Ich bin in Behandlung. Nicht irgendwo, sondern im indischen Kerala in einem Ayurveda-Krankenhaus. Die uralte indische Heilkunst fasziniert mich. Dennoch bin ich nervös. Ich weiß nicht, was mich erwarten wird und noch schwirren zu viele Fragenzeichen durch meinen Kopf. Vom behandelnden Arzt habe ich erfahren, dass meine Dosha-Werte – mein Vata und auch mein Pitta – zu hoch sind. Daran setzen wir nun an.
Die Behandlungen für die erste Woche stehen fest und mein Tagesablauf sieht aus wie folgt: Morgens um 5.30 Uhr gibt es meine erste Medizin, einen ayurvedischen Kräutertee, der den Überschuss an Vata und Pitta lindern soll, um 6 Uhr folgt der Yogaunterricht. Danach gibt es schon die erste Kanne Zimt-Ingwer Tee, bevor gegen 8 Uhr der Arzt seine Runde dreht, Blutdruck misst, nach dem allgemeinen Wohlbefinden fragt, sowie ob ich Fragen oder Probleme auf dem Herzen habe. Um 9 Uhr steht dann das Frühstück auf dem Plan und eine Stunde später erhalte ich meine erste Behandlung des Tages. Abhyanga: Die klassische ayurvedische Ganzkörpermassage gehört zu den typischen vorbereitenden Behandlungen für eine Panchakarma-Kur.
Für die synchronisierte Ölmassage muss ich mich wie bei jeder Behandlung komplett entkleiden und bekomme ein kleines Stoffhöschen umgebunden, bevor ich mich auf die antike, massive Holzliege lege.
Vierhändig wird mir dann von Sheeja und Smitha, meinen beiden Massagetherapeutinnen, in immer gleichen synchronisierten Bewegungen aufgewärmtes Öl, in meinem Fall mit natürlicher Medizin angereichertes Öl auf Sesambasis, auf den Körper aufgetragen. In streichenden Bewegungen verteilen sie das Öl auf meinem Körper – von den Zehen bis zu den Fingerspitzen und wieder zurück. Besondere Beachtung schenken die beiden meinen Füße und Hände. Die Gesichts- und Ohrmassage findet bereits im Vorfeld statt.
Bei der Abhyanga Massage kommt mächtig viel Öl zum Einsatz, warum die Behandlung auch gerne „die große Einölung“ genannt wird. Ich rutsche auf der Liege regelrecht mit den Bewegungen der Therapeutinnen hin und her. Lediglich die leicht erhöhten Ränder der Holzliege stoppen meine ungewollten Bewegungen. Bei der Abhyanga Massage geht es nicht darum, die Muskeln mit viel Druck zu lockern. Vielmehr sollen Öl und Medizin tief in den Körper eindringen, um die dort angesammelten und festgesetzten Giftstoffe zu lösen, die dann leichter ausgeschieden werden können.
Die Abhyanga Massage regt zudem den Kreislauf an, macht die Haut geschmeidig, löst Stress, stärkt das Immunsystem, beruhigt die Nerven, kräftigt die Muskulatur, das Bindegewebe und Gelenke. Sie wirkt verjüngend und revitalisierend. Die inneren Organe werden über die Reflexzonen angeregt und auch die Hormonproduktion der Haut wird stimuliert.
Speziell bei einem hohen Anteil an Vata und den damit verbundenen Symptomen wie Stress und trockener Haut, Nervosität und Schlafproblemen wird diese Behandlung eingesetzt, um die Doshas wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Etwa eine Stunde dauert die Abhyanga Massage und nach einer kurzen Dusche steht schon die zweite Behandlung auf dem Plan: Nasya, die ayurvedische Nasenreinigung.
Nasya, die ayurvedische Nasenreinigung
Nach einer kräftigen Gesichtsmassage mit einem intensiv riechenden Sesamöl aus Bengalischer Quitte und Traubenwurzeligem Spargel werden mein Hals und mein Gesicht mit Dampf behandelt, den ich mehrere Minuten einatmen muss. Danach wird mir im Liegen Öl in die Nase geträufelt, das ich kräftig in den Rachen ziehen soll. So professionell, wie es mir Sheeja vormacht, schaffe ich es zwar nicht, aber letzten Endes gelangt das Öl in meinen Rachen und hinterlässt ein brennendes Gefühl.
Nach einer weiteren Massage von Gesicht, Händen und Füßen, darf ich mit einer salzigen Lösung und kräftigem Gurgeln meinen Rachen vom Öl befreien. Die komplette Behandlung dauert etwa eine halbe Stunde.
Nasya wird natürlich verwendet, um die Nase und die Nebenhöhlen zu reinigen und die Atemkanäle zu befreien. Gleichzeitig werden die Schleimhäute befeuchtet und gestärkt. Da mein erhöhtes Vata, das Element der Luft, Trockenheit mit sich führt, wird das Befeuchten und Ölen ein wiederkehrender Prozess und ein Schwerpunkt vieler meiner Behandlungen sein. Ganz konkret werden mein verengtes linkes Nasenloch und die damit verbundenen Schmerzen im Ohr und im Nacken mit Nasya behandelt.
Nasya gilt als entgiftende Reinigung der Nase, des Halses und des Kopfes. Die Behandlung hilft bei Kopfschmerzen, chronischen Nasennebenhöhlenentzündungen, bei Allergien und Heuschnupfen, aber auch bei häufigem Nasenbluten und Tinnitus.
Um 13 Uhr wird das Mittagessen serviert und eine langer, ereignisarmer Nachmittag erwartet mich. Erst um 17 Uhr steht meine Nachmittagsbehandlung an. Es ist Dhanyamla Dhara, die zu einer meiner Lieblingsbehandlungen werden wird.
Dhanyamla Dhara – behagliche Wasserkur
Aus zwei kleinen vergoldeten Kännchen wird mir vierhändig synchron und langsam sehr heißes, mit Kräutern und Medizin angereichertes fermentiertes Wasser in einem ununterbrochen sanften Strahl über den Körper gegossen. Von den Füßen über die Beine und den Oberkörper hinunter zu den Fingerspitzen und wieder zurück. Neben Sheeja und Smitha ist diesmal auch eine dritte Frau im Raum. Auf einer kleinen Herdplatte erhitzt sie den Aufguss und füllt ihn möglichst heiß in die kleinen Kännchen.
Mit der seligen Hitze des Wassers strömt Wohlbehagen durch meinen Körper. Nach kürzester Zeit merke ich, wie sich mein Herzschlag verlangsamt. Ruhig und besonnen atme ich durch die Nase, genieße die klassische indische Musik, die gemächlich im Hintergrund zu hören ist. Ich denke an die vielen Stunden der Meditationsübungen, die ich schon hinter mir habe, immer den Versuch vor Augen, die Achtsamkeit auf den Atem zu richten. Und nun, da ich wirklich völlig entspannt bin, merke ich, dass dies ganz automatisch ohne meinen Willen geschieht. Meine volle Aufmerksam ist auf meinen Atem gerichtet, nichts anderes geht in meinem Kopf vor. Ich meditiere – 45 Minuten Glückseligkeit. Smitha wischt mir immer wieder den Schweiß vom Gesicht, denn die Hitze, in der ich mich ja zugegebener Maßen am Wohlsten fühle, steigt mir natürlich zu Kopf. Und auch nach der Behandlung möchte mein Körper noch Mengen an Schweiß und Giftstoffen loswerden.
Dhanyamla Dhara wird eingesetzt, um Schmerzen und Entzündungen im Körper zu behandeln, hilft aber auch bei Rheuma und Gelenkschmerzen, neurologischen Erkrankungen und Muskelversteifungen. Wegen der tiefen mentalen Entspannung wird die Behandlung häufig bei einem Überschuss an Vata eingesetzt.
Ich dusche mich und trinke noch immer tiefenentspannt meine Nachmittagsmedizin, ein ayurvedischer Kräuteraufguss, der gegen meine Menstruationsbeschwerden helfen soll. Mehr als 700 verschiedene Heilkräuter kennt die ayurvedische Medizin, die abhängig vom diagnostizierten Dosha eingesetzt werden. Kurkuma, Zimt, Ingwer, Nelken, Muskat, Cardamom, Thymian – ein ganzer Gewürzschrank unterstützt die Heilung. Um 18 Uhr findet der Yogaunterricht statt, ab 19 Uhr gibt es Abendessen, der letzte Punkt auf der Tagesordnung.
C und das Krisengebiet
Zu Beginn der ersten Woche lerne ich während des Yogaunterrichts C kennen, eine junge Französin in meinem Alter. C versucht mich zu beruhigen. Dass man in den ersten Tagen angespannt ist, gehe den meisten so. In ein paar Tagen werde ich schon allein wegen der Ayurveda-Behandlungen schlicht und ergreifend zu erschöpft sein, als dass ich mir noch groß Gedanken machen könnte. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich mich nach dieser Information besser fühlen soll. Doch die Gespräche mit C helfen mir.
C ist seit fast zehn Jahren für Humanitäre Hilfsorganisationen in Afrika unterwegs. Und schon während ihres Studiums hat sie sich dagegen entschieden in die Entwicklungsarbeit zu gehen oder bei Naturkatastrophen oder Epidemien zu helfen. Sie wollte schon immer in bewaffneten Konflikten vermitteln. Ihren ersten Kriseneinsatz im Kriegsgebiet hatte sie mit Mitte 20. Ein Knochenjob, dem die junge Frau mit Leidenschaft nachgeht. Ein normales Leben in Frankreich könne sie sich momentan nicht vorstellen. Natürlich, das Risiko und die Angst sind ständige Begleiter und ihre Projekte führen sie alle paar Monate in ein anderes krisengeschütteltes Land Afrikas, aber sie liebe den Kontinent und wenn sie von ihrer Arbeit erzählt, leuchten ihre Augen.
Doch irgendwo zwischen bewaffneten Rebellentruppen, Gewehrsalven im Ohr, Excel-Tabellen, Nachtschichten, Kettenrauchen, literweise Kaffee, getöteten Kollegen und viel zu viel Bier, um überhaupt noch abschalten zu können, passiert ihr dann, was früher oder später die meisten ihrer Kollegen ereilt: Burn-out. Das ständige Gefühl gestresst zu sein, Alkohol, Haarausfall, Gewichtszunahme, Angstzustände, Panik: das volle Programm. Auszeit in Frankreich.
Einige Ayurveda-Behandlungen später die Empfehlung ihres französischen Ayurveda-Arztes. Dann der Flieger nach Indien, der Flieger zur Ayurveda-Kur nach Kerala.
C macht gerne Nägel mit Köpfen und überlässt nichts dem Zufall. Ihre führungsstarke Persönlichkeit hat sich im Zug der beruflichen Notwendigkeit zu einem Problem gesteigert; ihre Durchsetzungsfähigkeit, bei der Leitung humanitärer Einsätze im Kriegsgebiet unabdingbar, ins Krankhafte gewandelt. C kann sich nicht zurücklehnen, sich nicht entspannen, kann keine Kontrolle abgeben. Vertrauen? Fehlanzeige. Seit Jahren schlafe sie, wie sie mir in bildhafter Sprache und französischem Akzent schildert, mit offenen Augen. C muss das Ruder in der Hand haben. Immer.
Während ich mich wie vom Arzt gewünscht zurücklehne, oder es zumindest hinter meinem Bücherberg versuche, steht C am ersten Tag mit ihrem Handy vor dem Arbeitszimmer des Arztes. Wie sind die Essenzeiten, um wie viel Uhr finden die Behandlungen statt, was genau wird getan, welche Resultate kann sie erwarten, wie lange dauert es, wie lautet der langfristige Plan des Arztes, die Diagnose, die Behandlungsschwerpunkte. Natürlich hat sie schon mehrere Bücher zu dem Thema gelesen und ist bestens informiert. Wenn der Doktor morgens seine Runde dreht und bei den Patienten den Blutdruck misst fordert ihn C mit bestimmten Bewegungen zum Sitzen auf, holt jeden Tag aufs Neue einen Zettel mit Fragen dazu und hält hinterher alles in ihrer eigens dafür angelegten Excel-Tabelle fest – verschieden farbig unterlegt versteht sich.
Ich muss immer schmunzeln, wenn ich Cs Eifer beobachte, wenn sie sich bei ihren Geschichten aus Afrika wieder Mal in Rage geredet hat und beim Mittagessen mit der flachen Hand auf den Tisch schlägt, dass der Tonkrug mit dem heißen Wasser klirrt.
Erst im Vergleich zu ihr merke ich, wie entspannt ich eigentlich bin. Die Ayurveda-Ärzte sind routiniert, haben etliche Jahre Erfahrung und ich fühle mich vom ersten Augenblick an in sehr guten Händen. Sie werden schon wissen, was getan werden muss. Wer bin ich, dass ich ihre Methoden in Frage stelle?
C schüttelt über mein Verhalten nur ständig den Kopf („Nein, nein, sowas könnte ich ja nicht“), genauso wie ich mir immer das Grinsen verkneifen muss, wenn sie beim wöchentlichen Gespräch mit dem Oberarzt, dem die jüngeren Ärzte mit ehrfurchtsvollem Respekt entgegentreten, das Zepter in die Hand nimmt.
Doch C wird Recht behalten. Schon am zweiten vollen Tag vergeht meine innere Anspannung. Zwar schlafe ich die ersten Nächte noch schlecht, fühle mich aber insgesamt viel ruhiger und gelassener. Am fünften Tag erliegt mein Körper den Anstrengungen der Entgiftungskur und mir fallen während des Mittagessens tatsächlich mehrfach die Augen zu. Der Durchhänger vergeht aber schon am nächsten Tag. Die ruhige Gemütsverfassung bleibt.
R und K und die Probleme im Kopf
R und K, zwei junge US-Amerikaner mit indischen Wurzeln, erreichen am Anfang meiner zweiten Woche die Klinik.
Wie alle, die von „draußen“ kommen, wirken sie in dem ruhigen Garten der Anlage erstmal wie Fremdkörper. Sie haben noch keine Behandlungen und somit auch noch keine Möglichkeit gehabt, sich an die gemächliche Atmosphäre und den Müßiggang, der hier gelebt wird, zu gewöhnen. Sie sind laut und lebhaft, was wahrscheinlich auch kulturelle Ursachen hat.
Ich muss fast lachen, als ich die beiden während der ersten Tage beobachte. Die Anspannung steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Unruhig laufen sie im Garten auf und ab. K, mein Nachbar, fragt mich ungeduldig, was man denn hier so machen könne. Wie ich denn den ganzen Leerlauf zwischen den Ayurveda-Behandlungen verbringe. Ich verrate ihm, dass ich die meiste Zeit hier an meinem Schreibtisch sitze und die Vögel und Eichhörnchen beobachte, die auf den Bäumen umherhuschen. Meine Antwort scheint ihm nicht zu gefallen. Unruhig macht ihn vor allem die Tatsache, dass die Internetverbindung in seinem Zimmer zu langsam ist, um Filme zu gucken. Doch eigentlich ist K auch nur genauso fertig mit den Nerven, wie ich es selbst vor wenigen Tagen noch war.
R hingegen war bereits vor einem Jahr für sechs Wochen hier, verrät er mir, als er seinen Stuhl an meinen Schreibtisch schiebt. Fast 15 Jahre lang, sein halbes Leben etwa, litt er an einer bipolaren Störung, schwankte ständig zwischen Depression und Manie, wurde mehrfach in Psychiatrien eingewiesen und dort über Wochen und Monate behandelt.
Ich frage nicht nach Details, R macht mir aber klar, dass er sich die meiste Zeit seines Lebens in sehr schlechter Verfassung befunden habe. Die westliche Medizin ist in seinem Fall an ihre Grenzen gestoßen. Über zehn Jahre lang Psychopharmaka und stationäre Behandlungen haben seine Beschwerden nicht lindern können. Auch eine Elektrokonvulsionstherapie, meist letzter Behandlungsversuch bei therapieresistenten Depressionen und anderen schweren psychiatrischen Krankheitsbildern, hat keine gewünschten Ergebnisse geliefert.
Letztes Jahr entschied sich R dann zu einer dreiwöchigen Ayurveda-Kur, die er auf Anraten des Chefarztes, mit dem man hier einmal die Woche zum Gespräch zusammenkommt, um drei weitere Wochen verlängert hat. Nun sitzt R lächelnd vor mir, hat seine westlichen Medikamente letztes Jahr schon nach der ersten Woche der Ayurveda-Kur komplett absetzen können und genießt eine völlig neue Lebensqualität – ayurvedische Diät und Yoga inklusive. Ein bisschen hibbelig wirkt er noch. Er redet aufgeregt und manchmal kann ich seinen Gedankensprüngen nicht wirklich folgen. Außerdem liest er ungefähr 20 Bücher gleichzeitig. Seine bipolare Störung gehört aber der Vergangenheit an.
K ist der Sohn von Freuden der Familie Rs. Rs Lebenswandel hat sich natürlich rumgesprochen und Ks Eltern hoffen nun auf ähnlich gute Ergebnisse. Ks Diagnose ist nicht wirklich eindeutig. Seit fast einem Jahrzehnt wechselt der 30-jährige von einem Psychiater und Psychotherapeuten zum nächsten, die Diagnosen schwanken zwischen Autismus, Schizophrenie und Zwangserkrankung. Dementsprechend abwechslungsreich sind die Psychopharmaka, die er in seinem Leben schon einnehmen musste – ohne dass eine Verbesserung seiner Symptome eingetreten ist.
Ich mag K. Er ist ein interessanter Gesprächspartner, und das nicht nur, weil er über enormes Wissen verfügt. Seine Freizeit verbringt er, nach eigenen Angaben, damit Online-Enzyklopädien auswendig zu lernen. K ist humorvoll und ein guter Geschichtenerzähler. Ich sitze gerne mit ihm zusammen, wenn morgens und nachmittags der Ingwer-Zimt Tee frisch aufgebrüht wird. Doch kaum ist K nicht durch ein Gespräch abgelenkt, sei es auch nur eine kurze Pause innerhalb eines Gesprächs, wandert seine Aufmerksamkeit zu Situationen, die in seinem Kopf stattfinden.
Der große, kräftige Mann nimmt dann plötzlich eine erschreckend aggressive Körperhaltung ein, bekommt einen wütenden Blick und spricht mit lauter, aufgebrachter Stimme. Oftmals führt er Streitgespräche über wissenschaftliche oder historische Themen. Doch auch Gewaltfantasien gegenüber Frauen sind Teil seiner Erkrankung. Dann spricht K plötzlich mit zwei Stimmen. Mit seiner eigenen, sehr zornigen Stimme und der weinerlichen Stimme einer verzweifelten Frau, die offensichtlich große Angst hat.
K wird in den nächsten zwei Wochen meine größte Herausforderung werden. Ist er am Anfang noch bemüht, bei sehr lauten Debatten in einiger Entfernung im Garten umherzulaufen, wandert er bald hektisch auf unserer gemeinsamen Terrasse auf und ab. Dann lausche ich ununterbrochen seinen wissenschaftlichen Debatten. Am meisten zu schaffen macht mir die Frau in seiner Fantasie, die um ihr Leben fleht. Nachts höre ich, wie er immer wieder mit seinem Kopf gegen die Wand hämmert.
Innerhalb der nächsten Wochen schwanken auch meine Gefühle. Irgendwo zwischen Unbehagen und permanenter Anspannung, wenn ich mit ihm und R gemeinsam Abend esse und tiefem Mitgefühl, wenn er in sehr ehrlichen und reflektierten Gesprächen von seinem Ärztemarathon und den Medikamenten erzählt, an deren Nebenwirkungen er leidet, ohne dass sie seine Symptome lindern. Er kann ganz klar beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn ihm Mitten im Gespräch der Kopf in eine andere Realität gezogen wird, ohne dass er etwas dagegen unternehmen kann.
R und K wird am ersten Tag in der Klinik der Kopf rasiert, damit die Behandlungen, die die beiden am Kopf erhalten werden, wirksamer sind.
P und das Körperbrett
Dann ist da noch P, ein junger Inder, der mir schon am ersten Tag aufgefallen ist. P hat einen schlanken Körperbau und völlig unpassend dazu einen unnatürlich weit hervorstehenden Bauch, der so gar nicht mit dem Rest seines Körpers in Einklang zu bringen ist. Und noch auffallender: P ist steif. Stocksteif. Auf erschreckende Weise unbeweglich. Ab und an taucht er im Yogaunterricht auf. Die simpelsten Aufwärmübungen stellen für ihn ein unüberwindbares Hindernis dar. Ich kann es oft gar nicht fassen. Was hat er sich und seinem Körper angetan, dass ihm dieser schon mit Ende 20 einen Strich durch die Rechnung macht?
P ist so versteift, dass wenn er seine Ölmassagen bekommt, sein schmerzerfülltes Stöhnen durch alle Behandlungsräume dröhnt.
Eines Nachmittags verstehe ich endlich warum. P erhält einen geschäftlichen Anruf. Die komplette Atmosphäre, die P umgibt, wandelt sich plötzlich. Die Ruhe und die dröge Atmosphäre des Nichtstuns, die den palmenumstandenen Garten der Anlage während der schweren Hitze der Mittagsstunden umgeben, weichen Unruhe und Stress. Mit vor Angst und Anspannung stocksteifem Körper – der noch steifer als sonst fast unwirklich erscheint und mich an die übertriebenen Bewegungen in alten Schwarzweiß-Filmen erinnert – fängt er plötzlich an, auf kurzer Strecke hin und her zu laufen. Hektische, schnelle Schritte begleiten sein Telefonat. Sein Körper, seine Stimme und sein Gesicht sind vom Stress gekennzeichnet. Das Gespräch dauert an. P läuft vor meiner Nase eine Strecke von 15 Metern nun schon zum Hundertsten Mal auf und ab.
Manche Menschen braucht man nur anzuschauen und man weiß direkt, warum sie hier sind. Ich für meinen Teil weiß nun ziemlich genau, was P krank gemacht, seinen jungen Körper hat zu Stein erstarren lassen.
Die Energie, die von ihm ausgeht ist für mich unerträglich. Mein Herz fängt an zu rasen, seine Stimmung und seine Anspannung springen auf mich über. Für mich in diesem Moment, in dieser Verfassung, ein unerträglicher Zustand. R, der gerade eines seiner 20 Bücher liest, sieht meine Not, gemeinsam flüchten wir. Im Restaurant klammere ich mich an einen Ingwer-Zimt Tee und atme tief durch.
Ich habe noch nie verstanden, warum manche Menschen für ihren Beruf, für Erfolg, Geld oder Ansehen ihre Gesundheit komplett hergeben, nicht mehr in der Lage sind die Signale ihres Körpers zu verstehen, und rechtzeitig die Reißleine zu ziehen. Was ist man bereit für Prestige und Erfolg zu opfern?
Shirodhara und Thakradhara
Am Anfang der zweiten Woche bin ich gespannt auf meine neuen Behandlungen. Morgens erwartet mich nun Shirodhara, der berühmte ayurvedische Stirnölguss.
Ich bin zunächst etwas überrascht, da mich nun im Behandlungsraum vier Frauen anlächeln, doch entkleide ich mich wie gewohnt. Zusätzlich zu dem kleinen Stoffhöschen wird mir vor der Behandlung eine Kordel über die Stirn gelegt und meine Augen und Ohren abgedeckt. Bei der Shirodhara Behandlung wird mir aus einem an der Decke hängendem Gefäß in einem kontinuierlichen Strahl aus etwa zehn Zentimetern Höhe mehr als zwei Liter erwärmtes, mit Sandmalve und Milch angereichertes Sesamöl auf die Stirn gegossen. Zunächst immer entlang des Haaransatzes, bevor es nach etwa 30 Minuten nur noch konstant auf die Mitte zwischen den Augenbrauen, auf das sogenannte dritte Auge, gegossen wird.
Die Behandlung dauert etwa 45 Minuten. Zeitgleich wird mir wieder eine vierhändige Abhyanga-Massage verabreicht, die nach dem Ölguss noch weitere 15 Minuten auf dem Bauch liegend weitergeführt wird. Eine vierte Massagetherapeutin sorgt dafür, dass die Öle die richtige Temperatur haben.
Shirodhara beruhigt das Nervensystem, hilft bei Stress, Anspannung und unruhigem Schlaf und fördert die Konzentration. Folglich ist Shirodhara natürlich einer der am häufigsten angewendeten Behandlungen, wenn es darum geht erhöhte Vata-Werte zu reduzieren. Shirodhara wird ebenfalls bei chronischen Kopfschmerzen, halbseitigen Lähmungen und Depressionen angewandt.
Im Anschluss bekomme ich weiterhin die Nasya Behandlung und da mein linkes Nasenloch schlichtweg zu eng ist, um das Öl kräftig in den Rachen zu ziehen, wurde nach Absprache mit dem Chefarzt die Behandlung intensiviert und ein stärkeres Öl eingesetzt. Die Bedampfung und die Massage meines Gesichtes dauern nun viel länger und sind kräftiger. Gleichzeitig ist das Öl so stark, dass ich das Gefühl habe, als atmete ich nach der Behandlung doppelt so viel Sauerstoff ein.
Mit der Shirodhara Behandlung bin ich nicht ganz so glücklich. Das Öl vermischt sich mit meinen dicken Haaren schnell zu einer undurchdringlichen Pampe, so dass ich den Ölstrahl auf meinem Haaransatz kaum noch spüre. Abgesehen davon sind mehr als zwei Liter Öl in meinen Haaren eine riesige Schweinerei. Von den anschließenden zeitaufwendigen Versuchen, meine Haare von dem Öl zu befreien ganz zu schweigen.
Doch zum Glück gibt es tägliche Konsultationen mit dem Arzt und bei Bedarf werden die Behandlungen angepasst. Nach zwei Tagen Shirodhara wird meine Behandlung zu Thakradhara umgewandelt. Statt Öl wird mir nun mit ayurvedischer Medizin angereicherte kalte Buttermilch auf gleiche Art und Weise auf die Stirn gegossen.
Die leichte Abwandlung macht einen riesigen Unterschied. Ich kann mich viel leichter auf den kalten Strahl auf meiner Stirn konzentrieren, die Buttermilch verfängt sich nicht in meinen Haaren und riecht einfach unwiderstehlich. Ich bin immer wieder verwundert, wie wichtig die fünf Sinne bei Meditation und Entspannung sein können. Die leise Musik im Hintergrund, der Duft der Räucherstäbchen und jetzt der Geruch der Buttermilch unterstützen meine Wohlbefinden ungemein.
Thakradhara hat dieselben Anwendungsgebiete wie Shirodhara, doch die kalte Buttermilch wirkt zusätzlich kühlend, verringert somit also eine Pitta-Dominanz, und wirkt auch noch befreiend auf die Atemwege.
Utsadana und Udvartana – ayurvedische Körpermaske
Als Nachmittagsbehandlung in der zweiten Woche hat mir der Arzt Utsadana verschrieben, die ayurvedische Pulvermassage und Körpermaske.
Dabei wird mir eine dunkle Paste aus pulverisierten Kräutern, unter anderem Kurkuma und Sandelholz, gemischt mit Öl und Milch, auf den gesamten Körper aufgetragen. Die Mischung öffnet die Poren, entfernt Giftstoffe aus der Haut und fördert gleichzeitig das Eindringen der mit Medizin angereicherten Öle während der Panchakarma-Kur. Die Körpermaske dient der Reinigung und der Verjüngung. Utsadana verbessert den Teint und die Hautstruktur und gilt als eine der beliebtesten Schönheitskuren. Der natürliche Stoffwechsel der Haut wird aktiviert. Bei hohen Vata-Werten und der damit verbundenen Hauttrockenheit sorgt Utsadana gleichzeitig für samtige Haut. Nachdem die Paste etwa eine halbe Stunde eingewirkt hat, wird sie mit Wasser abgewaschen und hinterlässt einen Körper weich wie ein Babypopo.
Einziger Nachteil: Die Paste kühlt den Körper aus und die halbe Stunde Warten kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Die tickende Uhr, Ps schmerzhaftes Stöhnen im Nebenraum und die bei einer Panchakarma-Kur mitunter auftretenden Stimmungsschwankungen geben mir den Rest. Auch hier hat der Arzt Erbarmen mit mir und vor allem meiner Kälteempfindlichkeit. Nach zwei Behandlungen wird Utsadana umgewandelt in die Schwesterbehandlung Udvartana.
Anstatt die Paste auf dem Körper zu lassen, wird sie als eine Art Körperpeeling verbunden mit einer Abhyanga-Massage in entgegengesetzter Richtung für etwa 45 Minuten in den Körper einmassiert. Zusätzlich zu den Vorteilen von Utsadana wird dabei gleichzeitig der Körper von abgestorbenen Hautschüppchen befreit und der Energiefluss im Körper und die Durchblutung der Haut und inneren Organe angeregt. Udvartana ist außerdem eine der effektivsten Behandlungen, um überschüssiges Fettgewebe zu reduzieren.
In der zweiten Woche komme ich endgültig zur Ruhe. Ab und zu schaue ich noch mal in eines meiner vielen Bücher, habe es aber schon lange aufgegeben während der Kur viel zu lesen, zu recherchieren oder zu arbeiten. Ich sehe vor allem auch keinerlei Notwendigkeit mehr dazu. Nach der Thakradhara Behandlung umgibt mich den gesamten Tag das wohlig entspannte Gefühl der sorgenfreien Unbekümmertheit. Ich denke an nicht viel und genieße es.
R hat seit einigen Tagen seinen Stuhl dauerhaft neben meinen Schreibtisch platziert und sich bei mir eingerichtet. Seine Bücher, seine Kopfhörer und sein Telefon liegen nun für gewöhnlich neben meinen Büchern, Notizheften, Textmarkern und meinen hinduistischen, buddhistischen und muslimischen Gebetsketten. Er nennt unsere Zusammenkünfte lachend Satsang, in der indischen Philosophie ein Begriff, der das friedliche Zusammensitzen spiritueller Menschen beschreibt, die durch gemeinsame Gespräche, gemeinsames Nachdenken und Versenkung in die spirituelle Lehre nach höherer Einsicht streben.
Ich profitiere in dem Fall wesentlich mehr von seinem Wissen, als er von meinem. Dennoch genieße ich es, mit ihm über verschiedene philosophische Strömungen Indiens, Gurus, Aschrams, Yoga- und Meditationstechniken und die Möglichkeiten der ayurvedischen Medizin zu sprechen – auch wenn sich jetzt meine Bücherwunschliste um etwa 39 Titel verlängert hat. Nach seinen ersten Behandlungen ist R kaum wiederzuerkennen. Aus dem etwas zu aufgedrehten, sehr US-amerikanischen jungen Mann ist ein zur Ruhe gekommener und gelassener Satsang-Partner geworden, mit dem ich gerne, auch schweigend, die lange Zeit zwischen den Behandlungen, dem Yogaunterricht und den Mahlzeiten verbringe.
Ayurveda in Indien in drei Teilen
Teil 1: Meine Panchakarma-Kur
Teil 2: Die große Einölung
Teil 3: Die Lehre vom gesunden Leben
Rochssare wurden von Ayurveda Mana zu einer dreiwöchigen Panchakarma-Kur eingeladen. Der Inhalt dieses Artikels und ihre Meinung sind davon nicht beeinflusst.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.