Cabo Polonio, Uruguay, Titel
Uruguays Atlantikküste

Cabo Polonio und das wilde Meer


30. Januar 2021
Uruguay
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Stotternd und stockend bleibt der Pkw auf der sandigen Straße stehen. Wir haben unser Ziel erreicht: Valizas, ein kleines Fischerdorf an der Atlantikküste. Auf den meisten Landkarten Uruguays sucht man diesen Ort vergeblich. Zu winzig und unbedeutend ist die Siedlung mit ihren 200 Einwohnern. Doch; wir sind froh, aussteigen zu können. Die ältere Dame hinter dem Steuer des Kleinwagens, die uns bis hierher bringt, besitzt keine Fahrerlaubnis. Sie fährt uns, wie sie sagt, um ein bisschen zu üben. Auf der einsamen Straße ist das kein Problem, wirklich sicher fühlen wir uns ob der unnötig ruckelnden Fahrweise trotzdem nicht. Außerdem hat die gute Frau möglicherweise nicht mehr alle beisammen. Sie erzählt Geschichten, deren Kausalität uns verborgen bleibt. Nur so viel: Offenbar ist die Dame mit dem deutschen Kaiser verwandt. Warum und wie genau, ist nicht so richtig klar. Aus Sicherheitsgründen steigen wir aus.

Der Pkw wackelt auf der Landstraße davon und wir spazieren hinein in einen Ort, für den die Bezeichnung Dorf eigentlich schon zu hoch gegriffen ist. Auf den ersten Blick gibt es in Valizas nichts, das unser Interesse weckt. Eine Piste, die hier als Hauptstraße dient, führt in Richtung Meer. Immerhin: Meer bedeutet hier Atlantik. Die Weite des Ozeans ist nah und das wiederum ist ein schönes Gefühl. Der Himmel ist grau. Eine dunkle Wolkendecke hängt weit über uns. Sie könnte Charakter geben, lässt uns aber eher trostlos an ein paar Häusern vorbeilaufen. In erster Reihe entlang der Piste stehen die einfachen Gebäude noch mehr oder weniger geordnet nebeneinander, doch die Hütten dahinter und in unmittelbarer Strandnähe wirken, als seien sie wahllos durcheinandergewürfelt.

Ein paar Hunde kreuzen unseren Weg genauso wie ein, zwei Menschen, die keine Notiz von uns nehmen, keine Notiz nehmen wollen. Wir folgen einer Wegbeschreibung, die eigentlich keine ist. „Findet das blaue Haus.“, ist der einzige Hinweis, den wir von unserer Gastgeberin Cecilia erhalten haben. Sie nimmt uns auf, weil ihre Tochter eine Mochilera ist. Genau wie wir reist sie über den Kontinent; immer der Nase nach, von einem Ort zum anderen. Wir schreiben eine ähnliche Geschichte und sind dadurch in Cecilias Augen miteinander verbunden. Das blaue Haus entpuppt sich als ein Gasthaus am Strand mit Blick auf die Wanderdünen und den Ozean. So schön es hier ist, bleibt Valizas doch ein verschlafener Ort. Zwar gibt es ein Hostel und einige Restaurants, aber jetzt im Mai, beinahe Winter in Uruguay, ist alles geschlossen. Einzig die kleine, urige Gaststätte Rabuk, bietet den Einheimischen die Möglichkeit eines Treffpunkts.

Atlantikküste, Uruguay
stürmische Atlantikküste bei Valizas
Mann am Meer, Uruguay

Valizas und der Strand

Wir machen uns auf zum Strand – mehr gibt es auch nicht zu tun. Unter den düsteren Wolken wogt das Meer hin und her. Möwen ziehen kreischend ihre Runden und ganz weit weg, nur als kleine Punkte wahrnehmbar, treiben eine Handvoll Fischerboote auf den Wellen. Täglich fahren die Männer hinaus, werfen ihre Netze aus, um sie am nächsten Morgen wieder einzuholen.

In diesem Augenblick landet eines der Boote am Strand. Zwei Fischer kämpfen mit der Brandung, ziehen ihren Kahn an dicken Tauen ans Ufer. Mühsam kommen sie voran, graben ihre nackten Füße in feuchten, körnigen Sand, stemmen sich gegen die Kraft des Wassers. Wir packen zu, zerren gemeinsam am Tau. Für unsere Hilfe ernten wir ein anerkennendes Nicken. Es ist vermutlich schwer, mehr Respekt von alten Seebären zu bekommen. Ein paar Worten wechseln hin und her. Wir wünschen uns gegenseitig Glück. Dann klettern die beiden in ihr Boot und machen, was Fischer auf einem Boot so machen.

Düne an der Atlantikküste, Uruguay
bedeckter Himmel über dem Atlantik, Uruguay

Wir schlendern weiter am Strand entlang. Der Ozean rauscht gewaltig in unseren Ohren, wirft stürmischen Wind über das Land, der nicht nur unter unsere Kleider, sondern auch durch unsere Köpfe weht. Zwei Hunde begleiten uns. Es sind Pilsen, der Nachbarshund Cecilias, den wir in Abwesenheit aller füttern dürfen und der nach dem peruanischen Bier Pilsen Callao benannt ist, und Fleischpastete. Fleischpastete gehört, nun ja, wohl irgendwie zu uns.

Es ist der schönste Straßenhund, den wir je gesehen haben, womöglich sind wir aber auch nur verliebt. Fleischpastete ist ein Freigeist, ein Hund der Straße, ein Hund des Strandes. Er gehört niemandem, aber weil wir ihn heimlich aus Pilsens Napf fressen lassen, sind wir jetzt Teil desselben Rudels.

Wenn ihr unsere Abenteuer und Geschichten gerne auf Papier lesen wollt, dann schaut doch mal hier:

In unserem Buch Per Anhalter durch Südamerika erzählen wir von unserer Reise kreuz und quer durch einen atemberaubenden Kontinent. Begleitet uns von den Gletschern Patagoniens bis an die karibischen Traumstrände Kolumbiens und Venezuelas. Treibt mit uns auf Marktbooten über den Amazonas und folgt uns hinab in die Silberminen Boliviens. Wir couchsurfen durch Studenten-WGs, teilen das Landleben der einfachen Bevölkerung und den Luxus in bewachten Wohnvierteln der Metropolen, schließen Freundschaften mit LKW-Fahrern und tauchen mit Seelöwen vor Galapagos.

2016 Malik NG, Taschenbuch, 432 Seiten

zum Buch

Cabo Polonio und das Haus am Meer

Von Tag zu Tag treibt der Atlantik immer weitere Wolken über Valizas hinweg. Schaumkronen tanzen über dem Wasser und wir brechen zu einer sieben Kilometer entfernte Landspitze auf, die den klangvollen Namen Cabo Polonio trägt. Zwischen riesigen Dünen, immer parallel zur rauschenden Uferbrandung, laufen wir Richtung Süden. Mit dabei: Fleischpastete, der nicht mehr von unserer Seite weicht. Auf und Ab folgenden wir dem Strandverlauf, erklimmen Verwehungen, nur um auf ihren Rücken festzustellen, dass es außer Wasser, Wolken und Sand nichts zu sehen gibt. Zwei Stunden nach unserem Aufbruch befinden wir uns im Nirgendwo der uruguayischen Atlantikküste. Der Strand reicht weit ins Hinterland. Getragen von böigen Wind fegt der Sand über die Dünen, türmt sich auf, weht in unsere Gesichter, erschwert das Vorwärtskommen.

Daneben öffnet sich das graublaue Wasser des Atlantiks in unermesslicher Weite bis zum Horizont, wo es mit dem Himmel verschmilzt. Eine Szene, bedrohlich und melancholisch zugleich. Es dauert Stunden, aber irgendwann erreichen wir Cabo Polonio. Dieser Ort, noch viel weniger ein Dorf als Valizas, wird von drei Seiten vom Ozean umspült. Er ist Teil des gleichnamigen Nationalparks und nur mit allradbetriebenen Fahrzeugen zu erreichen, wenn man nicht gerade wie wir zu Fuß anreist.

Unterkunft in Cabo Polonio, Uruguay
Jorges Gasthaus am Strand
Blick von der Strandterrasse
Cabo Polonio am Strand, Uruguay
das felsige Ufer von Cabo Polonio
Cabo Polonio liegt auf einer felsigen Landspitze

Cabo Polonio, kurz Cabo, ist winzig und das hat einen Grund. Nicht viele Menschen können dauerhaft mit den Bedingungen leben, die hier geboten werden. Wer sich an diesem Ort niederlässt, ist isoliert von beinahe jedem modernen Schnickschnack. Es gibt kein Internet, keinen Strom, keine Infrastruktur. Dafür haben die meisten Häuser, die wild um den Leuchtturm verstreut sind, einen Brunnen vor der Haustür. Solarzellen, Windräder und Generatoren sorgen dafür, dass das Radio läuft und ab und an auch mal eine Glühbirne leuchtet.

Permanent wohnen etwa 30 Personen in Cabo Polonio. Einer von ihnen ist Jorge, in dessen Hostel direkt am Strand wir übernachten. Jorge ist wohl so alt wie der Ozean, der vor seiner Haustür brandet, mindestens aber 60 Jahre. Sein Alltag besteht im Wesentlichen aus zwei Dingen. Jeden Morgen schnappt er sich eine Angel, geht die paar Meter bis ans Wasser, wirft die Rute aus und schaut aufs Meer. So steht er da, mit seiner verwaschenen Schirmmütze auf dem Kopf, die Füße in olivgrünen Gummistiefeln und die Hände in den ausgebeulten Hosentaschen seiner Cargohose. Ab und an gesellt sich ein Nachbar zu ihm, spricht ein paar Worte oder auch nicht und geht wieder. Aber Jorge bleibt, unbeirrt, unverwüstlich schaut er auf den Ozean – oftmals stundenlang. Ich glaube, dass Jorge in dieser Zeit nicht mehr Jorge ist. Er ist Sand, ist Wasser, ist Wind, ist vielleicht sogar der Fisch, den er versucht zu fangen.

In diesen Momenten hat sich Jorge, obwohl seine physische Gestalt noch immer da ist, aufgelöst. Einmal bewegt er sich dennoch, ist wieder vollständig Jorge aus Cabo Polonio. Mit für ihn ungewöhnlich schnellen Schritten kommt er auf uns zu und zeigt aufs Wasser: „Miren!“ – „Schaut!“ Und dort, keine 50 Meter vom Ufer entfernt, schwimmen zwei Delfine. Wir sehen ihre Rückenflossen immer wieder zwischen den Wellen auftauchen. Heute fängt Jorge keinen Fisch mehr, die tierische Konkurrenz macht seine Chancen zunichte. Doch Jorge bleibt gelassen. „Dann eben an einem anderen Tag“, sagt er und kümmert sich um die zweite Sache, die ihn jeden Tag begleitet: Die Zubereitung des Mittagessens für Luna, einen Straßenhunde-Welpen undefinierter Art.

Muscheln, Strand, Uruguay
Muschelstrand in Cabo Polonio, Uruguay

Luna ist ein Tunichtgut. Neugierig schlawinert sie durch das Haus, über die Strandterrasse und auch um unsere Vorräte, die wir eigentlich nur mit Fleischpastete teilen wollten. Bis nach Cabo Polonio ist er uns nicht von der Seite gewichen und auch jetzt verbringen wir die meiste Zeit miteinander. Doch plötzlich ist Fleischpastete verschwunden; einfach nur mehr auffindbar. Es dauert eine Weile, dann hören wir ein Wimmern. Irgendwie hat sich Fleischpastete unter die Terrasse manövriert und nun winselt er jämmerlich unter den Holzplanken. Durch einen Spalt können wir seine sandige Nase sehen und es bricht uns das Herz.

Wir erklären Jorge, was passiert ist und wollen helfen. Rettungsaktion Fleischpastete! Jorge ist weniger animiert als wir, aber Jorge gehört zu den Guten. Obwohl er weiß, wie unnötig es ist, holt er ein Stemmeisen aus seinem Werkzeuglager und beginnt die Planken der Terrasse aufzuhebeln. Doch gerade als er das zweite Holz löst, kriecht Fleischpastete am andere Ende Terrasse aus dem Untergrund hervor und wedelt belustigt mit dem Schwanz. Uns ist es ein bisschen peinlich. Wir fühlen uns verantwortlich für das neu entstandene Loch in der Terrasse, doch Jorge zuckt nur die Achseln, holt einen Hammer und wenig später ist alles repariert.

Die Seelöwen von Cabo Polonio

Cabos Strand schafft es nicht um die Landspitze herum. Ein felsiger Abschnitt unterhalb des Leuchtturms unterbricht den weiten Sandstreifen. Genau hier befindet sich Cabos Hauptattraktion. Eine Seelöwenkolonie hat die von schäumender Gischt umspülten Felsen zu ihrem Ruheplatz erkoren. Faul liegen die mächtigen Tiere herum und stecken nur gelegentlich ihre Nasen in den salzigen Wind.

Seelöwen am Atlantik in Uruguay
Seelöwenkolonie an Uruguays Atlantikküste

In den Sommermonaten, wenn das Thermometer 30 °C anzeigt, füllt sich Cabo Polonio mit Touristen, Sonnenanbetern und vor allem Surfern. Jeder von ihnen will ein Stück unberührte Natur ergattern, will Teil von dessen sein, was für eine Woche ganz romantisch klingt. In dieser Zeit verhundertfacht sich die Bevölkerungszahl. Gäste aus aller Welt kommen. Obwohl Jorge mit seinem Hostel von genau dieser Urlaubszeit lebt, zieht er den Winter und die gefühlte Einsamkeit vor. Seit mehr als 20 Jahren lebt er mittlerweile hier und wenn man ihn sieht, fällt es nicht schwer zu glauben, dass er an diesem Ort seinen Seelenfrieden gefunden hat.

Auch wir lassen uns von der Magie Cabos verführen, genießen die Ruhe, nehmen Sonne, Sand und Wasser in uns auf. In Punta del Este, Uruguays Badeort der Schönen und Reichen, hieß es, dass alle Orte entlang der uruguayischen Küste gleich seien, dass es eigentlich keinen Unterschied mache, wohin man gehe. Tatsächlich ist Cabo Polonio, zumindest im Winter, die Ausnahme. Nicht nur am Tag, sondern auch nach Sonnenuntergang. Dann strahlen Millionen und Abermillionen Sterne am nächtlichen Himmel, deren Anblick keine noch so kleine künstliche Lichtquelle trübt. In diesen Stunden beleuchtet Jorge sein Hostel mit Kerzen. Auf der Terrasse, in der Küche, im Bad – überall flackert ein kleines Feuer und sorgt für ein wenig Licht in der Dunkelheit. Von Cabo Polonio betrachtet, wirkt selbst der Lichtkegel über Valizas gigantisch.

Nach zwei Tagen verlassen wir Cabo Polonio so, wie die meisten Touristen den Ort erreichen – auf der Ladefläche eines russischen Lkws. Dreißig Minuten dauert die Fahrt, auf der wir ganz schön durchgerüttelt werden. Die Dünen hoch und wieder runter bahnt sich der Transporter einen Weg, bis wir endlich eine befestigte Straße zurück nach Valizas erreichen. Fleischpastete haben wir zurückgelassen. Er war wieder einmal verschwunden und auch Tage später noch immer nicht zurück in Valizas. Aber dann erreicht uns eine freudige Nachricht von Cecilia. Fleischpastete ist wieder da und hat mit den Künsten der Straße das Herz ihres Nachbarn erobert. In einem neuen Rudel angekommen, frisst er fortan gemeinsam mit Pilsen aus einem Napf.

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Cabo Polonio, Uruguay
Cabo Polonio am Atlantik
Cabo Polonio, Uruguay
Reifenspuren am Strand, Cabo Polonio, Uruguay

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