Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien
Abseits in Arunachal Pradesh

Mechuka, das verborgene Tal


24. Oktober 2020
Indien
Schreibe etwas

Unsere Reise nach Mechuka beginnt auf grauen Kissen in Guwahati. Tenzin knurrt uns mürrisch an. Benannt nach dem Dalai Lama ist der Hund fast genauso alt, aber nicht annähernd so ausgeglichen wie das spirituelle Oberhaupt der Tibeter. Tenzin hört schwer und sieht auch nicht mehr besonders gut. In unserer Gegenwart ist er immer ein bisschen misstrauisch und fletscht selbst in entspannten Momenten die Zähne, wenn wir ihm zu nah kommen.

Tenzin gehört zu Devraj. Der Mann in den beginnenden Dreißigern ist Tourguide und freischaffender Fotograf für Indiens große Tageszeitungen und internationale Reisemagazine. Devraj ist ein angenehmer Kerl, ganz anders als sein Hund. Mit ihm verbringen wir stickig heiße Julitage in der Ebene von Assam im Nordosten Indiens. Vergnügliches Nichtstun verbindet uns. Chai dampft in Gläsern. Zigarettenrauch wabert durch die schwere Luft. Devraj liebt die Natur, gegrilltes Schweinefleisch und Marihuana. Wenn es die Trägheit des Tages erlaubt, sitzen wir deshalb oft im Burgerladen eines Freundes, der uns wahnsinnige Triple-Pork-Burger serviert und anschließend selbstgezüchtetes Gras unter die Nase hält.

Später treffen wir Jubi, die verkatert in ihrem Outdoor- und Trekkinggeschäft versucht, den Tag zu überstehen. Die letzte Nacht verlief wild. Ein Joint hilft. Die wenigen Kunden, die vorbei kommen, sind allesamt befreundet. Bierflaschen klirren, denn zu Jubis Ausrüstungsgeschäft gehört auch ein Restaurant, das ehrlicherweise eine Bar ist.

Brahmaputra, Guwahati, Assam, Indien
der Brahmaputra zieht gemächlich durch die Ebene von Assam
bemalter Baum, Guwahati, Assam, Indien
Psychedelisches aus Guwahati

Boheme in Guwahati

Am Abend sind wir immer noch hier. Mittlerweile ist ein ausgedehnter Freundeskreis eingetroffen. Tourguides, Freiberufler, Musiker, Visagisten, ein Ex-Junkie, der in Guwahati ein Entzugszentrum leitet, ein Schauspieler, der gerade seine erste Kinoproduktion in Mumbai abgedreht hat. Auch Jubis Freund Godzi, ein Typ groß wie ein Bär, ist dabei. Gerade hat er eine zehntägige Schweigemeditation beendet und feiert seine Rückkehr in die Welt der Sinnesfreuden mit einem ordentlichen Rausch.

Devraj und seine Freunde sind die hedonistische Speerspitze der Stadt und weit entfernt davon, sich um materielle Dinge sorgen zu müssen. Guwahati ist klein und die Zerstreuungsmöglichkeiten überschaubar. Jubis Lokal ist eine der wenigen Konstanten im darbenden Vergnügungsbetrieb. Hier beginnen und enden zahlreiche Anekdoten. Jeden Abend treffen wir bekannte Gesichter, trinken, rauchen.

An den heißen Nachmittagen, die Guwahati in einen Brutkasten verwandeln, liegen wir unter einem brummenden Deckenventilator. Tenzin atmet schwer. Devraj erzählt uns vom Nordosten Indiens. Seine Leidenschaft sind die Berge und die darin versteckten, abgelegenen Täler. Besonders Arunachal Pradesh, nördlich von Guwahati und an der Grenze zu China gelegen, hat es ihm angetan. Ginge es nach Devraj, könnten wir Monate dort verbringen. Da wir Arunachal aber nur mit einer dreißigtägigen Sondererlaubnis bereisen dürfen, müssen wir aussieben.

Das ist gar nicht so leicht, denn Devraj wirft mit Superlativen um sich. Begeistert erzählt er von jedem Seitental, jedem Bergpass, von schneebedeckten Gipfeln, bewaldeten Hängen, freundlichen Menschen und alten Traditionen. Thembang, Sangti, Tawang, Ziro, Tuting – Informationsüberflutung.

In all seinen Ausschweifungen taucht ein Name immer wieder auf: Mechuka. Mittendrin in Arunachal und weniger als dreißig Kilometer von der Grenze zu China entfernt, befindet sich das abgelegene Tal. Atemberaubend sei es, erklärt Devraj mit leuchtenden Augen. Er spricht von eisigen Flüssen, grünen Weiden, dunklen Wäldern, herzlichen Menschen und einer Kultur, die Tibet näher ist als Indien. Noch vor zwei Jahrzehnten ist Mechuka vom Rest des Landes abgeschnitten und nur mit einer Propellermaschine zu erreichen. Erst zu Beginn der 2000er wird auf militärisches Drängen eine Straße durch die Berge geschlagen, die Mechuka an das indische Verkehrsnetz anschließt.

drei Menschen, Guwahati, Assam, Indien
unterwegs mit Devraj in Guwahati
Brahmaputra, Guwahati, Assam, Indien
Sonnenuntergang über dem Brahmaputra

Der Weg nach Mechuka

Von Guwahati folgen wir dem Brahmaputra stromaufwärts bis Dibrugarh. Der wasserreiche Fluss speist die fruchtbare, tropische Ebene Assams. Hier gedeihen Reisfelder und Bananenplantagen, Papayas wachsen am Straßenrand. Berühmt ist Assam aber für den herben Tee, der hier angebaut wird und fast die Hälfte der indischen Teeproduktion ausmacht.

Bei Dibrugarh winkt uns ein junger Mann. Auf der Frontscheibe seines Kleinwagens klebt ein großes rotes L. Es steht für „Learning Licence“ und ist das Grundübel des indischen Verkehrs. Mit ihm dürfen Fahranfänger in Indien für drei bis sechs Monate auf eigene Faust am Straßenverkehr teilnehmen. Danach folgt die praktische Prüfung und weil niemand verbindliche Regeln lernt, herrscht auf Indiens Straßen ein unbeschreibliches Chaos.

Wir verlassen Assam über den Brahmaputra. Am anderen Ufer erreichen wir das Städtchen Pasighat in Arunachal Pradesh und gelangen weiter in die Berge des Vorderen Himalajas. Kulturell, sprachlich, religiös tauchen wir hier in eine andere Welt. In den verstreuten Tälern leben etwa einhundert verschiedene Ethnien, die mit mehreren Dutzend Klein- und Kleinstsprachen kommunizieren. Es sind Menschen des Waldes, Menschen der Berge. Sie gehören zu den Adi, Apatani, Memba, Monpa und vielen anderen ethnischen Gruppen, die einst aus Tibet und Myanmar einwanderten. Indien ist plötzlich verschwunden. Kolkata, Neu-Delhi oder Varanasi sind nicht nur geografisch, sondern auch kulturell weit weg.

Hinter Pasighat wird die Straße holprig. Schlaglöcher reihen sich aneinander, Staubwolken wirbeln hinter den wenigen vorbeifahrenden Autos auf. In ihrem Inneren erhöht sich das Verletzungsrisiko bei einer Geschwindigkeit von zwanzig Kilometer pro Stunde exponentiell. Blaue Flecken gehören in den Bergen dazu. Auf der Rückbank eines Pkws schaukeln wir auf und ab. Mein Kopf klatscht mehrfach gegen die Seitenscheibe. Der Wagen ächzt. Um uns herum erhebt sich majestätischer Urwald in sattem Grün. Wir folgen dem Brahmaputra und anschließend dem Fluss Siyom bis wir in der beginnenden Dämmerung Kamba erreichen. Unsere Mitfahrgelegenheit ist das letzte Auto auf der Straße. Im schummrigen Licht des ausgehenden Tages rollt lediglich eine Handvoll Mopeds mit hustendem Auspuff durch das Dorf.

trampen in der Ebene von Assam, Indien
Per Anhalter in der Ebene von Assam
Fähre auf dem Brahmaputra, Assam, Indien
Fähre auf dem Brahmaputra

Kamba und die Adi

Am Ortsausgang warten wir neben einem Schulinternat. Aus dem oberen der drei Stockwerke winken uns Dutzende Kinder aufgeregt zu. „Are you foreigner?“, wollen sie wissen und als wir bejahen, flippen sie völlig aus. Wir sind die ersten Ausländer, die sie im Dorf zu Gesicht bekommen. Unsere Ankunft spricht sich schnell herum. Als wären wir eine Merkwürdigkeit, kommen Männer und Frauen um uns zusammen. Aus ihrer Mitte sprechen uns zwei Stimmen neugierig, aber höflich an, stellen Fragen, übersetzen unsere Antworten für die Umstehenden. Dann laden sie uns ein, in der Versammlungshalle des Dorfes zu übernachten. Wir lehnen ab, wollen niemandem Umstände bereiten. Stattdessen bauen wir unser Zelt in der einbrechenden Dunkelheit auf einer Wiese neben dem Internat auf und als unsere Zuschauer merken, dass es nichts mehr zu besprechen gibt, ziehen sie sich nach und nach zurück.

Im Schutz der Nacht schlendern vier junge Männer heran. Wiegender Schritt. Es ist nicht ganz klar, ob sie mit uns kiffen oder lediglich wissen wollen, ob wir Gras dabei haben. Es bleibt nicht der letzte Besuch. Erst kommen zwei jugendliche Paare, die im Dunkeln euphorische Selfies mit uns machen und als wir schon im Zelt liegen, klopfen plötzlich Männer an die Außenplane, mit denen wir jedoch keine gemeinsame Sprache sprechen. Was sie wollen, verstehen wir nicht und auch sie verschwinden irgendwann.

Noch am nächsten Morgen richtet sich die Aufmerksamkeit des Dorfes auf uns. Aus allen Ecken werden wir beobachtet. Doch sprechen wir eine Person an, erwidert sie lediglich mit verlegenem Kichern. Die Einwohner Kambas gehören zur Ethnie der Adi, die in mehreren Tälern Arunachal Pradeshs beheimatet ist. Ihre traditionellen Häuser gehören zu den schönsten, die wir in Indien gesehen haben. Auf Dutzenden Stelzen erhebt sich ein riesiges Gebäude aus Bambus und Holz einige Meter über dem Boden. Mehrere Generationen leben hier zusammen. Getrocknete Wedel der Palmyrapalme bedecken den Dachstuhl. Doch das Beste am Haus ist die umlaufende Terrasse. Sie dient als Lager und Trockenplatz, ist aber auch ein Ort für soziales Miteinander. Hier sitzen die Alten und Jungen, erledigen Hausarbeit, Essen gemeinsam, hier spielen die Kleinkinder, hier werden Nachbarn und Freunde zum gemütlichen Beisammensein empfangen.

Mit einer Handvoll frittierter Bananen stehen wir am Straßenrand und warten. – Und warten – Erst nach fünf Stunden hält ein klappriger Geländewagen. Zwei ältere Männer fahren mit uns ins in Richtung Tato, etwa hundert Kilometer von Kamba entfernt. Die Straße bleibt rumplig. Fünf ermüdende Stunden holpern wir durch die Berge. Lediglich die hübsch bewaldeten Hänge schmeicheln unseren Augen.

zelten in Kamba
zelten in Kamba
Per Anhalter durch Arunachal Pradesh
unterwegs in den Bergen von Arunachal Pradesh
Per Anhalter durch Arunachal Pradesh
Per Anhalter durch Arunachal Pradesh

Gestrandet in Tato

Rund 15 km vor Tato erreichen unsere Fahrer ihr Ziel: sechs Häuser in einer Kurve am Abhang. Kein Ort, an dem wir bleiben wollen. Stattdessen schultern wir unsere Rucksäcke und marschieren los. Dunkle Wolken hängen am Himmel. In den letzten Stunden fiel Regen. Nicht heftig, aber ausreichend, um die einsame Piste matschig und rutschig werden zu lassen.

Ein angeschwollener Bergbach rauscht über die Straße und versperrt uns den Weg. Mitten im Niemandsland nähert sich nach einer Stunde ein Geländewagen. Es ist ein Sumo, ein Allradwagen aus indischer Produktion und hier in den Bergen das meistgefahrene Fahrzeug. Bis zu zehn Personen passen hinein, wenn es notwendig ist, auch mehr. Im Sumo vor uns sitzen drei Männer aus Kerala; christliche Missionare, die vom Priester in Tato eingeladen wurden, um in den Bergen Animisten zu bekehren.

Als wir Tato erreichen, ist es bereits dunkel. Eine einzige Straßenlaterne erleuchtet einen Teil des Ortes. Wenige Menschen sind noch unterwegs, die uns Fremde, in ihrem kleinen Dorf willkommen heißen. In der beginnenden, kühlen Nacht drückt uns eine ältere Frau zwei Tassen Chai in die Hände, die sie aus ihrem Haus am Hang herausbalanciert. Zwei junge Mädchen begleiten uns auf der Suche nach einem Schlafplatz durch das Dorf. Sie schlagen vor, dass wir in der Kirche übernachten. Uns ist das eigene Zelt lieber und irgendwie regeln es die beiden in kurzer Zeit, dass wir auf dem Schulhof am Ortsende zelten dürfen.

Als unser Zelt steht und die Mädchen sicher sind, dass wir nichts weiter benötigen, ziehen sie sich zurück. Dafür besucht uns der Dorfpfarrer mit seiner Entourage. Auch die drei Missionare aus Kerala gehören dazu. Erneut werden wir eingeladen. Diesmal sollen wir im Schulgebäude übernachten. Die Nacht wird sehr kalt, versichert der Pfarrer.

Eingepackt in alle Kleidungsschichten, die unsere Rucksäcke hergeben, bleiben wir im Zelt, weil es sowieso schon aufgebaut ist. Die Nacht wird tatsächlich bitterkalt. So kalt, dass wir vor lauter Zittern kein Auge zubekommen. Als die ersten Sonnenstrahlen über die umliegenden Gipfel fallen, packen wir mit steifen Gliedern zusammen und stehen bald darauf erneut am Straßenrand.

zelten auf dem Schulhof in Tato
zelten auf dem Schulhof in Tato

Der klare Morgen hüllt Tato in ein geschmeidiges Licht. Auch hier stehen die Häuser auf Stelzen, sind aber weniger ausladend als in Kamba. Trotz der frühen Stunde ist Tato bereits zum Sonnenaufgang geschäftig. Kinder basteln Propeller, indem sie zwei Pappstreifen im neunzig Grad Winkel auf einem Stock befestigen und mit ihm über steinige Pfade laufen. Hühner, Schweine, Hunde und Katzen wackeln entlang der einzigen Straße. Ein Mädchen aus dem Haus gegenüber spielt mit einer Maus in der Hand.

Die ältere Frau, die uns gestern Abend Chai servierte, reicht uns zum Frühstück eine gewaltige Gurke, die so lang und dick ist wie mein Unterarm. Auch die beiden Mädchen, die uns auf dem Schulhof einquartierten, schauen noch einmal vorbei und bringen einen Beutel voller Guaven mit.

Doch nicht alle Dorfbewohner begegnen uns so vertrauensvoll. Besonders den Jüngsten sind wir suspekt. Die meisten Kinder wagen sich nur in eiligem Tempo an uns vorbei. Eines von ihnen verliert dabei einen Schuh in unserer Nähe, den es zögernd und mit tapferem Herzen wieder einsammelt.

Packliste

Packliste

Unsere Ausrüstung muss einiges aushalten. Seit über 7,5 Jahren sind wir dauerhaft unterwegs und strapazieren unser Hab und Gut im täglichen Einsatz. Einiges hat bei uns nur kurze Zeit überlebt, doch anderes bewährt sich mittlerweile seit Jahren und wir sind von der Qualität überzeugt. Unsere Empfehlungen könnt ihr hier nachlesen.

Warten am Straßenrand

Ein paar wenige Militär-Lkws donnern durch den beschaulichen Ort. Es ist Zeit für Truppenübungen, mal wieder. In den Bergen Arunachals probt die indische Armee den Ernstfall. Die Region ist politisch umkämpft. Sie gehörte einst zum südlichen Teil Tibets, bis sich britische und tibetische Diplomaten auf eine Grenzlinie einigten. Sie führt knapp 900 Kilometer entlang der MacMahon-Linie, die über den Gipfelkamm des östlichen Himalajas von Bhutan bis zum Brahmaputra führt.

China erkennt diese Grenze allerdings nicht an, weshalb es neben einem kurzen Krieg 1962 bis heute immer wieder zu Provokationen entlang der Grenzlinie kommt. Auch deshalb ist das indische Militär regelmäßig in den Bergen präsent.

Die Sonne steht mittlerweile weit über den umliegenden Gipfeln. Die meisten Dorfbewohner haben sich an unseren Anblick gewöhnt. Nur ab und zu fliegt noch ein neugieriger Blick zu uns herüber. Neben der Straße steht ein Haus auf einer Anhöhe. Wilde Blumen und Ranken wachsen im Garten hinter einem verwitternden Holzzaun. Eine Frau sitzt davor, die zwischen dreißig und fünfzig jedes Alter haben könnte. Sie sei Krankenschwester, erzählt sie, und wenn wir am Abend noch immer hier warten sollten, könnten wir in ihrem Haus die kommende Nacht verbringen. Es ist ein großzügiges Angebot, von dem wir hoffen, es nicht annehmen zu müssen. Noch bleibt uns viel Zeit.

Tato in Arunachal Pradesh
das Dorf Tato in Arunachal Pradesh

Doch als gegen zehn Uhr ein Hühnertransporter durch Tato bollert und uns nicht mitnehmen möchte, obwohl er nach Mechuka fährt und Platz auf dem Beifahrersitz hat, schwindet unsere Hoffnung drastisch. Seit wir am Vorabend in Tato angekommen sind, ist dieser Transporter das erste nichtmilitärische Fahrzeug auf dem Weg nach Mechuka. Vielleicht geht uns gerade die einzige Chance verloren.

Die kommenden Stunden vergehen immer langsamer, ziehen sich endlos in den Tag hinein. Die Sonne steht an ihrem höchsten Punkt und bis auf ein paar Hühner, die ahnungslos in der Gegend herumpicken, ist niemand zu sehen. Zwei weitere Pkws rumpeln durch Tato. Beide sind bis auf den letzten freien Zentimeter belegt. Aber dann, es ist bereits fünfzehn Uhr, juckelt ein Sumo mit quietschenden Stoßdämpfern heran. Zusammen mit der Krankenschwester, die an unserem Schicksal unerwartet großen Anteil nimmt, beschwören wir den Fahrer. Und tatsächlich dürfen wir einsteigen.

Tato in Arunachal Pradesh
Tato in Arunachal Pradesh
auf der Dorfstraße warten wir Stunde um Stunde auf eine Mitfahrgelegenheit

Endlich Mechuka

Überglücklich schwingen wir uns und unser Gepäck auf die Rückbank. Zwanzig Stunden haben wir in Tato ausgeharrt. Zum Abschied winken wir der freundlichen Krankenschwester, bis wir hinter einer Kurve verschwinden. Noch liegen siebenundvierzig Kilometer bis Mechuka vor uns. Wir benötigen zweieinhalb Stunden.

Dann endlich öffnet sich das Mechuka Tal. Hügel schwingen sanft aus dem Tal heraus. Trockene Gräser und dürres Gestrüpp kleiden sie in ein Gewand, das mal beige, mal sandfarben, mal braun und mal gelblich leuchtet. Ganz im Gegensatz dazu tragen die Kiefern, die in Gruppen zusammenstehen, ein dunkles, kräftiges Grün. Die schneebedeckten Gipfel des Hochgebirges rahmen das lang gestreckte Tal.

Ein alter Traktor steht mit rostendem Anhänger am Straßenrand. Auf der buckeligen Piste malträtieren Schlaglöcher sowohl Fahrzeuge als auch Passagiere gleichermaßen. Das Dorf Mechuka liegt auf über 1800 Höhenmetern. Es besteht aus einer Handvoll Straßen, die um einen großen, weißen Stupa in der Ortsmitte führen. Buddhistische Gebetsfahnen wehen vor den hölzernen Wohnhäusern. Bunte Wellblechdächer schmücken den Ort. Blau, Grau, Rot, Rost. Feuerholz ist meterhoch vor Hauswände gestapelt.

Wir beziehen ein einfaches, gemütliches Zimmer. Wände, Böden, Decken, alles aus Holz. Die Küche ist das Zentrum des Hauses. In ihrer Mitte köchelt Chai in rauchigen Flammen. Hier versammeln sich die Familienmitglieder, essen gemeinsam, wärmen sich am Feuer.

Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien
Mechuka, ein gemächliches Dorf im abgelegenen Tal
Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien
ein großer Stupa hockt im Ortszentrum von Mechuka
Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien
in den staubigen Straßen von Mechuka
Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien
die Mauer des militärischen Flughafens schneidet durch das Dorf Mechuka

Leben in Mechuka

Der Himmel über Mechuka ist weit. Nur ein paar luftige Wolken rollen gemächlich darüber hinweg. Entlang der staubigen Straßen spazieren wir zum Fluss Yargab Chhu. Auf den Wiesen hinter den letzten Häusern des Dorfes rupfen magere Pferde die wenigen grünen Grashalme zwischen umherliegenden Steinen.

Bevor Mechuka kurz nach der Jahrtausendwende durch eine Straße mit dem Rest des Landes verbunden wird, sind sie die einzigen Transportmittel in der Region. Auf den Rücken der Pferde wird alles bewegt, was irgendwie ins Tal gelangt. Damals bestellen die Menschen Felder, halten Vieh und sichern so ihr Überleben. Über Jahrhunderte sind die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beziehungen zu Tibet und China viel ausgeprägter als zum Subkontinent Indien. Erst als das indische Militär eine Landebahn in Mechuka etabliert und nach dem Krieg 1962 die Grenze zu China schließt, ist es überhaupt möglich größere Warenmengen aus Indien ins Tal zu befördern.

Noch bis heute sind die Einflüsse tibetischer Kultur in Mechuka deutlich. Die hier lebenden Memba teilen die gleichen Traditionen, feiern die gleichen Feste, erfreuen sich an den gleichen Speisen. Momos, Thukpa und gebratene Nudeln gehören fest zum Speiseplan.

Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien
Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien

Zwischen den Wiesen rauscht der Yargyap Chhu im steinigen Bett. Frauen sitzen am Ufer und waschen Wäsche im eisigen Wasser, das irgendwo im Westen aus den Gletschern des Himalajas fließt. Eine wackelige Hängebrücke führt über den breiten Fluss. Zwischen den knarrenden Holzplanken klaffen Lücken, die so groß sind, dass mindestens ein Bein bei einem unachtsamen Schritt darin verschwinden könnte. Darunter zieht das glasklare Wasser eilig dahin.

Zwei Frauen kommen uns entgegen. Mit gebücktem Gang tragen sie schwer beladene Weidenkörbe auf ihren Rücken. Lediglich ein über der Stirn laufender Riemen sichert die Last, die allein mit der Kraft der Nackenmuskulatur gehalten wird. Es ist die Tragetechnik des Himalajas, die uns schon in Nepal und Pakistan begegnete. Schulterriemen und Hüftgurte, so wie sie unsere Rucksäcke auszeichnen, sind den Menschen hier eher lästig als hilfreich.

Auf der anderen Seite des Flusses wandern wir zwischen dem Blau des Himmels und den sandfarbenen Hügeln. Vereinzelt stehen Wohnhäuser zwischen trockenen Ackerflächen. Von den Bewohnern fehlt jede Spur. Unser Blick schweift durch das Tal. Mechuka ist rau. Die Infrastruktur am Rand des Himalajas lässt nichts anderes zu. Die bergige Landschaft führt unsere Blicke, rückt das Tal in den Fokus. Ein leichter Wind streicht über dürre Gräser. Weideflächen und Felder schmiegen sich an die Flussufer. Im Süden und Westen klettern bewaldete Hänge aus dem Tal heraus. Dunkle Kiefern trotzen mit erhobenen Häuptern der Höhenlage. In der Ferne verläuft die Grenze zu China entlang der schneebedeckten Gipfel. Hier unten im Tal ist es angenehm warm, doch sobald die Sonne hinter einer Wolke verschwindet, kriecht die Kälte aus dem Boden.

Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien
der Yargyap Chhu fließt gurgelnd durch das Tal
Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien

Mechuka am Rand des Himalajas

Mechuka ist ein gemächlicher Ort; ohne Überschwang. Das gilt für Mensch und Natur. Beide halten sich zurück. Die Bewohner sind still, die Felder karg. Was hier aus dem Boden kommt, meint es ernst, lässt sich weder von Frost nach Trockenheit beeindrucken. Mehr als das Notwendige wächst hier nicht. Der Fokus liegt auf dem Wesentlichen. Mechukas Abgeschiedenheit ist keine Idylle. Die Menschen entscheiden sich nicht für ein einfaches, naturzugewandtes Leben. Es gibt nur dieses eine. Vor allem im Winter, wenn kalt zu eisig wird, ist es hart.

Unser Blick ist ein anderer. Mit jedem Atemzug versuchen wir, das Tal einzusaugen. Die sanfte Natur streichelt unsere Sinne. Farben und Klänge sind wohltuend mild. Ohne Widerstand gelangen sie in Kopf und Körper und mit ihnen breitet sich Gutmütigkeit aus. Plötzlich ist da Ruhe. Kein Nachdenken, kein Handeln wollen, kein Planen. Stattdessen sitzen wir am Ufer des Flusses und schauen durch ein Tal, das uns mit einfacher, natürlicher Schönheit beglückt. Die hochstehenden Wolken ziehen an der Sonne vorbei, ihr Schatten wandert durchs Tal.

Obwohl die Mehrheit der Memba in Mechuka Buddhisten sind, leben noch immer ein paar Animisten hier. Stolz lassen sie die Donyi-Polo Flagge, eine rote Sonne auf weißem Grund, vor ihren Häusern wehen. Sie glauben an die Geister der Elemente und des Waldes, denen sie ehrfürchtig Respekt zollen. In ihrer Vorstellung schützen und schaden die Wesen gleichermaßen. Um sie versöhnlich zu stimmen, helfen Schamanen, die mit der Welt des Übersinnlichen in Kontakt treten.

Der Geisterglaube geht zurück auf alte tibetobirmanische Traditionen. Die Donyi-Polo Bewegung versucht mit ihren Symbolen Sonne und Mond, dem kulturellen Mosaik der indigenen Bevölkerung in Arunachal Pradesh eine einheitliche Identität zu geben. Sie soll die unterschiedlichen animistischen Strömungen zusammenbringen und weniger angreifbar für christliche, aber auch hinduistische Missionierungsversuche machen.

Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien
Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien

Truppenübung

Zurück im Dorf Mechuka donnern die Lkws des indischen Militärs durch den Ort. Sie sind Teil der Truppenübung, die gerade überall in den Bergen von Arunachal Pradesh stattfindet. Zwischen Thembang, Ziro und Mechuka schlägt die indische Armee ihre Lager auf und wirbelt viel Erde in der sonst so beschaulichen Atmosphäre der Berge auf. Auch Mechuka liegt unter einer Staubwolke.

Am Hang südlich des Dorfes befindet sich eine weithin sichtbare Gompa. Fröhlich flattern Gebetsfahnen um das kleine buddhistische Kloster. Nur wenige Meter davor hat das Militär einen Parkplatz für ihre tonnenschweren Fahrzeuge eingerichtet. Unterwäsche der Soldaten trocknet über dem Geländer der Gompa.

Der Blick hinab ins Tal führt über die Dächer Mechukas und die Landebahn, die mitten in den Ort hineingesetzt wurde. Zwischen den wenigen Häusern wirkt das Militär unpassend präsent. Täglich nähern sich Propellermaschinen in ohrenbetäubendem Lärm, die während des Landeanflugs nur noch ein paar Meter über dem Boden schweben, bevor sie hinter den Mauern des Flughafens verschwinden.

Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien
Militärtransporter vor der Gompa in Mechuka
Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien

Samten Yongcha Gompa

Vom Dorf führt eine Straße nach Westen, wo die Samten Yongcha Gompa auf einer Hügelkuppe über das Tal hinaus ragt. Ein steiler, von Gebetsfahnen gesäumter Bergpfad führt hinter einer wackeligen Hängebrücke hinauf. Oben bewahren buddhistische Mönche das religiöse Leben. Seit 400 Jahren haben sie aus dem kleinen Kloster heraus das Tal im Blick. Es ist eine herrliche Aussicht. Unter dem wolkigen Himmel zieht der geschwungene Fluss an Feldern und Weiden vorbei. Vereinzelte Bäume wachsen dazwischen. Häuser stehen in großen und kleinen Gruppen zusammen. Mechuka ist nicht nur ein Ort, es wird immer mehr zu einem Gefühl. Es ist der Geruch von Gras und Bäumen, der schnelle Wechsel von warm zu kalt, die trockene Haut in der Höhe, die Abgeschiedenheit.

Eine alte Frau öffnet die hölzerne Gompa. So wie sie ist auch das Gebäude von der Zeit gezeichnet. Die bunten Farben der knarrenden Tür sind bereits lange verblichen. Im Inneren fletscht ein blauer Dämon zornig die Zähne. Es ist Vajrapani, der Wächter der Geheimnisse und einer der acht wichtigsten Bodhisattwas im tibetischen Mahayana-Buddhismus.

Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien
Aufstieg zur 400 Jahre alten Samten Yongcha Gompa
Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien
die Samten Yongcha Gompa trohnt über dem Tal Mechuka
Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien
Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien
Vajrapani, der Wächter der Geheimnisse

Am Abend sind wir zurück in Mechuka. Es ist durchdringend kalt. Mit rauchigem Chai sitzen wir am Küchenfeuer. Noch gibt es kaum Touristen in Mechuka. Aber das wird sich ändern. Die Straße durch die Berge hat die Möglichkeiten im Tal verändert. Die jahrhundertelange Abhängigkeit von der Landwirtschaft ist gebrochen. Mittlerweile werden Lebensmittel geliefert, die oft günstiger sind als die unter harschen Bedingungen selbst eingebrachte Ernte. Viele Landwirte satteln um, versprechen sich ein höheres Einkommen vom Tourismus.

Doch im ohnehin schwer zu bereisenden Arunachal Pradesh ist Mechuka noch immer eines der abgelegensten Täler. Selbst verglichen mit Ziro und Tawang ist der Weg beschwerlich. Nichtsdestotrotz: Der Charme der alten Tage geht nach und nach verloren. Ob es sich lohnt darüber zu trauern, entscheiden allein die Menschen in Mechuka.

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Mechuka, Arunachal Pradesh, Indien

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