Tango Argentino, Argentinien, Titel
Melancholie als Lebensgefühl

Tango Argentino

Ein betrunkener Hafenarbeiter lehnt an einer Straßenlaterne in einer einsamen Gasse. Mit wackeligen Knien macht er sich auf, stolpert erst über den rechten, dann über den linken Fuß und umarmt schließlich eine Litfaßsäule. Ein Tango schwingt mit melancholischem Klang durch die Luft. Die Melodie ist einfühlsam, stolz, voller Zweifel an der Welt und im Bewusstsein einer verlorenen Liebe. Es ist der Soundtrack eines schwermütigen Lebens. Der Betrunkene scheint zu weinen und rappelt sich dennoch wieder auf. Seidene Fäden ziehen ihn in die Höhe. Die Hand des Marionettenspielers lässt seinen Protagonisten noch einmal in die Gosse sinken, dann verstummen die letzten Takte. Der Vorhang fällt.

Wir sind in San Telmo, dem ältesten Viertel von Buenos Aires. Kopfsteinpflaster zieren die Gassen. Der Charme vergangener Grandeur dringt aus den Gebäuden, die mit der Zeit viel Charakter gewonnen haben. Hier wird in jeder Ecke die Geschichte der Stadt erzählt, von den ersten Hafenarbeitern und Ziegelmachern, über den wirtschaftlichen Aufstieg und die Wellen der Immigration bis zur Boheme und Künstlerszene, die sich hier im 20. Jahrhundert niederließ. Und natürlich erzählt San Telmo auch vom Tango.

Bis heute hat sich das Viertel eine eigene Identität bewahrt. San Telmo ist weder vornehm noch aufpoliert. Gefangen zwischen Verfall und Schönheit ist es so lebendig wie kaum eine andere Nachbarschaft in Buenos Aires. Jeden Sonntag findet hier einer der schönsten und prächtigsten Antik- und Straßenmärkte des Landes statt. Mitten drin befindet sich die Plaza Dorrego. Gerade packt Joaquin seine betrunkene Marionette, die Straßenlaterne und die Litfaßsäule in seinen Utensilienkoffer. Aus seinem Handy erklingt ein neuer Tango.

Gemeinsam stehen wir in der Menge. „Tango“, sagt Joaquin, „ist nicht nur Musik, es ist ein Gefühl.“ Auf der Plaza stehen Tische und Stühle vor den Cafés und Restaurants. Dazwischen tanzt ein einsames Paar. In elegantem Abendkleid und feinem Anzug drehen sich die beiden stolz umeinander. Ihre Körper sind eng verschlungen. „Schaut sie euch an“, fordert Joaquin uns auf, „seht genau hin. Buenos Aires ist Tango.“ Sinnlich und emotional, langsam, aber auch kraftvoll. Der irische Literaturnobelpreisträger Bernhard Shaw hat einmal gesagt:

„Der Tango ist der vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens.“

In den frühen Abendstunden wird die gesamte Plaza Dorrego zur Tanzfläche. Der stolze Tango führt in die Nacht.

Marionettenspieler in San Telmo, Buenos Aires, Argentinien
Bandoneon, Tango Argentino, Buenos Aires
Tangotänzer, Tango Argentino, Buenos Aires
Tangospieler, Tango Argentino, Buenos Aires

Carlos Gardel und Astor Piazzolla

Die Anfänge des Tango Argentinos liegen am Ufer des Río de la Plata. Im Großraum Buenos Aires treffen zum Ende des 19. Jahrhunderts Migranten aus verschiedenen Kulturen aufeinander. Im Hafen von La Boca hausen sie perspektivlos in bescheidenen Schlafsälen. In diesem Milieu entsteht ein Tanz, der Arbeiter, Ganoven und Kleinkriminelle gleichermaßen verzaubert: Der Tango. In den Bars und Spelunken, den Bordellen und Kabaretts von Buenos Aires wird er begeistert getanzt.

In jenen Tagen ist Tango Ausdruck des Leidens und der Hoffnungslosigkeit. Es ist die Melancholie der Mittellosen. Der damals in Buenos Aires lebende Komponist Enrique Santos Discépolo beschrieb die Musik so:

„Der Tango ist ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann.“

In der argentinischen Oberschicht hat der Tanz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dagegen einen schlechten Ruf. Tango ist ein schmutziges Wort, das aus der Unterwelt kommt. Doch dann betritt Carlos Gardel die Bühne. Schon als Jugendlicher komponiert und singt er, interpretiert seine Musik in den Bars der Stadt und wird bald zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten des Tangos. Mit ihm verschiebt sich der Schwerpunkt vom sinnlichen Tanz zu melancholischem Gesang. Tango ist plötzlich sozialkritisch und deutlich. Die Lieder erzählen Geschichte von Liebe und Ungerechtigkeit, von Zweifel und einsamen Herzen. Sie besingen romantische Helden, die sich fatalistisch in ihr Schicksal stürzen. Das Publikum ist elektrisiert.

Sogar in Europa feiert Carlos Gardel, einst mit seiner Mutter aus Frankreich nach Argentinien auswanderte, Erfolge. Er wird zur Stimme des Tango Argentino und zum ersten und vielleicht einzigen argentinischen Weltstar der Unterhaltungsbranche. Gardel hebt den Tango auf eine neue Ebene, bringt ihn aus dem Ghetto hinaus in die Welt. In seiner Bedeutung für den Tango ist Gardel einzigartig und doch bleibt er nicht allein auf dem musikalischen Thron.

Carlos Gardel, Tango Argentino, Buenos Aires

Nach einer Phase des Vergessens belebt Astor Piazzolla den Tango in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu und macht ihn in Argentinien endgültig salonfähig. Sein Tango Nuevo flechtet die Musik der Gosse in eine bildungsbürgerliche Tradition. Elemente aus Jazz und Klassik fließen ein, ohne das Wesen des Tangos zu verändern. Der typische Klang des Bandoneons, synkopische Rhythmen und die melancholische Stimmung bleiben erhalten. Es ist ein Tango Piazollas, mit dem Joaquin seine betrunkene Marionette durch die einsame Gasse torkeln lässt.

In Argentinien und vor allem in Buenos Aires ist Tango mehr als ein Tanz. Tango spiegelt die Seele der Stadt, ist Charme und Stolz und Leid. In Dutzenden Milongas wird in Buenos Aires Tango unterrichtet. Auf dem Parkett der Tanzschulen folgen auch wir dem Grundschritt im Quadrat. Doch der stolze Tango bringt mich an die Grenzen meines Geschicks.

La Boca und der Tango

Die Gegend um La Boca schmückt sich bis heute mit dem Tango. Im Caminito, einer kurzen Gasse in der Nähe des Hafens, sind die alten Hütten der frühen Migranten erhalten geblieben. Heute sind sie zu Restaurants und Cafés umgebaut, auf den Terrassen führen Tangotänzer ihre geschmeidigen Schritte vor, Touristen lassen sich in eleganter Tangopose ablichten und vom ersten Stock winkt eine lebensgroße Pappfigur von Carlos Gardel auf das bunte Treiben herab.

Auch die Tänzer auf der Plaza Dorrego bewegen sich zu den Klassikern der Tangogeschichte. Dass der Tango Argentino bis heute mit Leidenschaft zelebriert wird, liegt auch an der Hingabe zur Veränderung. Die Musik vom Río de la Plata fusioniert mit Pop und Rock und macht selbst vor der Klubszene nicht halt. Als Elektrotango ist er seit der Jahrtausendwende mit den Sounds des Gotan Projects oder des Bajofondo Tango Clubs auch hier anschlussfähig.

Schließlich ernennt die UNESCO den Tango 2009 zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit. Die Musik ist mit all ihren Formen Ausdruck des Lebensgefühls in Buenos Aires. Melancholie und Stolz verbinden sich zu einer Identität, die den Menschen am Rio de la Plata eigen ist. Sie leben in der Gewissheit, am richtigen Ort zu sein, auch wenn die Last der Welt sie erdrücken mag.

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Tangotänzer, Tango Argentino, Buenos Aires
El Caminito, Maradona, Evita, Carlos Gardel, Buenos Aires
La Boca, Buenos Aires, Argentinien
bunten Fassaden im El Caminito, La Boca, Buenos Aires

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