Potosi ist eine Stadt der Extreme. Sie liegt extrem hoch auf 4.300 Metern und sie ist extrem abhängig. Ihr Schicksal liegt in felsiger Hand. Alles was Potosi war, ist und vielleicht jemals sein wird, verdankt sie dem Cerro Rico, dem schillernden Berg, der sich über der Stadt erhebt.
Extrem reich war Potosi im 16. Jahrhundert, nachdem unglaublich ertragreiche Silberadern im Cerro Rico entdeckt wurden. Die Hälfte des weltweit gewonnenen Silbers stammt zu jener Zeit aus den Minen dieses Berges. Potosi war so bedeutend wie London oder Paris. Über Jahre hinweg schufteten indigene Sklaven in den Stollen, um die spanischen Königskassen mit Silber zu überhäufen. Auch afrikanische Sklaven wurden nach Potosi gebracht. Doch starben die meisten von ihnen bereits an den Folgen der Höhenkrankheit, noch bevor sie in die Dunkelheit des Berges eintreten konnten.
Potosi war ein Synonym für Reichtum. Gleichzeitig war Potosi, und ist es bis heute, extrem gefährlich. Für den Wohlstand zahlen die einfachen Arbeiter – meist mit ihrem Leben. Etwa acht Millionen Menschen starben bisher in den Minen des Cerro Ricos. Einstürze, Explosionen oder Gasausbrüche sind die wiederkehrenden Gefahren in den Stollen. Die meisten Opfer fordert jedoch die sogenannte Quarzstaublunge. Auch in der Gegenwart ist sie die häufigste Todesursache der Minenarbeiter, der Mineros. Etwa zehn bis zwanzig Jahre halten ihre Körper aus, bevor sie zugrunde gehen. Die Einheimischen nennen den Cerro Rico deshalb auch den Berg der Menschen frisst.
Auf dem Friedhof Potosis befindet sich ein eigener Bereich für die Arbeiter aus dem Bergwerk. Im Schatten des Cerro Rico steht in großen Buchstaben geschrieben “Hier ruhen die Männer, die ihre Lungen in den Minen verloren!” Unangenehme Stille liegt über dem Ort. Er führt gnadenlos vor Augen, welches Schicksal jeden hier erwartet.
El Tío und das dunkle Bergreich
Die Mineros nehmen es stoisch an. Auch der Glaube hilft. Außerhalb der Stollen beten sie zu Jesus Christus, aber im Berg vertrauen sie auf El Tío. Der gehörnte Gott des Berges, der Minerale gibt und Menschenleben nimmt, ist ein Freund des Genusses. Sein Wohlwollen erkaufen die Mineros mit Kokablättern, Zigaretten und Alkohol. In jeder Mine sitzt mindestens eine tönerne Figur des Tío und wacht über die Arbeiter, die oft mit ihm rauchen, trinken und Koka kauen.
Wir wollen die Minen kennenlernen, die so eng mit der Geschichte der Stadt verbunden sind. Guides, die früher selbst in den Schächten arbeiteten, führen kleine Gruppe durch die unterirdische Welt. Doch zunächst werden wir ausstaffiert mit wasserdichten Jacken und Hosen, Gummistiefeln und je einem Helm mit Stirnlampe. Ein Tuch um Mund und Nase soll uns vor dem Quarzstaub schützen. Anschließend besuchen wir den Markt der Minenarbeiter am Rand des Cerro Ricos. Es ist der weltweit einzige öffentliche Handelsplatz, auf dem Dynamit legal verkauft wird. Für die Mineros ist der Sprengstoff eines der wichtigsten Utensilien. Mit ihm jagen sie die Stollen in den Fels. Immer in der Hoffnung, auf eine der mittlerweile selten gewordenen ertragreichen Adern zu stoßen.
Dann ist es soweit. Wir stehen vor einem Eingang des menschenfressenden Berges. Mit mulmigem Gefühl betreten wir die Mine, die uns im ersten Moment in ein undurchdringliches Dunkel hüllt. Nur langsam gewöhnen sich die Augen an die schwachen Lichtverhältnisse.
Wir schalten die Stirnlampen an und folgen den Schienen der Transportkarren immer tiefer in den Stollen. Je weiter wir in den Berg eindringen, desto schmaler und niedriger werden die Gänge. Ständig stoße ich mit meinem Helm gegen das Gestein. Kleine Staubwolken rieseln von der Decke auf mich herab. Die Tunnel sind bald so eng, dass wir nur noch in gebückter Haltung vorwärtskommen.
Die Arbeitswelt der Mineros
Von den Decken tropft Wasser. Der Untergrund wird immer feuchter. Bald verlieren wir jedes Gefühl für einen sicheren Schritt und schlittern nur noch durch die Stollen. In einer Felsnische bleiben wir stehen. Unser Guide Daniel erzählt von der Arbeit unter Tage und von seinen Erfahrungen, als er selbst Erz aus dem Berg beförderte. Von ihm erfahren wir, dass noch etwa 12.000 Mineros im Cerro Rico schuften. Etwa 2.000 von ihnen sind unter 18 Jahre alt.
Den gefährlichsten Job, und damit meint Daniel den tödlichsten, haben die Driller. Sie arbeiten mit Bohrern und Presslufthämmern und suchen nach ertragreichen Adern im Berg. Kaum geschützt sind sie den eigenhändig produzierten Staubmassen ausgeliefert. Die Driller verdienen ein Vielfaches verglichen mit anderen Mineros und sterben in der Regel nach drei bis fünf Jahren an der Quarzstaublunge. Trotzdem sind Einsätze als Driller begehrt. Sie versprechen genügend Lohn, um ein Haus für die Familie und die Ausbildung der Kinder zu finanzieren. Es ist ein Pakt mit dem Teufel; ein Kredit verzinst mit Lebensjahren.
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2016 Malik NG, Taschenbuch, 432 Seiten
Daniel erzählt von den Schwierigkeiten im Berg, von Unfällen und Explosionen, vom Erstickungstod. Die Arbeitsbedingungen in den Minen sind mittelalterlich, die Schächte schlecht belüftet. Präventive Sicherheitsvorkehrungen gibt es kaum. Ganz in meiner Nähe ragt ein geborstener Holzträger zur Decke des Stollens empor. Einige andere Balken machen ebenfalls nicht den Eindruck, dass sie noch irgendetwas stützen könnten. Wie ernst es unter Tage werden kann, fällt mir ein, als ich mich an das Schriftstück erinnere, das wir vor Beginn der Führung unterschreiben mussten: „Der Veranstalter übernimmt keine Haftung für Unfälle jeglicher Art und den Verlust des Lebens“.
Wir gehen weiter. Plötzlich schreit Daniel hektisch auf und winkt uns wild gestikulierend zur Seite. Eine voll beladene Lore kommt uns entgegen. Zwischen Schienen und Felswand sind nur wenige Zentimeter Platz. Wir müssen uns beeilen, um eine weitere Nische im engen Stollen zu finden, in der uns der schwere Transport nicht erfassen kann. Keuchend bewegen drei Kumpel die Lore im Laufschritt an uns vorbei. Wir sind mitten im Bergwerk.
Im Inneren des Cerro Rico
Es geht tiefer in den Untergrund. Jedoch nicht mehr entlang der Schienen, sondern durch eine kleine Öffnung in der Felswand. Sie ist gerade groß genug, um bäuchlings hindurch zu kriechen. Das ist für die Hälfte unserer Gruppe zu viel. Klaustrophobische Schübe; davor wurden wir gewarnt. Alle Überredungsversuche verpuffen. Die Angst vor dem Berg ist groß und so trennen wir uns, setzten den Weg allein fort. Auf dem Bauch liegend robben wir mehrere Meter abwärts durch das Gestein. Ich kann den Kopf gerade soweit heben, dass ich die Füße meines Vordermannes sehe. Nur wenige Zentimeter über dem staubigen Boden ziehen die Geschichten über die Quarzstaublunge durch meinen Kopf. Wenn ich es richtig verstanden habe, steckt auch ziemlich viel Asbest im Cerro Rico.
Bloß nicht atmen, denke ich. Das fällt hier sowieso schwer. Oben, außerhalb des Berges auf über 4.000 Metern Höhe, ist die Luft schon sehr dünn. Hier drinnen ist von ihr kaum noch etwas übrig. Das Tuch vor Mund und Nase, das vor dem Staub schützen soll, schränkt die Atmung zusätzlich ein. Ich spüre, wie mein Herz hastig von innen gegen meine Brust pocht, immer stärker, immer schneller. Atmen wird zum Drang. Ich ziehe das Tuch vom Gesicht. Es ist ein Reflex, den ich sofort bereue. Statt Sauerstoff saugen meinen Lungen Staub und Dreck ein.
Es ist heiß und stickig unter der Erde. Schweiß läuft über meine Stirn und in die Augen. Hustend und keuchend krieche ich weiter und versuche weder an einstürzende Wände noch an Erstickungstod zu denken. Es gelingt mir nicht. Am liebsten möchte ich laut schreien, doch in diesem Moment krabbeln wir aus der Enge in einen weiteren Stollen, fünfzig Meter unterhalb des Mineneingangs.
Mineros und Kumpel
Durch den Hohlraum dröhnt das Klacken und Klingen von Metall auf Stein. Wir stehen zwischen sechs halb nackten, heftig schwitzenden Männern. Ein Thermometer zeigt knapp 40 °C an. Im Fünfminutentakt fährt eine voll beladene Lore vorbei. Eilig leeren die Arbeiter den Transportkarren, bevor der nächste mithilfe eines Flaschenzuges heranrollt. Nur gemeinsam gelingt es den Männern, die Lore zu kippen und das darin enthaltene Gestein auf den Boden zu befördern. Um nicht ständig im Weg zu stehen, wechseln wir in dem engen Raum immer wieder von einer Seite auf die andere. Dabei ist zwischen den Schienen der Lore und der Felswand kaum mehr als ein halber Meter Platz.
Nachdem das Gestein mit viel Getöse aus der Lore gefallen ist, schaufeln die Männer das Material zum Weitertransport in steil abfallende Öffnungen im Boden. Auch wir dürfen uns an der Arbeit versuchen. Nur mit Mühe schaffe ich es, ein paar Gesteinsbrocken mit der Schaufel anzuheben. Bei der Hitze und der geringen Luft im Schacht bin ich bereits nach wenigen Bewegungen von Schweiß durchnässt und völlig außer Atem.
Juan nimmt mir die Schaufel ab. Er arbeitet bereits seit 15 Jahren in den Minen. Dabei verrät sein hageres Aussehen nichts von der täglichen Schwerstarbeit, die er hier verrichtet. Doch die routinierten Handgriffe und die Schnelligkeit, mit der Juan das Gestein in den Abgrund befördert, lassen mich staunen. Mit einem Augenzwinkern sagt er: “Wir fressen den Berg und der Berg frisst uns.” Ist das schon Galgenhumor? Wann ist Juan an der Reihe? Der Berggott El Tío wird es entscheiden. Er, der Beschützer der Mine, hat ein Auge auf die Arbeiter. Er kümmert sich um die Mineros, so wie sie sich um ihn kümmern.
El Tío und der Aberglaube
Überall im Berg befinden sich kleine und große Schreine. Auch wir stehen vor einer Tío-Statue. Sie ist riesig. Haupt und Schultern sind schwer beladen mit bunten Girlanden. Es sind die übrig gebliebenen Verweise auf den Karneval, den die Mineros gemeinsam mit dem Berggott in den Minen feiern. In den geöffneten Händen, im Mund und um die Figur herum liegen ungezählte Kokablätter. Die Asche abgebrannter Zigaretten klebt an den Lippen El Tíos. Zu seinen Füßen liegen leere Alkoholflaschen mit Etiketten, die von einem 96-prozentigen Inhalt erzählen.
Die Rituale um El Tío geben den Minenarbeitern halt. Sie müssen an ihren Beschützer glauben, denn anders ist die oft todbringende Arbeit nicht auszuhalten. Doch auch wer den notwendigen Respekt vermissen lässt, fordert das Schicksal heraus. Im Angesicht El Tío erzählt uns Daniel von Mineros, die nicht an den Berggott glaubten und dafür ihre Leben ließen. Es sind Geschichten von Männern, die nicht bereit waren, Opfergaben zu hinterlassen oder die in der Mine arbeiteten, als es der Aberglaube verbot. El Tío riss sie in den Tod. Einstürzende Wände oder austretendes Gas stillten den Blutdurst des Berggottes.
Um den Zorn Tíos nicht zu entfesseln, findet einmal jährlich am ersten August ein Opferfest vor den Minen statt. Es ist Feiertag und niemand arbeitet im Berg. Stattdessen fließt sehr viel Alkohol. Der rituelle Höhepunkt ist die Schächtung mehrerer Lamas. Verängstigt stehen die Tiere vor der Mine. Sie ahnen ihr Schicksal und klägliches Weinen begleitet ihre letzten Sekunden. Das Blut wird in Tellern und Schüsseln aufgefangen und gegen die Wände der Häuser und in die Eingänge der Minen geschleudert.
Dieses Blutopfer soll den Durst El Tíos für ein weiteres Jahr stillen. Anschließend werden die Kadaver gehäutet, ausgenommen und zerlegt. Stück für Stück verliert das einstige Lebewesen immer mehr an Gestalt, bis nur noch der Kopf übrig bleibt. Auch Pachamama, Mutter Erde, werden an diesem Tag Opfer gebracht. Jeder erste Schluck eines Getränks versickert im staubigen Boden. Der Kopf und die Innereien der Lamas werden in einem Erdloch vergraben. Es sind weitere Opfergaben für Mutter Erde, denn die Mineros teilen gern mit ihrer Ernährerin.
Bereits am Mittag sind die Minenarbeiter völlig betrunken. Sie lallen unverständliches Zeug, verlieren gelegentlich den Anstand und immer wieder kommt es zu Unstimmigkeiten, die bisweilen handgreiflich ausgetragen werden. Für uns ist irgendwann Schluss. Wir verzichten auf das angebotene Lama-BBQ und kehren vom Cerro Rico zurück nach Potosi.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.