Regen trommelt im Staccato auf das Wellblech über unseren Köpfen. Wasser tropft von meiner Nasenspitze, rollt aus meinen Augenbrauen über die Schläfen, kitzelt die Haut unter der Kleidung mit unangenehmer Kälte. Wir sehen aus wie begossene Pudel: klatschnass, geflohen vor einem tropischen Wolkenguss, den sich nur vorstellen kann, wer ihn einmal erlebt hat. Doch hier im Süden Bangladeschs, hier an der sandigen Küste in der Nähe der Stadt Chittagong, sind die Menschen daran gewöhnt.
Wenn das Wasser wie aus Eimern vom Himmel fällt, pausiert der Alltag. Mit einer Meute Arbeiter – Tagelöhner, die mit dem Be- und Entladen von Schiffen ihre tägliche Portion Reis verdienen – und ein paar Reisenden, die auf gepackten Koffern und schweren Reisetaschen hocken, sitzen wir in einem einfachen Hafenrestaurant am Kumira Ghat. Auf dem schmierigen Betonboden sammelt sich das Wasser, das aus der Kleidung der Wartenden tropft. Die fleckigen Wände sind ganz nah an der Grenze zum Schäbigen und selbst der servierte Cha, der allseits beliebte Milchtee, schmeckt nur nach einer verbrannten Brühe.
Wir sind ganz weit weg von Zuhause. Weit entfernt von einer Welt, die auch im Regen noch heimelig ist. Die Wirklichkeit um uns ist eine andere und der heftige Regen das geringste Problem. Nach einer guten dreiviertel Stunde beruhigt sich der Trommelsturm auf dem Wellblech über uns. Nur noch vereinzelte Schläge versprechen das baldige Ende des Wolkenbruchs. Zaghaft recken die ersten Reisenden die Köpfe aus dem Unterschlupf hervor, während die Arbeiter schon wieder ins freie eilen, um die verlorene Arbeitszeit aufzuholen.
Über ihnen hängen bedrohlich dunkle Wolken bis zum Horizont am Himmel. Das Wetter ist so trüb, wie unsere Kleidung nass. Eine langgestreckte Mole führt kahl und aschfahl hinaus in den Golf von Bengalen. Ihr Beton ist so grau wie der Himmel, so grau wie das Wasser, so grau wie das schlammige Ufer. Jede Farbe geht hier verloren. Schwermut liegt in der Luft. Das Ende scheint nah. Riesige Gerippe, nur wenige hundert Meter von der Mole entfernt, fangen unseren Blick. Dort, aufgelaufen auf dem sandig weichen Ufer, befinden sich die Überreste zweier gigantischer Containerschiffe. Wie angenagt sehen sie aus. Nichts weiter als traurige Wracks dessen, was einmal der Stolz einer Reederei und das Zuhause eines Kapitäns und seiner Mannschaft war.
Die Abwrackindustrie – Arbeit mit dem Tod
Hier am Kumira Ghat sind wir am nördlichen Ende eines der weltweit größten Recyclingdocks der Schifffahrt. Vor uns liegt das Zentrum der Abwrackindustrie Bangladeschs – nach der Textilverarbeitung einer der wichtigsten Arbeitgeber und zugleich der wohl gefährlichste Industriezweig des Landes. Etwa 150.000 Bengalen leben von der Verschrottung ausrangierter Hochseeschiffe, die aus aller Welt hierher geliefert werden. An einem zehn Kilometer langen Strandabschnitt liegen hier Dutzende Stahlriesen ganz nah am Ufer auf sandigem Grund. Gewaltige Schiffskörper, die, nur noch Geister ihrer selbst, darauf warten in ihre Einzelteile zerlegt zu werden. Meterhohe Löcher klaffen in den Bordwänden.
Auf den Decks lodern winzige Feuer. Ein paar Arbeiter kraxeln auf den Kolossen herum. Gelegentlich sprühen Funken über die Metallplatten eines Schiffsrumpfes hinaus. Der Abbau ist Schwerstarbeit. Allein mit Vorschlaghämmern und Metallschneidern nehmen die Arbeiter die widerstandsfähigen Schiffsrümpfe auseinander. Es dauert Monate, bis so ein Titan des Meeres abgebaut ist.
Weil der schlammige, sandige Untergrund zu weich ist, als dass auf ihm schwere Maschinen eingesetzt werden könnten, zerlegen die Arbeiter die bis zu 20.000 Tonnen schweren Schiffe allein mit Muskelkraft und Lötlampen. Nur die Schwerkraft leistet ihnen Hilfe. Der Arbeitsschutz ist genauso niedrig, wie die Löhne. Beides passt in das düstere Bild dieses verregneten Tages.
Tausende nicht qualifizierte, schlecht ausgerüstete Arbeiter zerren oft barfuß riesige Metallplatten ans Ufer, arbeiten ohne Atemschutz und Schutzbrillen, ohne Sicherheitsgurte. Schweißer hantieren mit Sonnenbrillen, um wenigstens den Anschein eines seriösen Handwerkers zu wahren.
Die Arbeit ist hart, endet oft tödlich. Zwischen 1990 und 2010 kommen allein in Bangladesch rund 1.000 Arbeiter während der Abwrackarbeiten ums Leben. Sie werden von abstürzenden Metallplatten erschlagen, fallen aus großer Höhe in den Tod oder sterben bei Explosionen im Schiffskörper. Anderen werden Gliedmaßen abgerissen. Die Liste der Unfallrisiken ist lang. Asbest, Schwermetalle, Ölrückstände, Biozide, Chlore und andere giftige Stoffe sind „Arbeitskollegen“ in diesem Geschäft. Noch immer sterben in jedem Jahr etwa 20 Arbeiter. Spätfolgen wie Lungenkrebs sind da noch nicht mitgezählt. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Arbeiters in der Abwrackindustrie Bangladeschs beträgt gerade einmal 40 Jahre.
Ironischer Weise gilt das Abwracken von Schiffen als besonders nachhaltig. Jede Schraube, jedes noch so kleine Metallstück wird recycelt. Das Problem in Bangladesch, aber auch in Abwrackhäfen in Indien und Pakistan, ist die nicht vorhandene Infrastruktur. So fehlt es an geeigneten Möglichkeiten den Giftmüll der ausgedienten Schiffe richtig zu lagern oder aufzubereiten. Nach europäischem Recht dürfen Industrienationen deshalb keine Schiffe in Entwicklungsländer wie Bangladesch zum Verschrotten verkaufen.
Das schmutzige Geschäft mit alten Schiffen
Doch das europäische Recht ist ein zahnloser Tiger. Europäische und auch deutsche Reeder verkaufen ihre Schiffe an Zwischenhändler – sogenannte Cash Buyer – außerhalb Europas, die dann wiederum die Schiffe mit größtmöglichem Gewinn an die Abwrackunternehmen in Südasien vermitteln. Ein Riesengeschäft für alle Beteiligten.
Weg mit der Verantwortung, her mit der Kohle!
Hier auf der Mole blicken wir tief in das fragwürdige Selbstverständnis der Industrienationen. Während wir uns in Europa rühmen, dass alles hübsch sauber ist, verursacht unser Müll und Dreck am anderen Ende der Welt den größten Schaden. Jedes einzelne Schiff im Schlamm von Bangladesch verdeutlicht die treibenden Kräfte kapitalistischer Marktwirtschaft: Raffgier und Gleichgültigkeit.
Dabei besitzt jeder Reeder ein Vetorecht, das er geltend machen kann, um das Abwracken der eigenen Schiffe in fragwürdigen Verhältnissen wie in Bangladesch zu verhindern. Gebrauch davon machen nur wenige, denn zertifizierte Abwrackwerften, wie es sie in der Türkei, Dänemark oder den USA gibt, bringen den Reedereien keinerlei Gewinne. Zu hoch sind Lohnkosten und Umweltstandards, als dass ein anständiges Abwracken zusätzlichen Profit abwerfen könnte.
So landen jedes Jahr hunderte Containerschiffe an den Stränden vor Chittagong. Hier bietet das gefährliche Abwracken eine zweifelhafte Lebensgrundlage für diejenigen, denen es im bitterarmen Bangladesch an jeglicher Perspektive fehlt.
Draußen auf der Mole ist es diesig und kalt. Trostlos schauen wir hinaus in den erneut einsetzenden Regen, trostlos liegen die Schiffswracks vor uns im Schlamm. Ein apokalyptisches Bild im grauen Schleier himmlischer Fluten. Auf halber Strecken zwischen uns und den Schiffsgerippen ducken sich vier Arbeiter unter einen Schirm. Der graue Vorhang des Regens zwingt sie zur Pause. Durchatmen.
Noch vor einigen Jahren galt die Abwrackindustrie als inoffizielle Touristenattraktion in Bangladesch. Menschen kamen, um mit eigenen Augen zu sehen, wie hier gearbeitet wird. Schocktourismus könnte man das nennen. Noch immer kommen Fotografen regelmäßig hierher auf der Suche nach atemberaubenden, surrealen Motiven. Doch mittlerweile gleichen die Grundstücke der Abwrackunternehmen Festungen. Hohe Zäune und Wachpersonal kontrollieren den Zutritt. Abgeschnitten von der Außenwelt darf niemand mehr herein. Die Presse war schlecht, die Unternehmen stehen am Pranger. Dabei sind sie so wichtig, wie kaum ein anderer Wirtschaftszweig in Bangladesch. Bis zu sechzig Prozent des im Land benutzten Stahls stammt von abgewrackten Schiffen. Steuern in Millionenhöhe gehen an den Staat. Im nahegelegenen Chittagong werden Türen, Betten und Kücheneinrichtungen aus den Ozeanriesen verkauft.
Das schmutzige Geschäft läuft; trotz aller Kritik. Drei Gründe sprechen für Bangladesch:
1.) Arbeitskraft ist billig
2.) Sicherheitsstandards existieren praktisch nicht
3.) Umweltschutzgesetze sind, wenn überhaupt angewandt, weit dehnbar
Für immer neue Auflaufflächen im ufernahen Gewässer wurden zehntausende Mangrovenbäume, das Herz des regionalen Ökosystems, abgeholzt. Giftstoffe sickern aus den Schiffen ins Meer und in den Boden, wo sie nicht nur dutzende Arten maritimen Lebens, sondern auch die Grundlage der lokalen Fischerei gefährden.
Für uns liegt all das verborgen hinter dem grauen Schleier des Regens. Wir fliehen zurück an Land und weiter ins Dorf Kumira. Nicht mehr als zwei oder drei Straßen, flankiert von Wellblech- und Holzhütten. Dicke Tropfen fallen auf die erdigen Pisten, sammeln sich in Kuhlen und Mulden. Diesmal finden wir Unterschlupf in einem niedrigen Teestand, einem Tong, wie sie in Bangladesch sagen. Der Cha schmeckt süß und kräftig, wesentlich besser als im Hafenrestaurant. Mit jedem Schluck ordnen wir unsere Gedanken neu. Abwracken in Bangladesch – eine Katastrophe auf so vielen Ebenen und zugleich so wichtig für das Land. Abwracken in Bangladesch – ein Beispiel für das Schlechte der globalen Weltwirtschaft. Abwracken in Bangladesch – Lebensgefährlicher Alltag voller surrealer Bilder. Das Knäuel im Kopf können wir nicht lösen.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.
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