Amritsar, Punjab, Indien
Der innere Kompass geht verloren

Amritsar und das Wunderland Indien


26. Juli 2020
Indien
Schreibe etwas

Mahatma Gandhi lächelt leicht vom Torbogen, der die Brüder und Erzfeinde Pakistan und Indien voneinander trennt. Zu beiden Seiten der Grenze liegt der Punjab, das Fünfstromland. Eine fruchtbare Region die, obwohl politisch entzweit, sowohl in Pakistan als auch in Indien wirtschaftlich große Bedeutung besitzt. Ein Grenzbeamter in schnieker khakifarbener Uniform mit Bügelfalte steht neben dem Torbogen. Ein dekorativer Turban schmückt sein Haupt. Passkontrolle, strenge Blicke. „Where do you come from?“, fragt eine Stimme. „Pakistan“, erwidere ich, nein, „sorry, Germany“. Oha, noch nicht einmal richtig im Land und schon das erste Fettnäpfchen. Indien verunsichert mich. Die Geschichten von Arm und Reich, Slums und Bollywood, Kastensystem und Karma, heiligen Kühen und roher Gewalt haben schon weit vor der Grenze meinen inneren Kompass auseinandergenommen. Beim Gedanken an Indien verliere ich die Orientierung.

Der dekorative Turban reicht unsere Pässe zurück. „Welcome to India.“, und über seinem nun freundlichen Lächeln biegt sich ein buschiger, an den Seiten nach oben gezwirbelter, dunkler Schnurrbart. Es gibt kein Zurück mehr.

Fünfzig Kilometer weiter östlich befinden wir uns in der Millionenstadt Amritsar. Hier führt die Grand Trunk Road vorbei. Eine historische Handelsstraße, die von Kolkata über die Gangesebene bis nach Lahore und weiter nach Kabul führte. Ganz in der Nähe endeten einst die Eroberungszüge Alexanders des Großen. Von hier ging 1919 der gewaltfreie Widerstand der indischen Unabhängigkeitsbewegung aus, nachdem britische Kolonialtruppen in Amritsar 400 Demonstranten erschossen und weitere 1500 verletzten.

Attari Grenze, Amritsar, Punjab, Indien
am Grenzübergang in Attari betreten wir Indien

Amritsar, der Kaninchenbau

Es ist heiß, das Thermometer zeigt weit über dreißig Grad an. Staub bedeckt Straßen und kaputte Gehwege, bedeckt verwaschene Mauern und bröckelnden Putz. Es hat lange nicht geregnet. Motorräder knattern unentwegt hupend durch die Gassen. Ein Knirps mit speckigem Haar und dreckigem Shirt reckt uns die leere Hand entgegen. Der erste Mensch, dem wir in Amritsar begegnen, ist ein bettelndes Kind. Es bleibt nicht das einzige.

In einer Ecke sitzt ein Mann mit einem wulstigen Wasserbein auf der Straße. Aufgebläht wie ein Luftballon liegt es vor ihm, drei Mal so dick wie das andere Bein. Er braucht Geld für Medikamente, steht auf einem Schild vor seiner Brust.

Hunde streunen durch die Stadt. Indien erschlägt uns. Schweiß steht auf meiner Stirn und ich bin mir nicht sicher, ob er allein durch die Hitze des Subkontinents dorthin gelangt ist. Das hektische Hupen des chaotischen Verkehrs animiert mein Herz zu Stakkatoschlägen. Ich bin nervös. Heruntergelassene Bahnschranken bremsen einen Teil der quäkenden, stinkenden Blechlawine. Doch wer sein Gefährt unter den Schranken hindurch schieben kann, lässt sich nicht aufhalten. Selbst das dröhnende Horn des nahenden Zuges kümmert nur die wenigsten Rad- und Motorradfahrer an den Gleisen.

Die Bahnschienen teilen die Stadt in den hektischen, modernen Norden und das hektische, historische Viertel im Süden mit den vielen verwinkelten Gassen, Märkten und Tempeln. Amritsar ist intensiv – lauter, wuseliger und schmutziger als alles, was wir bisher kennengelernt haben. Ein Stimmengewirr aus Punjabi, Hindi und Urdu schwirrt durch die Gassen. Es vermischt sich mit dem Motorenlärm der Mopeds und geht letztendlich im schrillen Hupkonzert auf den vollgestopften Straßen unter.

Rosengarten und Maharaja Ranjit Singh Reiterstatue, Amritsar, Indien
der Rosengarten ist einer der wenigen ruhigen Orte in Amritsar
Rosengarten, Amritsar, Indien

Die Luft steht schwer wie Blei, hitzegeschwängert und toxisch. Männer und Frauen schieben sich durch bunte, lebendige Gassen. Das wilde Durcheinander überfordert uns, wirkt reizvoll auf unbekannte Art. Amritsar ist der Kaninchenbau durch den wir in die verrückte Welt des Wunderlandes Indien fallen. Von nun an verdreht uns der Subkontinent den Verstand.

In einem alten, mehrstöckigen Gebäude mieten wir ein Zimmer. Unter der hohen Decke rotiert ein schwerer Ventilator. Langsam wälzt er die warme Luft über einer durchgelegenen Matratze. Ein wurmzerstochener Kleiderschrank steht in einer Ecke. Wir bestellen Essen im hauseigenen Restaurant. Zimmerservice. Bereits die ersten Stunden in Indien erschöpfen uns. Den Weg nach draußen trauen wir uns heute nicht mehr zu, aus Angst in der tumultartigen Wirklichkeit des Landes unterzugehen.

Hinter den verschmierten Fensterscheiben ziehen schwarze Wolken über den Himmel. Plötzlich rütteln Sturmböen an den Fensterläden. Staub und Dreck wirbelt aus den Gassen hoch in die Luft und wird von einem heftigen Platzregen wieder auf die Erde gespült.

Altstadt in Amritsar, Indien
knorrige Bäume und wilde Stromkabel in der Altstadt von Amritsar
Altstadt in Amritsar, Indien
Blick durch die einst prächtigen Gassen
Altstadt in Amritsar, Indien

Am nächsten Morgen strahlt sie Sonne über Amritsar. Müll brennt in den Straßen und was mitten in der Stadt nicht verbrannt werden kann, holt wenig später ein rostender Traktor mit klapperndem Anhänger. Männer mit Schaufeln und Schüsseln sammeln den übrig gebliebenen Abfall auf der offenen Ladefläche. Mit bunten Tüchern schützen sie ihre Gesichter vor der brennenden Sonne und den Dämpfen des noch immer schwelenden Unrats. Einst prächtige Kolonialgebäude verfallen allmählich in faulig riechenden Straßen. Ein Junkie verfolgt uns mit schwankendem Gang, auch um ihn weht ein säuerlicher Geruch. Mit glasigem Blick spricht er uns an und ist dabei so zugedröhnt, dass ihm die Verständlichkeit abhanden kommt.

Enge Gassen führen zu Märkten, in denen Obst und Haushaltswaren, religiöse Dolche und Medaillons verkauft werden. Schneider fertigen aus farbenfrohen Stoffen elegante Saris. Juweliergeschäfte präsentieren ihre goldglänzende Auslage hinter dicken Glasscheiben. Hölzerne Balkone ragen darüber hinweg. Immer wieder tauchen kleine Tempel und Schreine in den schattigen Gassen auf. Glocken läuten, Gläubige murmeln Mantras, falten die Hände vor der Brust, wischen sich über Gesicht und haarige Ohrläppchen. Männer mit Turbanen und prächtigen Bärten sind hier unterwegs. Fahrradrikschas und Motorräder drängeln sich durch schmale Wege. Dutzende ineinander verknäulte Stromkabel hängen bedrohlich darüber.

Aromatisch duftende Rauchschwaden ziehen vorbei. Sie gehören zu den handgedrehten Bidis, den Zigaretten des Subkontinents, die mit Vorliebe von Chai-Wallahs und Rikschafahrern geraucht werden. Ihr starker, würzig-trockener Geschmack gehört zu den ureigenen Sinneseindrücken Indiens.

Literatur Indien

Literaturtipps zu Indien

Zwischen Himalaja und Indischem Ozean entstehen atemberaubende Geschichten. Wenn ihr Lust habt mehr über den spannenden Subkontinent zu erfahren, bekommt ihr hier 11 Literaturtipps von uns, mit denen ihr vom heimischen Sofa in die faszinierende, ungeschminkte Welt Indiens eintauchen könnt. Und ja, Rochssare hat sie alle selbst gelesen.

zu den Literaturtipps

Altstadt in Amritsar, Indien
verfallener Charme in Amritsars Altstadtgassen
Altstadt in Amritsar, Indien

Punjabi Dhabas und der Geschmack Nordindiens

Dhabas, die großen und kleinen Straßenrestaurants sind überall in der Stadt verstreut. Sie versorgen die Menschen in Amritsar mit der Küche des Punjabs, die weit über die Grenzen des Bundesstaates und selbst über die Grenzen des Landes hinaus berühmt ist. Punjabi Dhabas sind ein Inbegriff der Vielfalt und Intensität der nordindischen Küche. Chili, Zitrone, Knoblauch und Ingwer gehören hier zu den meistgenutzten Gewürzen. Mattar Paneer, Naan aus dem Lehmofen, Dhal Makhani und viele weitere Gerichte, die heute überall in Indien verzehrt werden, stammen aus dem Punjab.

In Amritsar muss gegessen werden – viel und reichhaltig. Thalis sind der ideale Einstieg in die faszinierende Geschmackswelt des Subkontinents. Zu Reis oder Chapati werden verschiedene Currys serviert. Sie vermitteln einen Überblick über die kulinarischen Fähigkeiten des Landes, die mit wenigen Zutaten unseren Gaumen völlig neue Horizonte eröffnen. Dabei ist die indische Küche für uns Ungeübte extrem. Wichtig ist die Balance: Gegen brennende Chilischärfe helfen nur klebrig süßer Chai und cremiger Lassi.

Zurück in den Straßen Amritsars suchen wir noch immer Sinn in all dem Chaos. Wir brauchen eine Konstante, etwas Verlässliches, etwas das uns zuruft: „Seht mich an! Hier bin ich, so wie ihr mich kennt.“ Wir finden es nicht. Stattdessen hören wir „Welcome to Amritsar“ und geraten noch tiefer in den Strudel des Sonderbaren.

Punjabi Thali, Indien
Punjabi Thali
Amritsari Kulcha, Amritsar, Indien
Amritsari Kulcha ist das beliebteste Frühstück in Amritsar

Mata Lal Devi Tempel – architektonisches LSD

Richtig schräg ist der hinduistische Mata Lal Devi Tempel. Über dem Eingang empfangen zwei bekifft dreinschauende Löwenköpfe die Besucher. Dahinter öffnet sich eine Halle mit goldenen Schreinen, bunten Stoffen und schweren Glocken. Gläubige Hindus verbeugen sich vor Altären.

Eine unauffällige Seitentür führt in ein Labyrinth aus schmalen Gängen und Treppen, die in bizarren Räumen mit irrwitzigen Götzenfiguren und Fabelwesen münden. Manche Gänge sind so schmal, dass wir nur auf allen vieren durch sie hindurch kriechen können. Weit geöffnete Mäuler wilder Tiere bilden Pforten und Tore.

Der Mata Lal Devi Tempel ist ein architektonischer LSD-Trip. Gleich mehrere Realitäten sind hier miteinander in Ekstase verschmolzen. Eine Explosion an kitschig bunten Farben und Formen, zerrissen und neu zusammengesetzt zu wundersamen Gestalten und verrückten Wesen. Es heißt der Tempel könne Wunder vollbringen und sei ein Ort der Fruchtbarkeit. Aus ganz Indien pilgern kinderlose Frauen hierher und bitten um baldige Nachkommen.

Der Mata Lal Devi Tempel versetzt uns in einen Rausch, der auch auf den Straßen Amritsars nicht nachlässt. Geführt von der mächtigen Hand Indiens torkeln wir benommen durch die Gassen. Widerstand zwecklos.

Wenn dir dieser Artikel gefallen hat und du gerne mit uns auf Reisen gehst, dann unterstütze uns doch mit einem kleinen Trinkgeld. Spendiere uns ein Käffchen, Schokoladenkuchen oder ein anständiges Rambazamba – alles ist möglich.

Mata Lal Devi Tempel, Amritsar, Indien
im Mata Lal Devi Tempel beten Frauen für baldige Nachkommen
Mata Lal Devi Tempel, Amritsar, Indien
wilde Tiere werden zu Türen und Toren
Mata Lal Devi Tempel, Amritsar, Indien
Mata Lal Devi Tempel, Amritsar, Indien
skurrile Figuren schmücken das verrückte Tempellabyrinth

Und jetzt du!

Um uns vor Spam zu schützen, bitten wir dich die markierten Felder auszufüllen. Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.