Von Suriname kommend überqueren wir den Grenzfluss Maroni und werden auffallend begrüßt. Am anderen Ufer, in Französisch Guayana, ragt ein Metallstab aus dem Boden. Ein blaues Schild mit zwölf gelben Sternen ist darauf montiert. Es heißt uns in der EU willkommen. Im Nordosten Südamerikas betreten wir nach knapp zwei Jahren wieder europäischen Boden. Merkwürdiges Gefühl.
Französisch Guayana ist das einzige Land des Kontinents, das sich nicht von der einstigen Kolonialmacht lossagen konnte. Heute besitzt es den Status eines Übersee-Departements, gleichbedeutend mit Martinique oder Réunion und wird aus Paris mitregiert.
Die Menschen sprechen natürlich Französisch. Aus Lautsprecherboxen erklingt Patrice. An jedem noch so schäbigen Straßenimbiss gibt es, wenn man wünscht, ein Glas Wein zum Essen. In den Supermärkten lagert eine grandiose Auswahl an Käse und noch mehr französischem Rotwein. Bei Letzterem gilt jedoch Obacht. Werden die Flaschen nicht kühl gelagert, kippt der Wein im feuchtheißen Klima und schmeckt eher unwürdig.
Im kleinen verschlafenen Grenzstädtchen St. Laurent stellen wir uns an die Straße. Unsere Daumen zeigen in die Richtung der Hauptstadt Cayenne. Es ist ein heißer Nachmittag. Die Straße ist wenig befahren und so dauert es, bis wir eine Mitfahrgelegenheit finden.
Die Sonne ist bereits untergegangen, als Eric für uns hält. Unser Französisch ist nicht vorhanden und sein Englisch mehr als rudimentär, dennoch gelingen uns die Grundzüge einer Verständigung. Auch Eric will nach Cayenne, möchte aber unsere Ausweise sehen, bevor wir einsteigen. Ein Umstand, den wir in Südamerika bisher nicht erlebt hatten und der uns nun stutzen lässt.
Eric möchte sichergehen, dass wir nicht illegal im Land sind. Nach eigener Aussage kann er sich momentan keinen Ärger mit der Polizei erlauben. Wir fragen nicht weiter nach. Zwei Stunden später halten wir in einiger Entfernung vor einer Polizeiwache. Eric bittet uns, 500 Meter vor dem Kontrollposten auszusteigen. In der Dunkelheit laufen wir zu Fuß an der Kontrollstation vorbei. Freundliche Beamte. Freundliches „wohin des Weges“. Alles kein Problem.
Die Polizisten lachen viel. Ihr Englisch ist genauso ausbaufähig wie unser Französisch und so verständigen wir uns mit Händen und Füßen, meistens jedoch mit hochgestrecktem Daumen. Als wir erklären, dass wir gerade aus Suriname kommen, klatschen die Beamten beeindruckt in die Hände. Sie glauben tatsächlich, dass wir den Weg aus Suriname zu Fuß bewältigt hätten. Zum Abschied ruft uns einer der Polizisten ein stolzes „Good Bye“ hinterher.
Zurück in der Dunkelheit beschleicht uns das mulmige Gefühl Eric könnte ohne uns weitergefahren sein, aber nur ein paar Hundert Meter hinter dem Wachhäuschen sammelt er uns wieder am Straßenrand ein und gemeinsam fahren wir nach Cayenne.
Cayenne: Krachen lassen in den Tropen
In Cayenne wohnen wir in einer Tropen-WG. Sebastién und seine Mitbewohner sind unsere Gastgeber in einem Vorort der 63.000 Einwohner Stadt. Eine offene Veranda ist das Herzstück des Hauses. Hier befindet sich die Küche und zugleich ist sie das Wohn- und Esszimmer. Im Garten ragen Palmen in die Höhe und wenn uns Sebastién etwas zu trinken anbieten möchte, klettert er hoch hinauf und schlägt mit seiner Machete eine Kokosnuss.
Im Inneren des Hauses halten wir es dagegen kaum aus. Selbst nachts ist es viel zu heiß und so schlafen wir kurzerhand im Freien auf die Terrasse.
Die WG ist ein bunter Haufen abenteuerlicher Franzosen, die alle bereits mehr oder weniger lange in Französisch Guayana leben. Cayenne wimmelt nur so vor europäischen Kontinentalfranzosen, die von den Einheimischen oft spöttisch als Franzosen aus Métropole bezeichnet werden. Auf der Suche nach Jobs verschlägt es sie ans westliche Atlantikufer. Hier verdienen sie in den ausgelagerten Sektoren französischer Unternehmen ein sehr gutes Gehalt und kehren meist nach wenigen Jahren zurück nach Europa.
Dabei lassen sie es während ihrer Zeit in Französisch Guayana ordentlich krachen. Auswandern nach Französisch Guayana ist für viele Franzosen ein leicht kalkulierbares Risiko. Es ist noch immer derselbe Staat, hier wird die gleiche Sprache gesprochen, fast alle Waren und Lebensmittel werden aus Frankreich importiert. Lediglich der Regenwald und das tropische Klima sind neu, Rum und vor allem Kokain extrem billig. So wird ein überschaubares Leben in Französisch Guayana schnell zum auf Jahre ausgedehnten wilden Urlaub.
Fragt man Franzosen aus Métropole, wie sie das Leben in Französisch Guayana mit dem Leben in Frankreich vergleichen, verstehen sie meist die Frage nicht. „Das hier ist doch Frankreich“, antworten sie, weil Französisch Guayana doch ein Teil des Mutterlandes sei. Dabei bleiben die Franzosen aus Europa fast immer unter sich. Nur die wenigsten kennen tatsächlich Einheimische.
Wenn europäische Franzosen und südamerikanische Franzosen zusammenkommen, bleiben sie stets in ihren eigenen kleinen Grüppchen. Für uns wirkt es so, als könnten die einen nichts mit den anderen anfangen und umgekehrt.
Lebenswelten in Cayenne
Die einheimische Bevölkerung ist vornehmlich schwarz, fährt mit dem Bus in die Stadt, arbeitet für wenig Geld und bezeichnet sich keinesfalls als Frankreich zugehörig. Sie sind stolz auf ihre Heimat, auf Französisch Guayana, auf ihre Flagge. Frankreich ist für sie etwas ganz anderes.
Franzosen aus Europa leben dagegen großspurig und berauscht. Sie sind ausschließlich im eigenen, klimatisierten Auto unterwegs, denn das ist viel bequemer. In zwei Wochen, die wir in Cayenne verbringen, sehen wir außer uns keine weiteren Weißen im öffentlichen Nahverkehr.
Wir verstehen Französisch Guayana noch immer als Kolonie, als ein Land, das nie seine Unabhängigkeit erreichte. Viele Franzosen aus Métropole widersprechen unserer Wahrnehmung rigoros. Französisch Guayana sei schon deshalb keine Kolonie, weil es vor den Franzosen keine Menschen in diesem Gebiet gab. Ihre Vorfahren, so argumentieren sie, wären hier auf unbesiedeltem Terrain gelandet. In unseren Ohren klingt das nicht sehr wahrscheinlich.
Cayenne ist eine kleine, europäisch anmutende Stadt. Entlang der Av. du Général de Gaulle befinden sich Restaurants, Klamotten- und Elektronikgeschäfte, wie wir sie aus Europa kennen. Hier werden schicke Kleider und teure französische Kosmetikmarken verkauft. Daneben gibt es Läden, deren Regale mit Macheten in erschreckenden Größen vollgepackt sind. Einige wirken mit ihren Sägezähnen wie Schlachtergeräte und werden legal und ohne Aufsehen angeboten.
In den Seitenstraßen geht es südamerikanischer zu. Auf dem großen Obst- und Gemüsemarkt gibt es die besten Tropenfrüchte, Mangos und Maracujas. Beim Bäcker nebenan leckeres Baguette. Am anderen Ende der Straße essen wir Crêpes.
Der informelle Sektor ist auch in Cayenne sehr groß. Viele Arbeiter leben hier ohne Papiere. Sie sind aus Kolumbien, Venezuela oder Guyana geflüchtet und versuchen im südamerikanischen Europa ein Leben zu führen, das ihnen in ihren Heimatländern versagt blieb.
Yasmin gehört zu ihnen. Sie arbeitet als Schneiderin und kam über Brasilien durch den Dschungel bis nach Cayenne. Das Leben hier sei schwierig, erklärt sie, aber immerhin besser als in ihrer Heimat Kolumbien. Sie lädt uns zu sich nach Hause ein und ist uns in ihren bescheidenen Wohnverhältnissen eine gute Gastgeberin. Gemeinsam mit weiteren Afrokolumbianer:innen lebt sie auf engstem Raum. Yasmin selbst nennt sechs Quadratmeter ihr Eigen. Mehr als ein Bett und ein kleiner Tisch mit Nähmaschine, der zugleich ihr Arbeitsplatz ist, passen nicht hinein.
Silvester im Sumpf
Als wir uns der Silvesternacht nähern, lädt uns Sebastién zu einer Feier mit seinen Freunden ein. Wir fahren hinaus aus der Stadt, setzen in der Dunkelheit mit einer wackeligen Nussschale über einen Fluss und erreichen nach einer zehnminütigen Bootsfahrt eine Holzhütte auf Stelzen inmitten riesiger Sümpfe und Wälder. Das Haus ist groß, mit einer breiten Terrasse, auf der an einer lang gezogenen Tafel bereits eine gut gelaunte Meute sitzt. Alles Franzosen aus Métropole.
Der Abend wird feuchtfröhlich. Ein laut brummender Generator sorgt für Elektrizität. Um uns herum wuchert der Dschungel. Wie eine schwarze Wand erhebt er sich um uns. Keine weitere Lichtquelle; nirgendwo. Hier gibt es nur uns und die Gruppe lallender Franzosen. Ein maroder, moosbewachsener Steg führt einige Meter abseits zu einem kleinen Toilettenhäuschen. Die wenigen Schritte weg vom Licht sind bereits aufregend und unheimlich zugleich.
Irgendwann kommt Kokain ins Spiel. Die abenteuerlichen Franzosen machen das Beste aus ihrer Zeit. Es ist die erste Silvesternacht unseres Lebens, die wir ohne Feuerwerk verbringen. Ganz ruhig ist es; vorausgesetzt, die feiernde Gruppe hält für einen Moment den Atem an.
Auch den nächsten Tag verbringen wir auf der hölzernen Terrasse. Es regnet heftig und die Nachwirkungen der zurückliegenden Nacht sind groß. Niemand verspürt besondere Lust, unter diesen Bedingungen in ein Boot zu steigen. So sitzen wir im Dschungel von Französisch Guayana und harren aus, liegen in den Hängematten auf der Terrasse, bis die Wolkendecke wieder aufreißt.
Hmong in Südamerika
Französisch Guayana ist spärlich besiedelt und fast ausschließlich von ausladendem Dschungel bedeckt. Direkt hinter der Stadtgrenze Cayennes beginnt der mächtige Wald. Er dient der Energiegewinnung im Land, die vor allem über die Verbrennung von Holz sichergestellt wird.
Tage verstreichen. Wir verbringen viel Zeit am Strand der vielfältigen Küste rund um Cayenne oder wandern mit Jess, einer Mitbewohnerin Sebastiéns, durch den nahen Dschungel. Sie ist es auch, die uns die weitere Umgebung zeigt. So gelangen wir nach Cacao. Das Dorf liegt etwa 75 Kilometer von Cayenne entfernt. Ein kleines Stück Südostasien in Südamerika. Hier leben die Hmong, Vertreter einer Volksgruppe, die in den 1970er-Jahren kurz nach dem Vietnamkrieg aus Laos und Vietnam flohen und in Französisch Guayana eine neue Heimat fanden.
Da in Französisch Guayana fast alles aus Frankreich importiert wird und die eigene Wirtschaft kaum existiert, sorgen die Hmong mittlerweile für 80 Prozent der landwirtschaftlichen Erzeugnisse im Land. Jeden Sonntag öffnet ein kleiner Wochenmarkt in Cacao, auf dem traditionelles Hmong-Handwerk und laotisches Essen angeboten wird. Vor allem die Marktküche ist so beliebt, dass sich jedes Wochenende Dutzende Autos von Cayenne auf den Weg nach Cacao machen, nur um hier eine warme Suppe zu schlürfen.
Nach zwei Wochen in Cayenne ist es so weit. Wir halten Flugtickets für einen Inlandsflug über den Atlantik in den Händen. Morgen früh landen wir in Paris. Zwei Jahre Südamerika neigen sich dem Ende und wehmütig sitzen wir in der Wartehalle des Flughafenterminals. Adiós américa del sur. Nos vemos otro dia.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.