Kanwar Yatra, Pilger
Die große Pilgerreise Kanwar Yatra (Kooperation)

Barfuß nach Haridwar


28. September 2019
Indien
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Indien ist intensiv. In jeder Pore des Landes steckt ein Extrem. Mythen und Legenden haben Land und Leute geformt. Zwischen Himalaja und Indischem Ozean geistern seit Jahrtausenden Begebenheiten aus der Götterwelt umher. Indien wäre nicht was es ist, wenn nicht Ganesh, Vishnu, Hanuman und all die anderen Götter mit ihren Abenteuern das Leben der Menschen beeinflussten.

Shiva ist fast immer mit dabei. Er ist der Coolste, der Stärkste, der Wütendste und zugleich der Meistverehrte. Er war schon da, bevor Brahma das Universum schuf. Shiva ist immer ein bisschen mächtiger als der Rest und so auch immer erster Ansprechpartner, wenn die Welt mal wieder aus dem Ruder läuft.

In der hinduistischen Mythologie geschieht das häufig. Eine der bekanntesten Erzählungen berichtet von Göttern und Dämonen die gemeinsam den Milchozean rühren, um an das Elixier der Unsterblichkeit zu gelangen. Doch aus dem Ozean treten zunächst allerlei andere Dinge hervor. Darunter ist ein Gift, so gefährlich, dass selbst den Göttern die Knie schlottern.

Sie rufen Shiva um Hilfe und dem fällt nichts Besseres ein, als das Gift sicherheitshalber einfach zu schlucken. Er verbrennt sich die Kehle und vergiftet sich so stark, dass sein Hals augenblicklich blau anläuft. Shiva, der Mächtige, ist dem Tod nah und erst ein Schluck vom Wasser des heiligen Ganges erlöst ihn von seinen Qualen.

Zwischen Juli und August erinnern jährlich Tausende Pilger im Norden Indiens an diese Geschichte. Sie verlassen in großen Gruppen ihre Heimat und ziehen barfuß zum Ganges an die heiligen Orte Haridwar, Varanasi und Gangotri. Es ist die Kanwar Yatra, die große Pilgerreise zu Ehren Shivas.

Pilger während der Kanwar Yatra auf dem Weg nach Haridwar
die Pilger schöpfen Wasser aus dem Ganges, das sie in die Shivatempel ihrer Dörfer tragen.
Pilger in Varanasi
am Ganges in Varanasi drängen sich die Pilger um das heilige Wasser

Kanwar Yatra zur Rettung Shivas

In Safran- und orangefarbener Kleidung – den Farben Shivas – verlassen die Gläubigen vor allem in den Bundesstaaten Haryana, Uttar Pradesh, Uttarakhand und Bihar ihre Dörfer. Auf verschiedenen Routen laufen sie mehr als einhundert Kilometer bis an den heiligen Fluss. Dort schöpfen sie das Wasser des Ganges in Kanister und Krüge, die sie an einer Bambusstange, der Kanwar, befestigen. Auf den Schultern tragen sie die Last zurück in ihre Dörfer, wo sie das heilige Wasser in den Shivatempeln vergießen. Jedes Jahr lindern sie so im Kollektiv das Leid ihres Lieblingsgottes.

Am Straßenrand begegnen uns immer wieder kleine Prozessionen. Mit bunten Wimpeln und Girlanden geschmückte Bambusgestelle ruhen auf den Schultern der Pilger. Glocken und Rasseln klimpern um ihre Fußgelenke. „Bol Bam!“, rufen die Männer lauthals in den vorbeidonnernden Verkehr und verkünden so eine von vielen Bezeichnungen Shivas. „Bol Bam! Bol Bam! Bol Bam!“

Die Kanwar Yatra ist mit etwa 12 Millionen Pilgern die größte jährlich stattfindende Pilgerreise Indiens. Doch sie ist nicht nur eine religiöse Angelegenheit, sie ist auch ein Roadtrip. Ein kleines bisschen Freiheit für diejenigen, die in der fatalistischen Gesellschaft Indiens tagtäglich für ihr Überleben kämpfen müssen. Die Pilgerreise wird zu einer Klassenfahrt. Freunde, Familienmitglieder und Nachbarn sind gemeinsam unterwegs. Man kennt sich, scherzt zusammen, es wird viel gelacht. „Bol Bam!“

Pilger auf der Kanwar Yatra
Pilger in Varanasi
Pilger auf der Kanwar Yatra
Pilger am Ufer des Ganges in Varanasi

Die Kanwar Yatra ist eine Auszeit vom harten Alltag. Nichts als wandern. Keine Verpflichtung, keine Sorgen. Nur den Staub zwischen den Zehen.

Entlang der Schnellstraßen sind Zeltunterkünfte aufgebaut. Hier werden die Pilger auf ihrer langen Reise versorgt, erhalten einen Schlafplatz und medizinische Grundversorgung. Außerdem stehen Gestelle für die Kanwars bereit. Auf dem Weg zum heimischen Shivatempel dürfen die Krüge mit dem heiligen Wasser den Boden nicht berühren.

Es ist verrückt mit welchem Aberglauben die Hindus den Ganges verehren. Millionen Liter ungeklärter, hochgiftiger Abwässer, die täglich in den Fluss geleitet werden, können der angeblich heiligen Kraft der Fluten nichts anhaben. Doch wenn auf einer Pilgerreise das Wasser in einem Krug auf den Boden gestellt wird, verliert es alle Wirkung. Gleiches gilt auch für das Abkochen. Das Wasser des Ganges, so verdreckt es auch ist, ist heilend und heilig, aber sobald es kocht, ist es nur noch ganz banales Wasser. Alle Heiligkeit ist sozusagen ausgeschwitzt.

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Haridwar, die heilige Stadt

Nachdem Götter und Dämonen 1.000 Jahre lang den Milchozean rührten, soll das Elixier der Unsterblichkeit in Haridwar auf die Erde getropft sein. 200 Kilometer nördlich von Neu-Delhi gelegen ist die Kanwar Yatra nach Haridwar deshalb besonders beliebt: Wo, wenn nicht hier sollte man Wasser zur Linderung der Leiden Shivas schöpfen?

Zur Kanwar Yatra schwappt ein Menschenmeer in orange durch Haridwar. Entlang des Moti Bazars, der Upper Road und des Bara Bazars drängen sich zehntausende Gläubige dem Ufer des Ganges entgegen. Es ist ein grandioses Chaos. Rufe schallen über die Köpfe der Menge hinweg, werden mal von weiter weg und mal gar nicht beantwortet. Wer sich hier verliert, hat kaum eine Chance gemeinsam den Fluss zu erreichen. Der freie Wille geht verloren. Einmal in der Menge gibt es keine Entscheidungsfreiheit mehr. Es geht dahin, wohin die Masse schiebt.

Pilger auf der Kanwar Yatra in Varanasi
barfüßige Pilger auf der Kanwar Yatra

Kurz vor dem Ufer ist der Weg gesäumt mit allen nur erdenklichen Gebrechen. In langen Reihen liegen die Versehrten, Deformierten, Amputierten, die spastisch Gelähmten und geistig Umnachteten. Viele von ihnen nehmen ihre Umgebung kaum noch wahr. Almosenschalen befinden sich daneben, die von den  vorbeiströmenden Gläubigen gefüllt werden.

Dann, am befestigten Ufer des Ganges, sind bereits hunderte Lager aufgeschlagen. Essensstände und Chai Wallahs verpflegen die Menge. An den Treppenstufen des Har Ki Pauri Ghats wackelt eine bunte, kaum zu durchschauende Menschenmasse hin und her. Jeder will mit seinem Gefäß zum Ganges, jeder will in den heiligen Fluss gleiten, um sich in seinem Wasser zu baden und somit seine Sünden abzuwaschen.

In der mythologischen Hierarchie hat Haridwar einen der vorderen Plätze inne. Hier, wo der Ganges in raschem Lauf aus dem Gebirge tritt und weiter in die Ebene fließt, fühlen sich die Gläubigen ihren Göttern besonders nah. Jeder, der kann und viele, die nicht mehr können, wollen hierher. Alte, Kranke und Schwache werden auf den Rücken ihrer Verwandten bis an den Ganges getragen. Auch sie tauchen mit Hilfe der Umstehenden in den Ganges.

Pilger während der Ganga Aarti in Haridwar
Pilger während der Ganga Aarti in Haridwar

Ganga Aarti in Haridwar

Zum Sonnenuntergang versammeln sich die Pilger und Gläubigen gemeinsam zur Ganga Aarti, einer Gebetszeremonie zu Ehren des Flusses. Gesang schallt aus knackenden Lautsprechern, die an langen Pfählen über das gesamte Ufer verteilt sind. Glocken klingen durch den Abend. Blumengestecke und brennende Kerzen werden von den Gläubigen in schwimmenden Blätterkörben im Fluss ausgesetzt.

In der beginnenden Nacht ist es noch immer heiß. Das betonierte Ufer strahlt die Hitze des Tages wie eine Fußbodenheizung ab. Die Klassenfahrtatmosphäre weicht einer ernsthaften, beinahe besinnlichen Stimmung. Die Konzentration gilt dem Gebet. Selbst die „Bol Bam“-Rufe sind verstummt. Die Ganga Aarti gehört zu den ältesten religiösen Ritualen Indiens. Ihre Kraft ist bis in die Gegenwart erhalten geblieben.

Nach dem Ende der Zeremonie kehren die Pilger dem Fluss langsam den Rücken. Sie ziehen hinein in die Gassen der Stadt, die in der Pilgersaison fast vollständig ausgebucht ist. Von hier wandern sie zurück in ihre Heimatdörfer. Es ist der letzte und zugleich der wichtigste Abschnitt ihrer Pilgerreise.

Ganga Aarti in Haridwar
zur Ganga Aarti in Haridwar versammeln sich jeden Abend tausende Menschen

Schwer beladen mit dem heiligen Wasser des Ganges auf den Schultern und fröhlichen Liedern auf den Lippen gehen die Pilger ihren Dörfern entgegen. Die Klassenfahrtatmosphäre ist wieder da. „Bol Bam! Bol Bam! Bol Bam!“

Mehrfach begegnen wir den Pilgergruppen auf ihrer Reise und ihre Freude und Freiheit begleitet uns noch ein ganzes Stück durch Indien. Die Barfußpilger treffen wir nicht nur in Haridwar und Varanasi. Wir laufen auch mit Ihnen nach Gaumukh zur Quelle des Ganges und durch die Wälder des Himalajas.

Einen Monat dauert die Pilgersaison zur Kanwar Yatra. Die meisten Gläubigen sind etwa eine Woche unterwegs und bewältigen dabei mehr als zweihundert Kilometer zu Fuß. In dieser Zeit verabschieden sie sich von den weltlichen Dingen; sind nur für ihren Gott Shiva unterwegs. Dann kehren sie zurück auf die Felder, in die Werkstätten, Fabriken und Kioske. Der indische Alltag hat sie wieder. Doch in den Legenden der hinduistischen Mythologie, mit ihren hunderten verschiedenen Göttern und Inkarnationen, dauert es nicht lange, bis das nächste göttliche Abenteuer zu einer neuerlichen Auszeit einlädt.

Pilger während der Kanwar Yatra auf dem Weg nach Haridwar
während der Kanwar Yatra pilgern die Gläubigen zum Ganges

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