Masjed-e Shah, Naqsh-e Jahan, Isfahan, Iran
Isfahan ist die halbe Welt 1/3

Isfahan und das politische System im Iran


18. Dezember 2017
Iran
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Schwer schleppen wir unsere Rucksäcke über die breite Schnellstraße, die von Ghom nach Süden in Richtung Isfahan führt. Verkniffenes Lächeln zwingt sich auf unsere Gesichter, als wir Maryam, dieser quirligen, verrückten jungen Frau, ein letztes Mal zuwinken.

Zu gut hatten wir es bei ihr und ihrer Familie und zu gut meinten sie es, als wir uns vor ein paar Minuten von ihnen verabschiedeten. Herzliche Segenswünsche allein waren diesmal nicht ausreichend. Stattdessen wurden wir mit den leckersten Speisen überhäuft: Granatäpfel, süßes Halva, sprödes, keksartiges Sohan aus Pistazien und Ingwer und verschiedene andere Knabbereien im Überfluss.

Unsere freundlichen Hinweise, dass unser Gepäck mit mindestens fünf zusätzlichen Kilo Lebensmitteln viel zu schwer wäre und wir unser nächstes Reiseziel Isfahan bereits in drei bis vier Stunden erreichen würden, verpuffen. Jeglicher Protest unsererseits ist umsonst. Die iranische Großzügigkeit erkennt ein „Nein“ als Antwort nicht an.

Unförmige Beulen wölben sich nun unter den Stoffwänden unserer Rucksäcke, deren Schwerpunkt jetzt viel zu hoch liegt. Die ungewohnt sitzende Traglast schwankt bedrohlich, als wir uns Schritt für Schritt von Maryam entfernen. Hinter einer Mautstelle positionieren wir uns am Straßenrand – unser Schild mit der persischen Aufschrift Isfahan in der einen und eine Tüte iranischer Chips in der anderen Hand.

Es ist ein kalter, klarer Wintertag am Rand der Dasht-e Kavir, der zweitgrößten Wüste des Landes, und nur wenige Fahrzeuge passieren die Mautstation in unserer Richtung. Euphorie wallt durch meinen Körper. Es ist einer dieser Tage, an dem es mir nicht viel ausmachen würde, Stunde um Stunde am Straßenrand zu stehen. Ich genieße es unter einem blauen Himmel zu warten und zu wissen, dass früher oder später jemand anhalten wird.

per Anhalter auf dem Weg nach Isfahan, Iran
per Anhalter auf dem Weg nach Isfahan

Tatsächlich dauert es nicht lange, bis ein Kombi langsam aus einer der Gassen der Mautstation heraus fährt und anstatt geradeaus zu beschleunigen in unsere Richtung abbiegt. In seinem Inneren sitzt eine junge vierköpfige Familie. Vorne lächeln uns die Eltern entgegen, auf der Rückbank schauen uns große Kinderaugen neugierig und zugleich ein wenig skeptisch an.

Als wir unser Gepäck im Kofferraum verstaut haben, winken wir ein letztes Mal Maryam, die noch immer in einiger Entfernung auf einem Parkplatz wartet. Sie wollte unbedingt sehen, wie dieses Reisen per Anhalter funktioniert, von dem wir ihr in den letzten Tagen so viel erzählten. Nun strahlt sie über das ganze Gesicht und verabschiedet uns mit einem lautlosen Khodahafez, auf Wiedersehen.

Als sich die Türen des Autos schließen und wir neben den beiden Mädchen, vielleicht sechs und vier Jahre alt, auf der Rückbank Platz nehmen, haben diese uns schon vollkommen akzeptiert. Bereitwillig zeigen sie uns all ihr Hab und Gut – eine Puppe, ein Bilderbuch, ein paar Stifte und einen Malblock – und führen uns vor, was man damit alles anstellen kann.

Am Rand der Ebene, die einst ein riesiges, urzeitliches Binnenmeer war und nun ihr Dasein als lebensfeindliche Wüste fristet, passieren wir die alte Handelsstadt Kashan und rollen immer weiter in Richtung Süden. Karg ist die Landschaft, die draußen an den Fenstern vorbei zieht. Das Farbspektrum ist gefangen zwischen Grau- und Brauntönen.

Gruppenfoto, Mitfahrgelegenheit nach Isfahan
unsere Mitfahrgelegenheit nach Isfahan

Irgendwo in dieser Ödnis stoppen wir unsere Fahrt. Es ist Zeit für Chai und Knabbereien. Aus einer Thermoskanne fließt dampfender Tee in kleine Plastikbecher und während wir uns mit dem heißen Getränk wärmen, blicken wir hinaus in die Wüste. Wir sind nichts weiter als winzige Punkte in der endlosen Weite. Winzige Punkte, die sich auf die Kofferraumklappe lehnen und in der ausgedehnten Ebene iranische Gastfreundschaft genießen.

Drei Stunden später befinden wir uns nur noch 20 Kilometer vor Isfahan. Hier verlassen wir unsere Mitfahrgelegenheit, die nun in eines der nahen Dörfer von der Schnellstraße abbiegt. Auf einer Autobahnbrücke warten wir auf die nächste Möglichkeit, um weiter nach Isfahan zu gelangen und haben schnell Glück.

Vanilleeis mit Karottensaft und die Picknickkultur in Isfahan

Abdul, ein Mann in seinen Dreißigern mit grau meliertem Haar, lässt uns einsteigen. Zufällig, so stellt sich schnell heraus, wollen wir in die gleiche Nachbarschaft. Zusammen fahren wir nach Zarinshahr, eine Siedlung etwa 30 Minuten südwestlich von Isfahan gelegen, wo wir unseren Gastgeber P treffen.

Doch bevor wir Zarinshahr erreichen, möchte Abdul uns noch eine Spezialität der Region servieren. An einem kleinen Straßenimbiss springt er aus dem Auto und kommt wenig später mit drei großen Plastikbechern zurück, in denen weiße Brocken in einer orangenen Flüssigkeit treiben. Abdul überreicht uns jeweils einen Becher und kündigt ein phänomenales Geschmackserlebnis an. Da sitzen wir nun im Auto, untersuchen den Inhalt der Plastikbecher und lassen uns von Abdul bestätigen, was wir mittlerweile bereits befürchten. Hier schwimmt Vanilleeis in Karottensaft.

Skeptisch werfe ich einen Blick auf unsere Mitfahrgelegenheit, die gerade mit einem Strohhalm Eis und Karottensaft vermischt und anschließend den Becher in großen Zügen genüsslich leert. Zögernd machen wir es ihm nach. Die orangene Flüssigkeit verfärbt sich leicht, wird cremig. Dieser merkwürdige Getränkemix soll also eine Spezialität sein?

Vorsichtig sauge ich am Strohhalm, ziehe den dickflüssigen Saft hinauf und ertränke meine Zweifel in einem süßen, kräftig schmeckenden Shake. Ich bin überrascht von meiner eigenen Begeisterung. Karottensaft und Vanilleeis ist eine kolossale Kombination.

Trampen nach Isfahan
trampen mit Abdul

In Zarinshahr erwartet uns P bereits auf einem Parkplatz, den wir als Treffpunkt vereinbart haben. Mit leicht gebücktem Gang kommt der breitschultrige junge Mann auf uns zu, begrüßt uns mit einem schüchternen Lächeln. Die Hornbrille hängt dem 26-jährigen locker auf der Nase, der Haaransatz oberhalb der Stirn ist nicht mehr ganz voll.

Obwohl am blauen Himmel vom Vormittag nun eine graue Wolkenfront aufgezogen ist, nutzen wir die erste Chance und laden P nicht ganz uneigennützig zum Picknick ein. Unsere Rucksäcke sind noch immer übervoll mit dem besten, was Ghoms Küche an Früchten, Keksen und anderem süßen Backwerk zu bieten hat.

In einem nahen Park machen wir es uns auf einer weiten Decke gemütlich. P ist grundsätzlich immer für ein Picknick vorbereitet. Im Freien zu essen ist einer der beliebtesten Zeitvertreibe im Iran. Egal, ob mit der Familie oder mit Freunden, das Picknick ist iranisches Kulturgut. Oft treffen dabei große Gruppen zusammen, die mehrere Generationen vereinen.

Besonders an Wochenenden und während der Ferien erhebt sich in den Parks, auf Grünflächen, entlang von Flussläufen oder wo immer es schön ist, ein großes Tohuwabohu in dessen Mitte die herrlichsten Kebabs, verschiedenes Gemüse, Brot und Reis gereicht werden.

Viel Obst gehört ebenfalls zum Picknick. Frische Äpfel werden in mundgerechte Stücke zerteilt, Wassermelonen in Scheiben geschnitten und kleine Gurken herumgereicht. Softdrinks oder Dugh, ein iranisches Joghurtgetränk, machen in Literflaschen ihre Runden.

Auch wir können uns nun endlich an all dem erfreuen, was wir von Ghom bis hierher schleppten. Wir öffnen Granatäpfel, knabbern karamellisierte Nüsse und Kekse und bewegen uns allmählich auf einen Zuckerschock zu.

Am späten Nachmittag verdichtet sich die Wolkendecke und schickt eisige Regentropfen auf die Erde. Wir machen uns auf den Weg zu Ps Elternhaus. In der Seitengasse einer Seitengasse befindet sich das dreistöckige Gebäude, dessen obere Etage uns zur Verfügung steht.

Wie überall in iranischen Wohnungen fallen wir vom Treppenhaus durch die Eingangstür direkt ins Wohnzimmer. Ein weiter Raum öffnet sich vor uns, dessen Boden ein schwerer, roter Teppich gänzlich bedeckt.

Dunkle Polstermöbel mit goldverzierten Ornamenten befinden sich entlang der Wände, schwere Vorhänge schmücken die Fenster. In der angrenzenden Küche bereitet P Chai zu und wir richten uns im Nebenzimmer ein, wo dicke, weiche Decken auf dem Boden für uns bereit liegen.

Couchsurfing Iran
mit unserem Gastgeber in Isfahan

Die züngelnden Flammen einer Gasheizung wärmen das Wohnzimmer. P stellt Kerzen auf, deren schummriges Licht eine behagliche Atmosphäre erzeugt. Wir laben uns an süßem Chai und einem Reisgericht, das uns Ps Mutter in der unteren Wohnung zubereitet hat. P wirkt nervös, bedrückt, sein Blick geht ständig hin und her. Er schwitzt viel.

Wohnzimmergespräche in Isfahan: Das Leiden des jungen P

Unser Gastgeber leidet an Depressionen. Er muss es gar nicht aussprechen, damit wir es bemerken. Doch P erzählt, geht offen mit seiner Krankheit um. Für ihn, so fühle ich, ist Couchsurfing ein Ventil, um mit seinen Emotionen und Ängsten umzugehen, sie zu kommunizieren und sich für einen Moment von ihnen zu befreien.

Schon von mehreren Psychologen hat er sich behandeln lassen. Doch Ps Seele ist zart, zu zart für ein Land wie den Iran. Ein Land, das mit religiösem Fanatismus geführt und mit Gesetzen aus lange vergangenen Jahrhunderten regiert wird. Ein Land, das vor allem Verbote zu kennen scheint und wenig für Andersartigkeit übrig hat.

P hat das Pech zur falschen Zeit im falschen Land zu leben. Sein ganzes Wesen scheint eine Opposition zum iranisch-islamischen Alltag zu sein. P ist sensibel, weich, feminin und zu empathisch für eine derart archaische Gesellschaft, wie sie im Iran herrscht. Vielleicht ist er aber auch zu empathisch für ein Land, das von der westlichen Staatengemeinschaft seit Jahrzehnten mit Sanktionen erpresst wird, die nicht die Mächtigen, dafür aber die einfache Bevölkerung hart treffen.

Miniaturgemälde, Tschehel Sotun Palast
Miniaturgemälde im Tschehel Sotun Palast

Wenn ihr unsere Abenteuer und Geschichten gerne auf Papier lesen wollt, dann schaut doch mal hier:

In unserem Buch Per Anhalter nach Indien erzählen wir von unserem packenden Roadtrip durch die Türkei, den Iran und Pakistan. Wir berichten von überwältigender Gastfreundschaft und Herzlichkeit, feiern illegale Partys im Iran, werden von Sandstürmen heimgesucht, treffen die Mafia, Studenten, Soldaten und Prediger. Per Anhalter erkunden wir den Nahen Osten bis zum indischen Subkontinent und lassen dabei keine Mitfahrgelegenheit aus. Unvoreingenommen und wissbegierig lassen wir uns durch teils kaum bereiste Gegenden in Richtung Asien treiben.

2018 Malik, Taschenbuch, 320 Seiten

zum Buch

Iran ist von Druck getrieben: Der Druck, der von außen auf dem Land lastet ist genauso groß wie der Druck, mit dem die iranische Obrigkeit die eigene Gesellschaft drangsaliert. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Inflationsrate ist hoch, ebenso die Arbeitslosigkeit. Doch das Volk schweigt – wird unter Repressalien zum Schweigen gebracht.

Für P ist dieser Zustand unerträglich. Das Volk als Geisel der Obrigkeit, damit kann er sich nicht anfreunden. Dann spricht P von Armut und Bildung, von sozialer Ungerechtigkeit, von religiösen Zwängen, von der autoritären Herrschaft Einzelner.

Im Hintergrund erklingt der Buena Vista Social Club aus Computerboxen: Hasta Siempre, Commandante. P ist ein überzeugter Linker, der einzige, mit dem wir im Iran ins Gespräch kommen, und zerbricht an den unüberbrückbaren Differenzen zwischen seiner Ideologie und der Wirklichkeit.

Die Grüne Bewegung und die Opposition

Dabei schien ein Wandel noch vor wenigen Jahren möglich zu sein. Nach den Präsidentschaftswahlen 2009 erhebt sich eine laute oppositionelle Stimme im Iran. Millionen demonstrieren friedlich in den Straßen gegen eine zweite Amtszeit des damaligen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad. Die Bilder der Proteste gehen als Grüne Bewegung um die Welt.

Das Land vibriert. P lächelt noch heute, wenn er sich an die Hochstimmung erinnert, die damals in der Bevölkerung herrscht. Doch Regierungstruppen schlagen die Grüne Bewegung gewaltsam nieder, stellen ihre Anführer unter Hausarrest und inhaftieren tausende Oppositionelle. Das iranische Regime zertrümmert den Aufstand effizient.

Schon bald danach herrscht Hoffnungslosigkeit in weiten Teilen der Bevölkerung. Ein politischer Umsturz von unten gelingt nicht. Der Opposition fehlt eine gemeinsame Linie. Im Sommer 2009 eint sie der Wunsch den damaligen Präsidenten Ahmadinedschad abzusetzen. Mit dieser Forderung mobilisieren sie die Massen. Doch über das Feindbild hinaus gibt es keinen gemeinschaftsfähigen Plan.

Iranflaggen vor der Khaju-Brücke
Khaju-Brücke in Isfahan

Wie soll es weitergehen, wenn Ahmadinedschad sein Amt verlässt? – Darüber herrschen dutzende verschiedene Ideen. Bis heute ist sich die Opposition nicht klar, in welche Richtung sie ihre Kräfte bündeln soll. Will sie zurück zur Monarchie oder spekuliert sie auf den Neoliberalismus? Will sie einen laizistischen Staat, den die Sozialdemokraten führen oder sollen es die leidenschaftlichen Kommunisten richten?

Es gibt keine Antwort. Selbst den einzelnen politischen Strömungen fehlt häufig ein eigenständiges Programm und so dümpelt die Opposition schwach und antriebslos in einem System, dem sie nichts entgegensetzen kann.

Die Grüne Bewegung hinterlässt ein desillusioniertes Land, in dem Hardliner noch immer mit aller Macht durchgreifen. Viele Iraner sind seitdem paranoid. Sie erwarten die Staatsgewalt lauernd hinter jeder Ecke. Vor allem jungen Iranern wie P macht dieser Aspekt zu schaffen. Sie sind mit den herrschenden Verhältnissen unzufrieden, finden aber keinen politischen Ausweg.

Lehnen sie sich auf, landen sie im Gefängnis; bestenfalls. Unterstützung können sie von niemandem erwarten – schon gar nicht von der bedeutungslosen Opposition. So bleiben sie in einem Zustand des Wartens, Jahr für Jahr für Jahr.

Wenn P das Leben seiner Generation beschreiben soll, wählt er drastische Worte. Die heute Dreißigjährigen gehören für ihn zu einer verlorenen Generation. Einer Generation, die nichts anderes kennt als Repressionen und Verbote. Selbst, wenn sich im Iran irgendwann ein politischer Wandel vollziehen sollte, wird er für sie, und auch für P selbst, zu spät kommen.

Die heutige iranische Jugend ist in einer autoritären Gesellschaft geformt. Die besten Jahre ihres Lebens verbringt sie in diktatorischen Verhältnissen. Ihre Generation wird kaum in der Lage sein, Freiheitsrechte in Anspruch zu nehmen. Auf diesem politischen Nährboden gedeiht deshalb nur eines: Resignation.

Kacheldekoration an der Jame Masjid
Jame Masjid in Isfahan

P erzählt uns von der Niedergeschlagenheit der jungen Iraner. Sie wollen den Wandel, aber haben kein Vertrauen in das iranische Wahlsystem. Demokratie haben sie nie erlebt. Seit Jahrzehnten kennt der Iran nur noch die Diktatur. Zunächst ist es eine monarchische, von den USA unterstützte und geleitete Diktatur, dann, seit 1979, eine religiös-fundamentalistische.

Die letzte souveräne Demokratie im Land stürzt die CIA mit ihrem Putsch gegen den iranischen Premierminister Mohammad Mossadegh 1953. Heute ist das politische System noch immer festgefahren. Seit der Zerschlagung der Grünen Bewegung im Jahr 2009 herrscht oppositioneller Stillstand.

Niemand wagt den Widerstand, niemand formuliert politische Ziele. Niemand glaubt an die Möglichkeit etwas ausrichten zu können. Auch P zuckt nur betrübt mit den Achseln, wenn wir ihn nach seinen politischen Vorstellungen zur Zukunft des Landes befragen. Der Iran verharrt im Wartezustand, ohne zu wissen worauf. So geht es P, so geht es vielen anderen. Es ist wie Becketts Warten auf Godot – ergebnislos.

Wasserspiel auf dem Naqsh-e Jahan, Isfahan, Iran
der Naqsh-e Jahan in Isfahan

Das Wahlsystem im Iran

Das konservative Machtgefüge im Iran lässt sich kaum überwinden. Zwar gibt es die vom Volk unmittelbar gewählten Vertreter, wie den Präsidenten und die Mitglieder des Parlaments, doch das iranische Wahlsystem ist Augenwischerei. Der gewählte Präsident, seit 2013 ist es der gemäßigte Reformer und Theologe Hassan Rohani, ist sowohl Regierungschef als auch Repräsentant des Staates. Doch politisch hauptverantwortlich sind andere.

Die eigentliche Macht im Iran besitzt nicht das Volk, sondern das religiöse Staatsoberhaupt. Ihm unterstehen die Streitkräfte und das Oberhaupt der Justiz. Mit der Gründung der islamischen Republik 1979 übernimmt Ruhollah Khomeini das höchste Amt. Der Führer der islamischen Revolution hält die Befehlsgewalt bis zu seinem Tod 1989. Sein Nachfolger, Ali Khamenei, entscheidet noch heute über die Geschicke des Landes.

Ihm steht ein zwölfköpfiger Wächterrat zur Seite, der sich aus sechs muslimischen Klerikern und sechs islamischen Anwälten zusammensetzt. Es ist diese kleine Gruppe, die über den Iran herrscht. Sie besitzt ein Vetorecht gegen alle Beschlüsse, die im Parlament verabschiedet werden und kann so verhindern, dass Gesetze rechtskräftig werden.

Ganz nebenbei stellt der Wächterrat die Kandidatenlisten für die Wahl des Präsidenten und des Parlaments auf. Nur wer sich bei der Überprüfung durch das höchste Gremium als verfassungstreu, als den Prinzipien des Islam verpflichtet erweist, darf sich dem Volk zur Wahl stellen. Die iranische Verfassung strebt eine Gesellschaft „nach den Grundsätzen und Regeln des Islam“ an. Kandidaten, die einen anderen Glauben besitzen sind demnach verfassungswidrig.

Darüber hinaus untersteht dem religiösen Staatsoberhaupt eine private Armee, der Pasdaran. Sie setzt sich aus mehreren Milizen und der Sittenpolizei, die das Einhalten islamischer Vorschriften überwacht, zusammen. So hält Khamenei Legislative, Exekutive und Judikative in seiner Hand. Die Gewaltenteilung im islamischen Staat ist aufgehoben.

Kuppel der Sheikh Lotfollah Moschee in Isfahan
Kuppel der Sheikh Lotfollah Moschee in Isfahan

Unter diesen Umständen scheint ein Wandel hin zur freien Demokratie, zu Grund- und Freiheitsrechten ausgeschlossen. Selbst ein Parlament voller Reformer wird keine Veränderungen im Land voranbringen können, solange der Wächterrat Einspruch erhebt.

Auf dem Wohnzimmerboden schrumpfen die brennenden Kerzen. Mit dem Wachs sinkt auch unsere Stimmung: Im politischen System des Irans ist die Opposition nicht handlungsfähig. Doch was passiert, wenn sich Menschen leidenschaftslos in ihr Schicksal ergeben?

In seiner Frustration hadert P mit Allem: mit der Politik, mit der Gesellschaft, mit der Religion, mit sich selbst. Er ist gebrochen. So wie P geht es vielen Iranern. Enttäuscht leben sie nur noch vor sich hin – ohne Ziel, ohne Orientierung. Nicht einmal Träume überleben diese Bitternis.

Dabei, so scheint es, fällt es vielen Menschen im Iran schwer, ihren Missmut einordnen zu können. Seit über sechzig Jahren fehlt freie Demokratie im Land und dennoch beschweren sich junge Iraner vor allem über Kleidungsvorschriften, Prohibition und die massiven Einschränkungen im Umgang mit dem anderen Geschlecht.

Demokratische Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit oder Versammlungsfreiheit interessiert sie nur am Rand. Ihre Begierden sind subjektiv, weit entfernt von gesellschaftlichen Notwendigkeiten. P ist einer der wenigen Iraner, der über den Horizont der eigenen Bedürfnisse hinaus schaut und den maroden Zustand der iranischen Gesellschaft erkennt.

Spaziergänger nachts auf der Khaju-Brücke in Isfahan
nachts auf der Khaju-Brücke in Isfahan

Isfahan ist die halbe Welt in drei Teilen

Teil 1: Das politische System im Iran

Teil 2: Die Prachtbauten des Königs

Teil 3: Kunsthandwerk und Satire

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