realität in Delhi, in Indien.

Nuss- und Trockenobstverkauf, Old Delhi, Indien
Nuss- und Trockenobstverkauf, Old Delhi, Indien
Snackverkäufer in Old Delhi, Indien

Trotzdem oder gerade deswegen erzählt niemand von der anderen Seite. Von den Hunderten Menschen, von den Muttis, die am frühen Morgen in ihrer Straße kehren, von den Ladenbesitzern, die die Gehwege wässern, damit der Staub nicht ins Innere ihrer Geschäfte dringt, davon, dass immer irgendwer Staub fegt oder den Müll kehrt, egal, wo man in der Stadt unterwegs ist.

Vielleicht entwickelt sich gerade eine Liebesgeschichte zwischen Delhi und uns. Weil Indien nirgendwo sonst mehr Indien, mehr Großstadt, mehr Gewusel, mehr Überraschung ist. Weil hier hinter jeder Ecke, sei sie auch noch so heruntergekommen, ein kleines Wunder liegen kann. Weil nur hier die lustigsten Schnurrbärte die größten Portionen Pani Puri anbieten, weil man nur hier durch die dreckigste Straße schlendert und plötzlich vor dem schönsten, verwahrlosten Haveli steht und sich augenblicklich in die prunkvolle Zeit der Moguln zurückversetzt fühlt.

Wir geben uns hin, verlieren uns, schalten den Kopf aus, ignorieren alle Pläne. Sicher, ab und an müssen wir uns die Nase zuhalten, sehr wahrscheinlich treten wir auch mal in einen Kuhfladen; wenn wir Pech haben, in einen frischen warmen. Wenn wir sehr viel Pech haben, tragen wir dabei Flip-Flops. An einem schlechten Tag passiert das mehr als nur ein Mal. Doch es geht weiter.

Arbeiter und Tagelöhner in Old Delhi, Indien
Arbeiter und Tagelöhner in Old Delhi, Indien
Arbeiter und Tagelöhner in Old Delhi, Indien

Die Farben, die Gerüche. Nirgendwo erlebt man eine Stadt so intensiv, so überfüllt, so bunt, so voller Möglichkeiten und so voller Gegensätze wie in Delhi. Wenn man es zulassen kann. Und wenn man Ohrstöpsel dabei hat. Dann wird es ein wenig leiser. Obwohl es immer noch laut ist. Nur nicht mehr so laut, dass man glaubt, man würde verrückt. Der Geräuschteppich ist nur so weit gedämpft, dass man auch dem tausendsten Rikschafahrer, Ladenbesitzer, Geldwechsler, Taugenichts und Tagedieb, Nepper und Schlepper, den Bettlern, den Drogenabhängigen, den Kindern und all den anderen, die in dieser Metropole permanent etwas wollen, freundlich lächelnd und nickend begegnen kann.

Die Ohrstöpsel sorgen dafür, dass wir nicht zu zermürbt sind ob des ganzen Lärms, sondern noch genug Kraftreserven haben zu sehen und zu riechen, zu schmecken und zu fühlen und nicht zu vergessen. So bleibt noch Energie in den Beinen, die uns durch die Gassen treibt, zur nächsten Entdeckung, zum nächsten urbanen Abenteuer, zu noch mehr Chaos und zu noch mehr Liebe. Denn ohne Liebe geht es nicht.

Das wissen auch die Millionen von Menschen, die es schaffen, hier zu leben, die sich zu arrangieren wissen, mit Millionen von Nachbarn. Liebe für all diejenigen, die gegen den Dreck der Stadt anfegen, obwohl es doch so aussichtslos erscheint. Liebe für diejenigen, die mit anpacken, obwohl niemand danach fragt, für die, die helfen, und die, die ruhig bleiben, für die, die Hunden Kekse kaufen und für all diejenigen, die Reis und Gemüse für die Kühe und Ziegen auf die Straße stellen, für all die, die im Chaos der Großstadt Zeit und Muße für ein Lächeln oder einen Augenblick des Mitgefühls finden. Liebe für all jene, die den Weg erklären, obwohl sie keine Zeit haben, die es einem leicht machen oder schwer, denn von Lektionen lernen wir, wir reifen, wir wachsen und machen es das nächste Mal hoffentlich besser.

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Nuss- und Trockenobstverkauf, Old Delhi, Indien
Dattelverkäufer in Old Delhi, Indien
Gemüseverkauf in Delhi, Indien

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