Sangti Tal, Arunachal Pradesh
Karma und Kiwis im Himalaja

Das Sangti Tal in Arunachal Pradesh


9. Juni 2019
Indien
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Warten ist das Werkzeug des Anhalters. Es ist eine sorgfältig antrainierte Fähigkeit, ein Universalgut. Den wartenden Anhalter kann nichts erschüttern. Das ist ein bisschen so wie mit Buddha und der Meditation – nur ohne Erleuchtung.

Hier, an einer Wegkreuzung gegenüber der Bezirksverwaltung Dirang im westlichen Arunachal Pradesh, haben wir viel Zeit zum Warten. Bereits seit Stunden machen wir nichts anderes. Der gleichnamige Fluss Dirang rauscht und wirbelt zwischen uns und der Siedlung am anderen Ufer durch die Schlucht. Eine Metallbrücke überspannt das Wasser. Wenn ein Fahrzeug über sie hinüber rollt, klappert und scheppert es bedrohlich. Doch selten lärmt es auf der Brücke und wenn, dann biegen alle potenziellen Mitfahrgelegenheiten in die entgegengesetzte Richtung ab. Der Weg ins abgelegene Sangti Tal entpuppt sich als Geduldsprobe.

Dunkle Wolken ziehen sich zusammen. Neben der buckligen Piste lehnen unsere Rucksäcke am Sockel einer weiß getünchten Mauer, in die drei drehbare, meterhohe Tonnen eingelassen sind. Es sind Gebetsmühlen, auf denen in goldenen Schriftzeichen das Mantra des Mitgefühls in Sanskrit abgebildet ist: Om Mani Padme Hum.

Sangti, Arunachal Pradesh
per Anhalter im Himalaja
Dirang, Arunachal Pradesh
der Fluss Dirang gurgelt durch die Schlucht

Gebetsmühlen – unermüdliche Karmamaschinen

Die Gebetsmühlen sind bis zum Rand mit aufgeschriebenen Mantras und der Lehre Buddhas gefüllt. Tausendfach wiederholen sich die heiligen Schriften in ihrem Inneren. Es heißt, jede Umdrehung einer Gebetsmühle aktiviert alle in ihr enthaltenen Mantras und Sätze. Schon eine leichte Bewegung entfesselt ihre spirituelle Kraft. Sie strömt hinaus in die Welt und verteilt großflächig Karmapunkte.

Für die Buddhisten im Himalaja sind Gebetsmühlen uralte Triebwerke des Glücks und Wegweiser ins Nirwana. Sie zu drehen gehört zur täglichen religiösen Praxis. Auch wir haben uns das Drehen der Gebetsmühlen zur Gewohnheit gemacht und lassen keine Möglichkeit aus, unser Karma zu verbessern. Sicher ist sicher.

So machen wir es den Gläubigen gleich, die im Uhrzeigersinn die Mühlen anschieben und dabei das Mantra des Mitgefühls, die älteste aller buddhistischen Gebetsformeln, murmeln. Vermutlich zogen bereits im vierten Jahrhundert buddhistische Wandermönche durch den Himalaja, die mit kleinen Handgebetsmühlen ihr Karma aufbesserten. Die Herrscher der Königreiche Tibet und Ladakh übernahmen diese Praxis und ließen überall in ihren Reichen Gebetsmühlen errichten.

Noch heute stehen im vom tibetischen Buddhismus geprägten Himalaja Gebetsmühlen an allen relevanten Orten. Von Dharamsala über Kathmandu bis Lhasa und weiter an die Grenze Myanmars zieren die Gebetsmühlen Klosterwände und Stupas, Bergpässe und Wegkreuzungen.

Gebetsmühle, Sangti, Arunachal Pradesh
Gebetsmühlen am Straßenrand

Der Weg ins Sangti Tal

Regen fällt aus der dunklen Wolkendecke. Jeder Tropfen ist schneidend kalt. Sie trommeln auf den lehmigen Boden, verwandeln ihn in wenigen Minuten in Schlamm. Unter dem geschwungenen Dach der Gebetsmühlen kauern wir uns zusammen. Bunte Gebetsfahnen flattern über uns im Wind. Auch sie sind mit Mantras und religiösen Texten bedruckt, doch es scheint als wäre ihr Karma schon längst in alle Himmelsrichtungen verweht. Für uns bleibt nichts mehr übrig.

Die frostigen Tropfen ziehen feine Linien zwischen Himmel und Erde. Eine halbe Stunde genügt dem Regen, um uns und die Piste völlig aufzuweichen. Noch immer ist kein Verkehr in unsere Richtung unterwegs. Es sind nur noch zwei Stunden bis zur Dämmerung. Zwei Stunden, in denen wir das zehn Kilometer entfernte Sangti Tal erreichen wollen. Aus Mangel an Alternativen laufen wir los, stapfen über die matschige Piste, passieren im Zickzackkurs aufgestaute Pfützen, die im stetigen Regen immer weiter anschwellen.

Packliste

Packliste

Unsere Ausrüstung muss einiges aushalten. Seit über 7,5 Jahren sind wir dauerhaft unterwegs und strapazieren unser Hab und Gut im täglichen Einsatz. Einiges hat bei uns nur kurze Zeit überlebt, doch anderes bewährt sich mittlerweile seit Jahren und wir sind von der Qualität überzeugt. Unsere Empfehlungen könnt ihr hier nachlesen.

Der Weg führt zwischen dicht bewachsener Felswand und steiler Böschung durch eine Talenge. Ganz in der Nähe schäumt ein Fluss. Die vollgesogene Kleidung klebt auf der Haut. Kälte zieht über den Nacken in den Körper. Wir schleppen uns durch ein Wetter, dem man nur mit meditativem Gleichmut begegnen kann. Ein Schritt folgt auf den nächsten.

Der Regen verblasst zu einem zarten Nieselschleier. Nach etwa drei Kilometern hört er gänzlich auf. Wir sind erschöpft vom Wandern und stundenlangen Warten. Schon bald darauf liegen unsere Rucksäcke im feuchten Gras neben der Fahrbahn. Auf unserem kleinen Gaskocher erhitzen wir Wasser für ein paar Gram Instantnudeln.

Als wir gerade essen, rumpelt ein Transporter vorbei. Euphorisiert packen wir rasch zusammen, werfen die Rucksäcke auf die Ladefläche zu einigen Kubikmetern Porenbeton und springen ebenfalls hinten drauf. Während der Fahrt werden wir kräftig durchgerüttelt. Jedes der unzähligen Schlaglöcher versetzt uns einen heftigen Schlag. In unserem Kochtopf schwappen die Nudeln gefährlich hin und her und weil wir so nicht essen können, landen sie bald darauf hinter dem Transporter im Schlamm. Das Essen ist fort, der Hunger bleibt.

Sangti, Arunachal Pradesh
Pause im Regen
Sangti, Arunachal Pradesh
auf der Ladefläche rumpeln wir ins Sangti Tal

Wieder fängt es an zu regnen. Bis ins Dorf Sangti benötigen wir zwanzig holprige Minuten. Mit dem Einsetzen der Dämmerung erreichen wir die kleine Siedlung in einem sich öffnenden Tal. Graue Wolken hängen an den umliegenden Bergrücken. Etwa drei Dutzend bunt gestrichene Holzhäuser bilden den Kern des Dorfes. Von den schlichten Balkonen hängen Blumenkübel herab. Unter einem Vordach mitten im Dorf knabbern wir Nüsse, die wir in einem der beiden ansässigen Kioske ergattern konnten. Die Auswahl war mager, unser Hunger groß. Gierig schaufeln wir die Nüsse in uns hinein.

Bei den Monpas in Sangti

Mittlerweile ist es dunkel geworden. Wir sind nass und durchgefroren, suchen eine Unterkunft. Ein einziges Gasthaus ist geöffnet und verlangt völlig überzogene Preise. Auch das übliche Verhandeln bringt keine Einigung und so schlagen wir resigniert unser Zelt auf einer Wiese hinter der Gompa, dem kleinen Dorfkloster, auf. Wir wollen nichts weiter als essen und schlafen. Ein paar Meter entfernt hebt ein gewaltiges Mithun den schweren Kopf. Doch offenbar erkennt es uns weder als Bedrohung noch als Störenfriede des abendlichen Grasmahls und mampft gemütlich weiter. Die Nacht auf 1.500 Höhenmetern wird unangenehm kalt.

Mit dem Sonnenaufgang, es ist gerade einmal fünf Uhr, erklingen die ersten Stimmen im Dorf. Langsam wärmen die frühen Sonnenstrahlen das Zelt. Das wohlige Gefühl entschädigt für die Strapazen des gestrigen Tages und die kalte Nacht. Auf der anderen Seite der Zeltwand döst das Mithun ganz in unserer Nähe. Unser Zeltplatz stellt sich als Tischlerwerkstatt heraus. Aufgebockte Planken stehen neben einer Hobelbank. Insekten schwirren um rote Blüten hinter der grob aufgeschichteten Klostermauer.

Mithunbulle döst im Morgenlicht, Sangti, Arunachal Pradesh
Mithunbulle döst im Morgenlicht
Sangti, Arunachal Pradesh
nur eine Straße führt durch das winzige Dorf Sangti
Kiosk, Sangti, Arunachal Pradesh
im Kiosk in Sangti gibt es Knabbereien, Luftballons und eine kleine Gebetsmühle, für das Karma zwischendurch

Das Dorf ist bereits zum Leben erwacht. Die Bewohner Sangtis gehören zum Stamm der Monpas, der größten Ethnie im westlichen Arunachal Pradesh. Ihre Vorfahren zogen einst mit ihren Herden zwischen Sikkim, Bhutan und Tibet durch die Täler des Himalajas. Heute ist von diesem nomadischen Leben nicht mehr viel übrig. Frauen waschen Geschirr an offenen Brunnen, während die Männer in Gummistiefeln auf die Felder und in den Wald hinein stapfen.

Entlang der einzigen Dorfstraße klettern Ziegen über Zäune und zupfen zarte Kräuter und Blumen aus verbotenen Gärten. Hühner gackern entlang der holprigen Piste, wo Kinder, Hunde und Katzen miteinander spielen. An hohen Masten hängen buddhistische Gebetsfahnen in den Farben blau, weiß, rot, grün und gelb. Zweistöckige Häuser säumen die Straße. Ganz traditionell bestehen sie aus einem steinernen Erdgeschoss und einem hölzernen Aufbau. Wäsche und Maiskolben hängen zum Trocknen unter den Dächern.

Sangti ist winzig. In gerade einmal zehn Minuten schlendern wir gemütlich von einem Ende zum anderen. In Richtung Osten erstreckt sich das Tal. Dort, in der Flussebene, liegen die Felder und Weiden für die Schafe und Rinder der Bauern. Dahinter erheben sich die kiefernbewaldeten Hänge des östlichen Himalajas. Sie trennen das Sangti Tal vom Rest der Welt, geben ihm eine eigene Zeitzone. Allein der Stand der Sonne bestimmt das Tempo. 

Gebetsfahnen, Sangti, Arunachal Pradesh
gutes Karma weht aus den Gebetsfahnen über das Sangti Tal
malerische Wohnhäuser, Sangti, Arunachal Pradesh
malerische Wohnhäuser in Sangti
Monpa und Webrahmen, Sangti, Arunachal Pradesh
eine Monpa webt traditionelle Stoffe vor ihrem Haus

Wir stellen unser Gepäck in einem großen Lagerhaus neben der Gompa ab und spazieren zum Fluss. Kiwis wachsen in kleinen Plantagen an den Hängen um das Dorf herum. Auch Äpfel, Aprikosen und Orangen gedeihen hier. In den Gärten sprießen Kohlköpfe, Kartoffeln und Zwiebeln aus der Erde. Die Bewohner Sangtis versorgen sich selbst und das gar nicht schlecht.

Zwischen den Wiesen im Tal windet sich der Fluss Sangti in seinem felsigen Bett. Er führt eisiges, kristallklares Wasser aus den Bergen mit sich. An seinem Ufer kochen wir ein spärliches Mahl und fläzen uns ins Gras, das von der mittlerweile heißen Mittagssonne beschienen wird. Am Himmel weit über uns hängen bauschige weiße Wolken. Träge sind sie und inspirieren uns zum Nichtstun.

Um das Tal schmiegen sich tiefgrüne Wälder an sanfte Bergrücken. Gebetsfahnen flattern über den Pfaden. Stupas und Gebetsmühlen zieren die Landschaft. Sie hüllen das Sangti Tal in einen seidenen Glücksschleier; pures Karma, unsichtbar und doch wirksam. Eine friedliche Ruhe begleitet jeden Schritt, die andernorts schwer zu finden ist.

Einheimische Männer bollern auf legendären Royal Enfields durch das Tal. Sie tragen Jagdgewehre mit aufgeschraubtem Zielfernrohr auf den Rücken. Abtrünnig sehen sie aus, doch ihr Gruß ist herzlich.

Gebetsmühle, Sangti, Arunachal Pradesh
Gebetsmühle am Wegrand
Kiwi, Sangti, Arunachal Pradesh
Kiwiplantage im Sangti Tal
Sangti Tal, Arunachal Pradesh
der Fluss Sangti meandert durchs fruchtbare Tal
Sangti, Arunachal Pradesh
Gärten und Äcker um Sangti

Sangti zwischen Mais und Tourismus

Zurück im Dorf schlendern wir zwischen Holzhäusern umher, die mal malerisch, mal verwittert, aber immer charmant aussehen. Überall im Ort trocknen Maiskolben. Ganze Terrassen und Lagerböden sind lückenlos mit der Ernte bedeckt. Mais im Überfluss. In einem kleinen Hof zermalmen zwei Frauen ausgedörrte Maiskörner in einem großen Mörser zu Mehl. Sie tragen wollene Jacken und grobe Stoffe – robuste Kleidung für ein robustes Leben. Auf der Straße zieht ein vielleicht vierjähriger Junge im ausgewaschenen Pullover ein Plastikauto an einem Faden polternd hinter sich her. Flöhe beißen Hunde. Im Zentrum des Dorfes hockt eine Monpa auf dem Gehweg vor ihrem Haus und webt traditionelle Tücher.

Unten am Fluss stehen großzügige Wohnzelte am Ufer. Das Tourismusdepartment Arunachal Pradeshs versucht Sangti auf der touristischen Landkarte als ein Paradies für Naturliebhaber zu verankern. Großstädter aus den Metropolen des Landes kommen hierher und erfreuen sich für ein paar Stunden an der friedlichen Abgeschiedenheit und einem Zeltabenteuer, das sie Glamping – glamorous camping – nennen. Ein paar Meter weiter schlagen wir unser Zelt auf, genießen das Nachmittagslicht und das Rauschen des Flusses.

Bauernhaus, Sangti, Arunachal Pradesh
die Bauernhäuser im Himalaja sind oft bunt angestrichen
Maiskolben, Sangti, Arunachal Pradesh
Maiskolben trocknen auf einer Terrasse
Sangti, Arunachal Pradesh
Sangti und die Glampingzelte

Am gegenüberliegenden Ufer befestigt ein Dutzend Männer aus dem Dorf das steil abfallende Ufer des Flusses mit Sandsäcken und Steinen. Ab und an dringen Rufe und Gelächter herüber. Aus der Ferne nähert sich uns ein alter, hagerer Bauer mit schweren Schritten. An seiner Schulter lehnt eine Axt. Das Gesicht ist zerfurcht und ledrig vom Leben unter der Höhensonne. Der Alte erzählt uns Geschichten, die wir nicht verstehen, doch das scheint ihm nichts auszumachen. Zum Abschied schenkt er uns eine Flasche Wasser und ein paar Gurken. Der Tag geht dahin; langsam, unmerklich, bis die Sonne versinkt und die kalte Gebirgsnacht hereinbricht.

Am nächsten Morgen verlassen wir die angenehme Ruhe Sangtis. Granatapfelbäume und Maisfelder säumen unseren Weg nach Süden. Wir haben uns mit unserem Karma versöhnt. Nach zwanzig Minuten sitzen wir auch schon in einem alten Pkw und holpern mit zwei wortkargen Männern aus Sangti zurück nach Dirang und an die kurvenreiche Hauptstraße.

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Sangti, Arunachal Pradesh
zelten am Fluss im Sangti Tal
Sangti, Arunachal Pradesh
herrliches Sangti Tal

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