Cali, Kolumbien, Titel
Salsa-Fieber in Kolumbiens rauer Arbeiterstadt

Cali


23. September 2021
Kolumbien
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Unter all den Städten Kolumbiens ist Cali die vielleicht eigenwilligste, denn sie präsentiert sich nicht gerade auf dem Silbertablett. Die Arbeiterstadt im Süden Kolumbiens wirkt rau und unnahbar. Landwirtschaft und Industrie prägen die Region. Das Leben ist hart. Ästhetik ein unnützes Anhängsel.

Zwei Millionen Menschen leben in den Straßen der Stadt, drängen sich von einem Termin zum nächsten. In den Häuserschluchten hetzen sie durch den abendlichen Berufsverkehr. Dazwischen stehen wir. Es ist heiß. Auch in den Stunden der Dämmerung ist die Temperatur noch enorm. Unsere Rucksäcke wiegen schwer auf den Schultern.

Verschwitzt kämpfen wir uns durch die Stadt, die uns alles andere als umgarnt. Das mag ehrlich sein, aber im Augenblick wäre uns ein wenig zuvorkommende Zuneigung ganz lieb. Leicht bekleidete Menschen kommen uns entgegen. Ihre Gesichter sind von einem dünnen Schweißfilm benetzt. Aus großen Boxen wummert an jeder Ecke ein neuer, feuriger Salsarhythmus. Es ist eine Musik, die in dieser hitzigen Atmosphäre geboren zu sein scheint.

Iglesia Ermita, Cali, Kolumbien

Barrio Popular und das kolumbianische Klassensystem

Im Mio, Calis Transportsystem, drängen sich die Menschen eng aneinander. Unser Einsteigen in den Bus wird nicht von allen Mitfahrenden wohlwollend aufgenommen. Zu groß ist unser Gepäck und zu klein das Platzangebot. Etwa zwei Stunden fahren wir durch die Stadt. Bankgebäude ziehen draußen an den Fenstern vorbei, Einkaufszentren, Straßenmärkte, Wohnviertel. Erst nach Einbruch der Dunkelheit steigen wir wieder aus und befinden uns weit außerhalb des Stadtzentrums.

Wir sind in einem sogenannten Barrio Popular gelandet, einem Arbeiterviertel. Enge Gassen und unverputzte Häuser prägen das Bild. Vieles hier wirkt zusammengewürfelt, errichtet in rechtlichen Grauzonen. Manchen Häusern fehlen ganze Wände, Fensterscheiben gibt es kaum, Eisenstangen ragen aus dem Beton.

Mit Juan Carlos, unserem Gastgeber in Cali, laufen wir durch die Straßen seiner Nachbarschaft. Ein paar Jugendliche kommen uns mit wiegendem Schritt entgegen. Sie tragen Shorts und Muskelshirts und grüßen Juan Carlos per Handschlag. Genauso wie die Frau am Imbissstand, die Kinder auf dem Bordstein, der Motorradtaxifahrer – Juan Carlos kennt sie alle, grüßt jeden, hält hier und da einen Plausch. Wir sind in seinem Block.

Barrio Popular, Cali, Kolumbien
Barrio Popular, Cali, Kolumbien

Kolumbiens Sozial- und Gesellschaftsordnung ist seit 1994 in sechs Klassen gegliedert. Sie reichen von Klasse 1, der ärmsten Gesellschaftsschicht, bis hinauf zur Klasse 6, der reichen Oberschicht. Knapp 90 Prozent der Kolumbianer leben in den ersten drei sozialökonomischen Klassen. Dieses System bringt Vorteile. So betragen die Kosten für Elektrizität, Internet, Wasser und Bildung in den unteren Klassen nur einen Bruchteil dessen, was die Oberschicht zahlen muss. Andererseits entstehen schnell soziale Vorurteile: Sag‘ mir, wo du wohnst und ich sage dir, wer du bist.

Das Barrio Popular, durch das wir mit Juan Carlos spazieren, gehört zu einer der unteren gesellschaftlichen Klassen und hier werden wir für ein paar Tage den kolumbianischen Alltag kennenlernen. Zusammen mit seinen Eltern, zwei Geschwistern, Großeltern und einer Tante wohnt Juan Carlos auf zwei Stockwerken eines unverputzten Backsteinhauses. Ein Hund und drei Katzen gehören ebenfalls dazu. Unser Empfang ist herzlich, wenn auch übermütig. Es ist Freitag Abend und die gesamte Familie scheint betrunken zu sein. Auch uns wird bereits auf der Türschwelle das erste Bier angeboten.

Unser Schlafplatz ist ein Bett im Zelt auf der Terrasse im ersten Stock. Gemütlich und geräumig. Daneben klafft ein riesiges Loch hinunter in den Innenhof. Blumenkästen dekorieren die Abbruchkante und sollen vor dem direkten Absturz schützen. Unter einem Wellblechdach befindet sich die Küche. Ein Campingtisch und drei Maischefässer dienen als improvisierte Ablage- und Arbeitsflächen. Die Wände im Wohnzimmer sind unverputzt, die Fenster ohne Glas und auch an der nach unten führenden Betontreppe suchen wir das Geländer vergebens. Innentüren gibt es nicht. Stattdessen verdecken Vorhänge die Durchgänge von einem Zimmer ins nächste.

Couchsurfing in Cali, Kolumbien
Couchsurfing in Cali, Kolumbien
Couchsurfing in Cali, Kolumbien

Salsa, die Seele Kolumbiens

Juan Carlos führt uns aus. Gemeinsam kehren wir zurück ins Stadtzentrum Calis. Entlang der Avenida 6 reihen sich Restaurants, Bars und Klubs aneinander. Hier treffen wir uns mit Einheimischen und Gringos, allesamt Teil der Couchsurfing-Gemeinschaft, und betreten eines der vielen Tanzlokale. An der Eingangstür wartet Sicherheitspersonal, das jeden Gast nach Waffen absucht.

Kolumbien lebt für Salsa und nicht wenige Kolumbianer verstehen die Musik als Seele Lateinamerikas. Egal, ob aus Freude oder aus Schmerz, überall im Land tanzen die Menschen. Cali, die raue Arbeiterstadt, ist Salsa-Zentrum. Hierher blickt ganz Kolumbien, wenn es um Innovation und Begeisterung geht. Die Salsaschritte sind ausgefallener, der Tanzstil schneller, intensiver und wesentlich körperbetonter als anderswo. Eine Herausforderung; gerade für meine norddeutsche Hüftsteifheit.

Im Tanzlokal geht es ausgelassen zu. Aguardiente, Kolumbiens Nationalgetränk, fließt in Strömen und jede Menge Salsa dröhnt aus den Boxen. Wir tanzen, bis nach ein paar Stunden Unruhe in unsere Gruppe kommt. Innerhalb weniger Augenblicke beschließt Juan Carlos den Aufbruch und verspricht uns einen, wie er sagt, „richtigen“ Salsa Klub.

Plaza San Francisco, Altstadt, Cali, Kolumbien
Menschen in Cali, Kolumbien
Straßenszene in Cali, Kolumbien

Eine halbe Stunde später müssen sich meine Augen an grelles Licht gewöhnen. Sind die Tanzflächen der Welt meist spärlich beleuchtet, so strahlt das Parkett in dem Salsa Klub, den wir gerade betreten, als wäre es helllichter Tag. Juan Carlos scheint zufrieden und verschwindet zwischen den unzähligen tanzenden Paaren.

Salsa muss gesehen werden und dafür braucht es Licht. Wie sollten wir sonst all die herumwirbelnden Körper bewundern. Nur mühsam begreife ich, dass wir nicht nur zum Beobachten hier sind und bewege mich etwas mulmig auf die Tanzfläche. Zwischen all den leidenschaftlich Tanzenden wird mir schlagartig bewusst, dass meine in Popayán erworbenen Salsa-Fähigkeiten hier nicht ausreichen werden. Salsa tanzen in Cali – vielleicht mein bisher größtes Abenteuer.

Bis zum Morgengrauen erleben wir das Tanzspektakel mit der hart arbeitenden Bevölkerung Calis als Hauptstarsteller. Doch damit nicht genug. Nur wenige Stunden später – die meisten davon verbringen wir schlafend – stehen wir mit Juan Carlos‘ Mutter in einer schier endlosen Schlange und warten auf den Einlass zum Finale des „Festival Mundial de Salsa de Cali“, der jährlich stattfindenden Salsa-Weltmeisterschaften.

Teatro Municipal, Cali, Kolumbien
Die Dächer von Cali, Kolumbien
Iglesia de la Merced, Cali, Kolumbien

Die Salsa-Weltmeisterschaft in Cali

In sieben Tagen streiten mehr als 4.000 Tänzer und Musiker um die zu vergebenden Titel. Die besten der Welt, heißt es, seien in der ‚Hauptstadt der Salsa‘ dabei. Tatsächlich sind am Finaltag nur noch eine Salsaschule aus Ecuador und zwei aus dem kolumbianischen Medellín vertreten. Die restlichen Finalteilnehmer stammen allesamt aus Cali.

Doch das ist umso besser für die Stimmung im Stadion. Wie beim Fußball hat jede Salsaschule ihre Fanlager mitgebracht. Mit bunten Fahnen winken sie von den Rängen und feuern ihr „Team“ lautstark an. Auch wir sind mit Emotionen dabei, denn Juan Carlos‘ jüngerer Bruder Jaime tanzt im Finale.

In fünf Kategorien mit jeweils sieben Teilnehmern wird getanzt. Sowohl als Paar als auch in der Gruppe. Meine liebste Kategorie ist der Baile Caleño, der Tanzstil Calis. In atemberaubender Geschwindigkeit fliegen die Tänzer:innen über die Bühne. Ihre Füße bewegen sich so schnell, dass das Publikum in schreiendes Gejohle und ausufernde Begeisterungsstürme ausbricht.

Doch auch die Gruppenvorführungen suchen ihres Gleichen. Frauen werden in glitzernden Kostümen meterweit in die Luft geschleudert und menschliche Pyramiden gebaut. Was dort auf der Bühne geschieht ist mehr als ein Tanz, es ist eine Performance. Mehr als sieben Stunden schauen wir dem Finale zu. Auch plötzlich einbrechender Regen vertreibt uns nicht von den Rängen. Am Ende werden wir belohnt. Jaimes Salsaschule aus dem Barrio Popular, in dem wir leben, siegt in drei der fünf Kategorien und darf sich mit den Weltmeistertiteln schmücken.

Die Salsa-Weltmeisterschaften in Cali sind eine der größten nationalen Veranstaltungen. Landesweit werden die Tänze übertragen und unzählige Begeisterte fiebern vor den Fernsehgeräten in ganz Kolumbien mit. Auch als wir zurück nach Hause kommen, sitzen Juan Carlos und der Rest der Familie, noch immer gebannt vor dem Fernseher. Es läuft die Nachberichterstattung. Noch immer werden Zeitlupenaufnahmen der Tänze gezeigt, noch immer spricht der Moderator mit Begeisterung über das Finale. Auch bei uns im Wohnzimmer herrscht eine aufgeregte Diskussion über die vorgeführten Tänze, die mich sehr an Stammtischgespräche über Abseits und nicht gegebene Tore im Fußball erinnern.

Salsa Weltmeisterschaft, Cali, Kolumbien
Salsa Weltmeisterschaft, Cali, Kolumbien

Der Kater vom Fluss

Nach so viel Salsa wollen wir am nächsten Tag etwas mehr von Cali kennenlernen und machen uns erneut auf den Weg ins Zentrum. Wir schlendern vorbei an kolonialen Kirchen, über die zentrale Plaza de Caycedo bis zum Teatro Municipal. Dann folgen wir dem Flusslauf des Rios Cali, der die Stadt in der Mitte teilt. An seinen Ufern laden Bänke zum Verweilen ein. Auf dem Boulevard daneben sind Skater unterwegs.

Inmitten eines lang gezogenen Parks befindet sich Calis bekannteste Statue und heimliches Wahrzeichen: der Kater vom Fluss. Der kleine Faulpelz sitzt gemütlich in der Sonne. Zufrieden lächelt die Skulptur des kolumbianischen Künstlers Hernando Tejada vor sich hin und das nicht ohne Grund. Der pelzige Junggeselle ist heiß begehrt. Im Park stellen ihm nicht weniger als 15 Katzen nach.

Jede wurde von einem nationalen Künstler gestaltet und soll einen der kolumbianischen Frauentypen darstellen. Da sind die Intellektuelle, die Diva, die Leidenschaftliche oder die Kokette. Die Miezen wollen den Kater verführen, doch egal wie sie es versuchen, der Bursche bleibt bei sich.

Straßenbild, Cali, Kolumbien
Cali ist Punk, Kolumbien

Cali und Kokain

Vom Fluss steigen wir hinauf ins historische Viertel San Antonio. Hier ist vom geschäftigen Cali kaum noch etwas zu spüren. Kopfsteinpflaster zieren die Straßen. Niedrige, schattige Kolonialbauten säumen die Gassen. Oben auf dem Hügel treffen sich Einheimische und Touristen vor der Kirche San Antonio. Sie sonnen sich um Gras und genießen die Aussicht auf die Stadt. Am Abend werden Biere herumgereicht, hier und da riecht es nach Marihuana.

Kolumbiens bekanntestes Exportgut Kokain fällt uns hier nicht auf. Doch Calis Geschichte hängt eng mit dem Handel des Rauschgifts zusammen. Bis in die 90er-Jahre hinein kontrollierte das Cali-Kartell 80 Prozent der Kokainexporte in die USA. Neben dem Drogenhandel gehörten Geldwäsche, Bestechung und Gewalt zum Geschäftsbereich, bevor das Kartell Mitte der 90er Jahre zerschlagen wurde.

Heute regeln kleinere, nicht miteinander vernetzte Gruppen den Drogenhandel in und um Cali. Vielleicht einer der Gründe, warum die Stadt keinen besonders sicheren Ruf genießt.

Doch wozu auch? Die Stadt genügt sich selbst, ist lebendig, geschäftig – auch wenn sie an ein paar Stellen etwas abgewetzt und schmutzig erscheint. Cali will niemandem gefallen.

Wir treffen einige Europäer und US-Amerikaner, die hier in Cali leben. Für die meisten von ihnen sollte es lediglich ein Aufenthalt auf Zeit werden, der dann zur großen Leidenschaft heranwuchs. Eine Leidenschaft für eine raue Stadt, die berüchtigt ist für wilde Partynächte. Cali sei keine Stadt für einen kurzen Bummel, erzählen sie uns. Dem hastenden Besucher öffnet sie sich nicht gerne. Cali sei eine Stadt zum Leben, denn dann gebe sie viel Liebe zurück.

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öffentlicher Schreiber, Cali, Kolumbien
Kirche San Antonio, Cali, Kolumbien
Hügel San Antonio, Cali, Kolumbien

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