Atmen. Tief ein und lange aus. Gleich noch einmal. Wunderbar. Nach Wochen im Altiplano, der andinen Hochgebirgsebene, ist es ein befreiendes Gefühl, mit vollem Elan die Lungen zu füllen. Wir können wieder Straßen entlang laufen und uns gleichzeitig ohne Atemnot unterhalten. Nachts wälzen wir uns nicht mehr unentwegt in den Schlaf oder wachen kurzatmig auf. Treppensteigen funktioniert wieder ohne längere Pausen. Wir fühlen uns frisch; lebendig. Die Sonne scheint. Hier in Arequipa ist es auch endlich angenehm warm.
Ihr mildes Klima verdankt die Stadt dem 75 Kilometer Luftlinie entfernten Pazifik. Zwar befinden wir uns auf 2.300 Höhenmetern, aber der wärmespeichernde Ozean sorgt auch hier noch ganzjährig für Temperaturen von über 20 °C. Das Leben ist schön. In Arequipa, dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum des südlichen Perus, mehr noch als in anderen Orten des Landes. In der historischen Altstadt funkeln die aus weißem Vulkangestein geschlagenen Mauersteine der kolonialen Gebäude in den Strahlen der Mittagssonne.
Als Teil des Pazifischen Feuerrings grummeln gleich zwei Vulkane in unmittelbarer Nähe der Stadt. Einer von ihnen, der Schichtvulkan Misti, liegt so nah, dass bei einem Ausbruch ausgestoßene Schlamm- und Schuttlawinen bis in die Wohnviertel der Stadt rollen könnten. Erdbeben gehören in dieser Region zum Alltag. Der Untergrund ist aktiv. Seismografen registrieren durchschnittlich zwölf Erdbewegungen am Tag.
Plaza de Armas
Davon unbeeindruckt tummeln sich die Arequipeños auf der herrlichen Plaza de Armas, die von einer beeindruckenden Kathedrale überragt wird. Früher ein Militärplatz und anschließend ein geschäftiger Markt, laden nun Bänke zum Verweilen ein. Hier diskutiert man leidenschaftlich über Land und Politik, und wenn die Zunge überhitzt, wird sie mit hausgemachter Eiscreme abgekühlt. Das für Arequipa typische queso helado, ein gefrorenes Gemenge aus Milch, Kokosnuss, Vanille, Zimt und Nelken, wird hier mit Herzenslust verzehrt.
Palmen säumen den zentralen Platz, dessen Mitte ein mehrstufiger Springbrunnen ziert. Tauben sitzen auf den Beckenrändern. Sie flattern zwischen der Plaza de Armas und den nahen Balkonen der umstehenden Gebäude umher, bevor sie sich zwischen fein säuberlich getrimmten Bäumen, Büschen und Hecken niederlassen. Zu Hunderten flanieren sie mit wackelnden Köpfen und warten auf Maiskörner, die ihnen von allen Seiten zugeworfen werden. Gurrend trippeln die Tauben heran, picken unter staunendem Kinderlachen ganz Futterberge auf.
Gute Laune hier; auch, weil der Rausch nicht weit ist. In Arequipas Altstadt verkaufen Hippies und Vagabunden Freundschaftsarmbänder und sobald wir mit ihnen ins Gespräch kommen, jede erdenkliche Droge. Es verwundert nicht. Arequipa ist eine Handelsstadt, verbindet Häfen mit andinem Hochland. Hier werden Wolle und Wein produziert. Kokablätter gehören zum Alltag. Es herrscht viel Durchlauf. An Zeitungskiosken hängen die Neuigkeiten des Landes aus. Ältere Herren stehen gemeinsam davor und diskutieren die Schlagzeilen. Taxis fahren hupend durch die schmalen Gassen der Innenstadt.
Das Kloster Santa Catalina
Arequipa ist eine geschäftige Stadt. Doch nur ein paar Häuserblöcke von der Plaza den Armas entfernt, kehrt andächtige Ruhe ein. Hinter hohen Mauern befindet sich hier die riesige, rund 20.000 m² umfassende Klosteranlage Santa Catalina. Gegründet 1579 war sie ein religiös-elitärer Klub mit der kompletten Infrastruktur luxuriösen Glaubens. Wie im 16. Jahrhundert in Spanien üblich, wollten auch die reichen spanischen Einwandererfamilien in Peru ihre zweitgeborenen Töchter ins Kloster stecken. Sie sollten hier eine geeignete Bildung und die Lehre Gottes erhalten, wofür jede Anwärterin mit 2.400 Silbermünzen ins Kloster eingekauft werden musste.
Als ob die Kassen der katholischen Kirche nicht voll genug wären, verlangten die Ordensschwestern dazu Gemälde und Statuen, aber auch Gegenstände des täglichen Gebrauchs wie Lampen und Gewänder als Mitgift. Eine umfassende Dienerschaft lebte ebenfalls in den Klostermauern. Sie nahm den wohlhabenden Insassinnen die Alltagsarbeit ab. Jeglicher Aufgabe entbunden, war Frommsein ein beinahe spaßiges Unterfangen – vor allem in den feudal ausgestatteten Zimmern. Noch heute schmücken seidene Vorhänge und chinesisches Porzellan die Wohnräume.
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2016 Malik NG, Taschenbuch, 432 Seiten
In Santa Catalina lebten bis zu 150 Nonnen gemeinsam, die von 300 Bedienstete versorgt wurden. Das Kloster ist zu jener Zeit beinahe autark, besitzt eine eigene Bäckerei, eine Krankenstation und eigene Brunnen. Doch die Nonnen haben ein Imageproblem. Das Kloster ist nicht unbedingt berüchtigt, aber besonders regeltreu geht es hier auch nicht zu. Die Kunde verbreitet sich, dass im Kloster in Arequipa viel Geld zirkuliert, aber die gelebte Frömmigkeit dem Anspruch der Kirche hinterherhinkt.
Bis nach Europa gelangen die Geschichten und erreichen dort Papst Pius IX, der 1871 die Dominikanerin Sr. Josefa Cadena ins Santa Catalina entsendet. Sie soll das Kloster auf den richtigen Weg zurückbringen. Zunächst deckelt sie die Kassen und lässt die opulenten Einnahmen nach Europa senden. Außerdem entlässt sie Dienstbotinnen und Arbeiterinnen; stellt beide Gruppen vor die Wahl künftig als Nonnen im Konvent zu leben oder Santa Catalina zu verlassen.
Die Stadt in der Stadt
Wie die Gebäude in der Altstadt Arequipas wurde auch die Klosteranlage aus Vulkangestein errichtet. Es absorbiert den Lärm der umliegenden, viel befahrenen Straßen und kaum betreten wir das riesige Kloster, ist es ungewohnt still. Die hohen Mauern, die die Nonnen vor den Verlockungen der Außenwelt abschirmen sollten, verschlucken jedes Geräusch. In den Kreuzgängen und Kapellen der Anlage verlassen wir Peru. Die nach spanischen Städten benannten Gassen innerhalb des Komplexes, die Schlichtheit der steinernen, rot, blau und weiß getünchte Wände, die bunten Blumen auf den Fensterbänken, die schmalen Gassen und die alles verschlingende Stille wirken wie ein andalusisches Bergdorf aus vergangenen Jahrhunderten.
Für ein paar Momente spiele ich mit dem Gedanken, in ein Kloster einzutreten. Diese friedliche Stille, die sich beruhigend aufs Gemüt legt, möchte ich für immer genießen dürfen. Aber dann lese ich das Kleingedruckte. Die Novizinnen unterliegen einem Schweigegelübde und dürfen, bevor sie zur Nonne aufsteigen, mehrere Jahre lang nur zum Unterricht für täglich drei Stunden ihr Zimmer verlassen. Den Rest der Zeit bleiben sie im eigenen Kämmerlein und versuchen eine Beziehung zu Gott aufzubauen. Das ist mir dann doch zu stressig. Allein den Bediensteten ist es gestattet, das Kloster für Einkäufe zu verlassen.
Heute leben noch etwa zwanzig Nonnen in einem der Öffentlichkeit unzugänglichen Abschnitt des Klosters. Der Rest der Anlage ist seit der Öffnung 1970 eine hübsche Sehenswürdigkeit der Stadt. Die Ruhe hier macht zufrieden. Ich könnte Stunden in einem der Innenhöfe sitze. An einen Orangenbaum gelehnt, würde ich mich von der Sonne mit Vitamin D volltanken lassen und ein Buch lesen. Vielleicht ja Vargas Llosa, den schleppe ich sowieso gerade mit mir herum. Der Schriftsteller, Politiker und Journalist ist ein Kind der Stadt. Geboren in Arequipa wurde er zu einem der führenden lateinamerikanischen Romanautoren und beinahe peruanischer Staatspräsident. Das hat nicht geklappt. Dafür gab es zwanzig Jahre später den Nobelpreis für Literatur.
Gerade lese ich das Buch „Tante Julia und der Schreibkünstler“. Es ist eine witzige Geschichte über Liebe und Schreiben und über die Liebe zum Schreiben. Ein bisschen Wahn ist auch dabei; anders hält man die Wirklichkeit nicht aus. Plötzlich bin ich mir nicht sicher, ob das die richtige Lektüre für ein Kloster ist. Die katholische Kirche hat ja ihre eigenen wahnwitzigen Erzählungen. Dann doch lieber zurück auf die Plaza de Armas. Im warmen Licht der sich senkenden Sonne halte ich ein queso helado in der Hand. Das Leben ist schön. In Arequipa mehr noch als in anderen Orten des Landes.
Literatur im Vorbeigehen
Als politischer Romanautor und Essayist ist Mario Vargas Llosa weit über die Grenzen Perus hinaus erfolgreich. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt er 1996 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2010 den Nobelpreis für Literatur.
Tante Julia und der Schreibkünstler ist einer der berühmtesten Romane der lateinamerikanischen Literatur und der beliebteste Roman Vargas Llosas: eine rasante Liebes- und Gesellschaftskomödie voll lebensklugem Witz.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.
Hallo,
interessant und schöne fotos.
seid ihr noch unterwegs ?
Grüße