Erdoğan in Ankara: eine neue Vision für das Land am Bosporus


16. Juli 2017
Türkei
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Über Jahrzehnte spielt sich türkische Politik stets im Schatten Atatürks ab. Doch mittlerweile strahlt ein neues Licht auf der politischen Bühne. Ein ehrgeiziger Mann, der heute in Ankara regiert: Recep Tayyip Erdoğan. Wie Atatürk kommt auch Erdoğan aus einfachen Verhältnissen. Wie Atatürk ist auch Erdoğan ein charismatischer Stratege, dem das Volk schon bald zujubelt. In seiner Kindheit spielt er in den Gassen Istanbuls Fußball, später lernt er an Islamschulen, steigt in die Politik ein, wird 1994, mit gerade 40 Jahren, Oberbürgermeister von Istanbul. In einer Zeit, in der die Islamfeindlichkeit dank atatürkischer Reformen im Land hoch und gläubige Muslime ständigen Diskriminierungen ausgesetzt sind, verspricht seine Karriere trotz oder gerade wegen der bekennenden Religiosität durchaus erfolgreich zu verlaufen. Erdoğan ist niemand, der sich anpasst und das gefällt dem Volk. In der säkularen Türkei vertritt der religiös-konservative Politiker ganz eigene Ansichten, die er nur selten für sich behält.

Er ist nicht einmal vier Jahre im Amt des Oberbürgermeisters, da zitiert er öffentlich ein Gedicht des osmanischen Schriftstellers Ziya Gökalp mit den Worten: „Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln sind unsere Helme, die Moscheen sind unsere Kasernen“. Erdoğan wird weiterhin Sätze sagen wie „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind.“, und damit viel Misstrauen der Eliten und des Militärs ernten. 1998 wird er zu einer Gefängnisstrafe wegen „religiöser Hetze“ verurteilt, von der er vier Monate absitzt. Damals heißt es, Erdoğan sei politisch erledigt. Doch es kommt anders.

Aus der Haft entlassen gründet Erdoğan 2001 die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP), die bereits bei den Parlamentswahlen im Folgejahr die meisten Wählerstimmen für sich gewinnen kann. Im Zug des demokratisch errungenen Sieges verfügt die AKP eine Veränderung der Verfassung, die es Erdoğan erlaubt, wieder am politischen Leben teilzunehmen – diesmal als Ministerpräsident.

die türkische Flagge im Wind
die türkische Flagge

Mehr als zehn Jahre danach hat er die Türkei umgekrempelt: neues Strafrecht, neue Regeln für die Wirtschaft, mehr Rechte für Frauen und religiöse Minderheiten. Doch folgen Erdoğans Reformen keiner Hauruckmentalität, wie es unter Atatürk der Fall war. Er nimmt sich Zeit, sein Umsturz kommt in Raten, ist politisch überlegt und langfristig geplant. Ein wirtschaftlich solider Kurs versetzt das Land in Aufbruchstimmung. Einer, der totgesagt wurde, hat es bis an die Spitze des Staates geschafft.

Atatürks Leitspruch setzt auch Erdoğan erfolgreich um. Er ist die Türkei! Im Ausland kennt man nur sein Gesicht und auch im Inland betreiben er und seine AKP mit überdimensionalen Plakaten und Bildern einen gewaltigen Personenkult. Erdoğan ist der mächtigste Türke seit dem Gründervater Mustafa Kemal Atatürk und wird nicht weniger verehrt. Sein Umfeld ist ihm bedingungslos ergeben. Die engsten politischen Vertrauten verdanken allein Erdoğan ihre Stellung. Wer ihm nicht loyal genug ist, wer Erdoğan politisch herausfordert, wird abgesägt. Politische Posten werden im Zweifel neu vergeben, unbequeme Richter, Anwälte oder Polizisten ins Abseits strafversetzt oder verhaftet. Der Staatsapparat wird in allen Bereichen mit loyalen Getreuen besetzt.

Erdoğans Politik ist so autokratisch wie die Atatürks. Er steht allein an der Spitze und sorgt dafür, dass dies so bleibt. Notfalls ändert er sowohl die Verfassung als auch das politische System im Land. Erdoğan rüttelt an den Grundfesten der Republik und das ist gefährlich. Atatürk, der Staatsgründer, ist noch immer ein Held, das türkische Militär fühlt sich noch immer als Bewahrer und Verteidiger seiner Ideale. Erdoğan hat dagegen andere Pläne. Unter seiner Ägide wird Religiosität wieder salonfähig, der Islam kehrt in den Alltag zurück. Dabei argumentiert die Regierung gleiches Recht für alle herzustellen, auch für die fromme Bevölkerung.

Das von Atatürk in öffentlichen Einrichtungen verbannte Kopftuch ist wieder zurück. Gerade hierin unterscheiden sich der erste und der zwölfte Präsident der Türkei. Die Kopftuchfrage ist in der Türkei hoch politisiert. Sie symbolisiert die Abgrenzung Erdoğans zu alten Eliten und seine Stellung als Erneuerer des Landes, ebenso wie sie es für Atatürk tat – nur unter entgegengesetzten Vorzeichen.

Atatürkportrait als Flagge
Heldenverehrung im Flaggenformat

Doch anders als Atatürk greift Erdoğan weniger ins kulturelle und religiöse Leben ein. Erdoğan ist ein Geschäftsmann. Mit ihm blüht die türkische Wirtschaft auf. Unzählige Bauprojekte werden gestartet und überraschend schnell auch beendet. Skandalöse Ladenhüter wie die Elbphilharmonie oder den BER sucht man in Erdoğans Schaffensperiode vergeblich. Seine Ideologie ist geprägt vom Wunsch eines bedingungslosen Wachstums. Straßen, Brücken, Flughäfen, Wolkenkratzer – der türkische Bauboom macht vor allem Unternehmerfreunde des Präsidenten reich. In diesem Klüngel sehen die konservativen anatolischen Stammwähler der AKP, die Stammwähler Erdoğans, jedoch kein Problem. Vielmehr feiern sie ihr Idol als den „Vater des türkischen Wirtschaftswunders“. Seit er regiert, hat sich das Pro-Kopf-Einkommen im Land verdreifacht. Im öden Flachland Zentralanatoliens entstehen riesige Industriegebiete, die Türkei wird zum Exportland, eine neue Mittelschicht entsteht.

Türkeiflagge mit Atatürk vor einem Haus
Atatürk ist noch immer ein „Süperstar“

An der Macht gibt sich Erdoğan pragmatisch und volksnah. Er schafft es von ganz unten an die Spitze der Türkei und erntet damit Anerkennung. Er ist ein Idol für alle gläubigen Muslime, die Armen und die Landbevölkerung. Er manipuliert die Massen geschickt, gibt den unterschiedlichen politischen aber auch dem religiösen Lager das Gefühl für ihre Belange eintreten zu wollen. Dafür erhält er Zustimmung von Konservativen, Liberalen und Reformern. Seine Rhetorik ist national und religiös, seine Ankündigungen heißblütig und radikal. Erdoğan ist ein geübter Redner. Er weckt Emotionen, provoziert mit seinen Aussagen im In- und Ausland, gibt sich selbstbewusst und angriffslustig, schürt Ressentiments. Dafür lieben ihn die Türken. Erdoğan gibt ihnen das Gefühl, noch immer die wichtige und starke Nation zu sein; so wie es einst das Osmanische Reich war. Sich selbst sieht er in der Rolle des Sultans – alleinherrschend und mächtig. Ein Gebieter, der nur sich selbst Rechenschaft schuldig ist. Bereits 2012 erklärt er, dass Regierung, Parlament und Justiz zu oft gegeneinander arbeiten würden. Die Gewaltenteilung ist in Erdoğans Vorstellung kein Kontrollinstrument, sondern nur Behinderung für eine effiziente Machtgestaltung. Er strebt ein Präsidialsystem an, in dem er allein an der Spitze der Macht steht. Die Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Rechtsprechung sollen ihm faktisch unterstellt sein. Erdoğan agiert taktisch klug. Sich der Unterstützung der Massen gewiss, lässt er sein Vorhaben 2017 mit einem Referendum vom Volk legitimieren.

Widerworte duldet er nicht, von niemanden. Nicht von Demonstranten, nicht von der Opposition, nicht von den Medien. Erdoğan erzieht sein Land mit Twitter-Sperren, größeren Befugnissen für die Polizei, Druck auf Journalisten und anderen Parteien wie der prokurdischen HDP. Seine Herrschaft ist persönlich. Sein Führungsstil ist dem Atatürks nicht unähnlich. Autokratie, Diskriminierung, Unterdrückung, Angriffe auf die Pressefreiheit – all das gab es auch schon unter dem Vater der Türken. Erdoğans zentralistischer Führungsstil und der Personenkult um ihn gehören dazu und es sieht nicht so aus, als ob sich bald etwas ändern würde. Schon jetzt ist Erdoğan länger an der Macht, als jeder andere Politiker vor ihm in der Türkei.

ungenutzte Schnellstraße führt zum Präsidentenpalast in Ankara
der Präsidentenpalast Aksaray und die leere Schnellstraße

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Erdoğan hält die Zügel in der Hand und niemand ist in der Lage sie ihm zu entreißen. Korruptionsvorwürfe gegen seine AKP konnte er schadlos abwehren. Demonstrationen gegen seine autokratische Regierung belasten ihn kaum. Gesetze interessieren ihn nur, wenn sie ihm nutzen. Als das oberste Verwaltungsgericht in Ankara 2013 den Bau des neuen Präsidentenpalastes in einem Naturschutzgebiet untersagt, kontert der Präsident lässig: Der Richter solle das Gebäude doch abreißen lassen, wenn er die Macht dazu habe. Kurze Zeit später erklärt Erdoğan das Naturschutzgebiet in eine Bauzone. Die Machtprobe gelingt. Faktisch ist der Bau illegal, aber Erdoğan zeigt, dass er über dem Gesetz steht.

Seine neue Residenz, der Aksaray, der weiße Palast, ist eine architektonische Wiedergeburt osmanischer Machtdemonstration, zumindest ist es das, was Erdoğan sich wünscht. Andere nennen das Projekt größenwahnsinnig. 40.000 Quadratmeter, mehr als fünf Fußballfelder, umfasst das Gebäude. Es ist damit sechsmal größer als das Weiße Haus in Washington. 280 Millionen Euro kostet das Anwesen mit seinen 1.000 Zimmern, unterirdischen Fluchtwegen und einem abhörsicheren Bunker, der Schutz vor Bomben und Chemiewaffen bietet.

Präsidentenpalast Aksaray im Naturschutzgebiet
Aksaray – überdimensional im Naturschutzgebiet

Der Palast ist schier gigantisch. Als wir von dem Projekt hören, klingt es in unseren Ohren so fantastisch und unvorstellbar, dass wir es sehen wollen. Doch es ist gar nicht so einfach, den Regierungs- und Wohnsitz des Präsidenten zu erreichen. Natürlich gibt es keine Bushaltestelle vor der Haustür. Wir müssen uns lange durch die Stadt fragen, bis wir einen Bus finden, der uns zumindest in der Nähe absetzen kann. An einer Kreuzung steigen wir aus und stehen an einer achtspurigen Schnellstraße. Laternenpfähle grenzen beide Fahrtrichtungen voneinander ab. Die Straße führt einen Hügel hinauf, eine Handvoll Taxis jagen auf ihr hinweg. Warum hier acht Spuren nebeneinanderliegen scheint unbegreiflich. Am Verkehr liegt es jedenfalls nicht. Schon aus großer Entfernung sehen wir die riesenhaften Säulen und weiten Spitzdächer des mächtigen Gebäudes. Umgeben von Erdhaufen und frisch angelegten Baumreihen ragt es unnatürlich groß in den Himmel. Davor parken Autos und Lieferwagen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Schnellstraße führt eine oval geformte Tartanbahn zwischen Bäumen entlang. Vom Naturschutzgebiet fehlt jede Spur.

Präsidentenpalast in Ankara
Ein Symbol für den Machtanspruch

Der Präsidentenpalast macht Eindruck, vor allem weil schon sein Äußeres offenbart, wie unnötig das Gebäude eigentlich ist. Viel zu gewaltig, viel zu gigantisch steht es da, untermauert Erdoğans Selbstverständnis von Macht und Stärke. Es ist eine weitere autokratische Demonstration eines starken Mannes in der Türkei. Wieder ist Ankara Schauplatz einer solchen Aufführung. Das ist das Schicksal der Stadt seit Mustafa Kemal. Ankara ist solchen Auswüchsen auch unter dem emsigen Eiferer Erdoğan ausgeliefert. In der Stadt entscheidet sich nicht das erste Mal türkische Geschichte. Es lohnt sich ein Auge auf Ankara zu werfen. Nicht für die Gegenwart, sondern für die Zukunft des Landes, die sich hier andeutet.

Popeye-schaukel in Ankara
auch Popeye blickt gespannt auf Ankara

Ankara, Stadt der zwei starken Männer in zwei Teilen

Teil 1: Atatürk, der General von Ankara

Teil 2: Erdoğan und eine neue Vision für das Land am Bosporus

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