Immer dieses Hipster-Gerede. Vollbart, Hosenträger, Europalette als Untersetzer für Soja-Latte-Macchiato. Erbärmlicher Abklatsch. Für mich gibt und gab es nur einen wahren Hipster: Christian Buddenbrook. Ohne Pflichtgefühl und auf gesellschaftliche Konventionen pfeifend, ist er nicht nur das schwarze Schaf einer Lübecker Handelsfamilie, sondern auch Lebemann und verrückter Hypochonder.
Nach einer Lehre in London lässt ihn Thomas Mann für einige Jahre in Valaparaíso leben. Hager, geschunden, bleich und mager kehrt er zurück ins behütete Lübeck. Doch sein verschwenderischer Lebensstil in der chilenischen Hafenstadt hat ihn gezeichnet. Dem körperlichen Verfall zum Trotz ist er vor allem eines: begeistert. Christian kann nicht aufhören, von Valparaíso zu schwärmen. Doch was genau der Bohemien dort getrieben hat, erfährt der Leser nie.
Darum mussten wir selbst hinfahren.
Im 19. Jahrhundert war Valparaíso ein Welthafen. Der Panamakanal existierte noch nicht und die Stadt schwappte nur so über vor englischen und hanseatischen Kaufleuten. Die Boheme jener Zeit baute sich mit den finanziellen Mitteln des Welthandels dicke Häuser. Auf den über 40 Hügeln, die die Pazifik-Bucht entlang schwingen, entstanden regelrechte Paläste und schmucke Büros. Hier trank sich die feine Gesellschaft wohl jeden Tag die Hucke voll.
Valparaíso, dem Verfall zum Trotz
Heute ist Valparaíso eine in die Jahre gekommene Hafenstadt. Und wie jede andere in die Jahre gekommene Hafenstadt ist Valpo alt, gammelig und stinkig. Doch da ist noch mehr. Valparaíso ist alt, gammelig, stinkig und verdammt cool.
Die bonbonfarbenen Wellblechhäuser, aufgehübscht mit altem Schiffslack, thronen windschief auf den Hügeln über der Pazifikküste. Graffiti-Künstler und unzufriedene Studenten geben der Stadt ein Gesicht. Jede Wand ist bemalt, besprüht, beschrieben. Steile Treppen ragen in Kurven, die sonst nicht zu erklimmenden Hügeln hinauf. Auf jeder Stufe eine Zeile eines Gedichtes, ein Bild, ein Spruch. Jede Treppe, ein Gesamtkunstwerk. Die ganze Stadt scheint ein riesiger Spielplatz für Künstler zu sein. Eine gigantische Leinwand. ‚Tobt euch aus‘, ruft es aus allen Ecken den Kreativen entgegen.
Es stinkt nach Pisse. Es ist schmutzig, der Beton ist rissig. Riesige Löcher klaffen im Boden. Wasser sammelt sich darin. Von den Wellblechhäusern blättern die letzten vier Lackschichten gleichzeitig ab. Überall hängen Wäscheleinen. Stromkabel zerschneiden den Himmel. Straßenhunde liegen auf den Stufen der Stadt. Katzen hocken auf dem Mauerwerk und beobachten mit gleichgültiger Miene die Vorbeigehenden. Auf den Hügeln gleichen die Häuser aufeinandergestapelten bunten Schuhkartons. Die Fenster zeigen hinaus zum Pazifik, auf die Bucht, auf den Hafen, auf die Schiffe. Es sieht so aus, als ob jeden Moment alles in sich zusammenfallen könnte. Vielleicht ist die Valparaíso auch nur ein gigantisches Kartenhaus?
Zwischen all dem Dreck in den schmalen dunklen Gassen lässt ein Jugendlicher die Sprühdose fallen. Ein Hund bellt vor einem gelben Wellblechhaus. Daneben thront ein Palast aus der Belle Époque. Auch sie ist noch immer da; ist nur ein bisschen stinkig geworden.
Die Straßen führen in Schlangenlinien durch die Stadt, die Hügel rauf und runter. Hier eine sanfte Kurve, dort eine steile Steigung. Valparaíso ist von Natur aus ein Meuterer. Das prägende, für koloniale Städte Südamerikas so übliche Schachbrettmuster hatte hier keine Chance.
Nachts schlendern wir durch menschenleere Gassen. Unten, in der Nähe zum Hafen, werfen Laternen gelbes Licht auf parkenden Autos. Plötzlich ruft eine Stimme flehend: „Ayudame! Amigo, ayudame!“ – „Hilf mir! Freund, hilf mir!“ Niemand ist zu sehen, doch die Stimme ist ganz nah. Ein weiterer Ruf. Ein Blick zum Bordstein. Dort lugt ein junger Mann zwischen Bodenblech und Asphalt empor. Die Schirmmütze hängt schief auf seinem Kopf. Seine Augen fixieren uns.
Wie zum Geier bist du denn dahin gekommen, frage ich mich und gehe in die Hocke. Meine ausgestreckte Hand wird nicht erwidert. Stattdessen erneut: „Ayudame!“ Es ist eine merkwürdige Situation, aber normal gibt es in Valpo nicht. Also greife ich nach den Schultern des Mannes, ziehe ihn unter dem Auto hervor. Noch immer bleiben seine Arme unbeweglich, verschränkt hinter dem Rücken.
Im nächsten Augenblick entgleitet mir das Geschehen. Mit einer raschen Bewegung steht der Mann auf beiden Beinen. Zeitgleich dringen aufgebrachte Schreie vom oberen Ende der Straße herüber. Ich schaue nach links und sehe drei Polizisten auf uns losstürmen. Ich schaue nach rechts und sehe den jungen Mann, der die Straße hinunter hechtet. Die Hände noch immer hinter dem Rücken, gefesselt mit Handschellen. Zeit, das Weite zu suchen. Für ihn, aber auch für uns. Die Polizisten jagen dem Entflohenen hinterher. Wir wählen die entgegengesetzte Richtung.
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2016 Malik NG, Taschenbuch, 432 Seiten
Schatten der Bohemiens
Valparaísos charakteristische Hügel werden seit über 100 Jahre mit Standseilbahnen befahren. An den Hang gelehnt sind sie die schnellste Verbindung zwischen Unter- und Oberstadt. Stahlseile zerren an den hölzernen Fahrstuhlwagen der alten Aufzüge. Langsam geht es nach oben. Meter für Meter ruckeln wir hinauf und möchten der altertümlichen Konstruktion kaum trauen. Um uns herum klappert, klackt und rattert es in furchterregender Lautstärke. Aus den verkratzten und vergilbten Fenstern hinaus können wir die Bucht nur verschwommen erkennen.
Wir stellen sie uns vor: Die jungen Bohemiens, die hier um 19. Jahrhundert Geschäfte machten und ihren Erfolg betranken. Hübsche Frauen durften natürlich nicht fehlen. Hübsche Frauen in umständlichen Kleidern mit unzähligen Unterröcken und einem schier gigantischen Rockdurchmesser. In den Standseilbahnen der Stadt wurden sie elegant die Hügel hinauf befördert. Damals waren die Aufzüge eine luxuriöse technische Errungenschaft, geführt von einem Schaffner, der erhobenen Hauptes langsam den Schalter für den Bewegungsmechanismus umlegte und dabei bestimmt wie ein alter Seefahrer aussah, der schon alle sieben Weltmeere bereiste.
Beim Aussteigen klart die Sicht auf. Das verschwommene Bild aus den vergilbten Fenstern weicht einem bunten Panorama. Der dunkel ruhende Pazifik, die große Bucht und davor ein farbenfrohes Durcheinander. Es ist ein Anblick, den wir eine Weile wirken lassen, um ihn gänzlich zu erfassen.
Valparaíso ist ein zweckloses Wimmelbild. Niemand muss hier gefunden werden. Unzählige Hafenspelunken, urige Bars und Restaurants werden von Studenten und Künstlern bevölkert. Maler, Dichter, Musiker und linke Intellektuelle; alle zieht es in hierher – in Chiles kulturelle Hauptstadt. Hier finden sie, was es im nahen Santiago de Chile nicht gibt. Eine lebendige Kunst- und Kulturszene.
Pablo Neruda, einflussreicher chilenischer Dichter und Politiker, ließ sich ebenfalls von Valparaíso inspirieren. Auf einem der vielen Hügel bezog er ein verschachteltes, mit steilen Treppen ausgestattetes Haus, das ihm einen Panoramablick über Stadt und Bucht erlaubte. Neruda gefiel sich als „Vagabund von Valparaíso“ und widmete der Hafenstadt die vielleicht schönsten und ehrlichsten Zeilen. Absurde nackte Stadt, die sich niemals kämt, schrieb er. Verrückter Hafen; immer wieder vom Leben überrascht. Tätowiert mit Kampf und Hoffnung. Widerstand.
Valparaíso ist mehr als eine Stadt. Es ist ein Gefühl. Legitim und legal sind hier nicht immer deckungsgleich und so entsteht eine spannende Atmosphäre, wie sie in keinem anderen Ort des Landes möglich wäre. Erst recht nicht in der zehn Kilometer entfernten Schwesterstadt Viña del Mar.
Viña del Mar, die Schwesterstadt
Viña del Mar ist in allem das Gegenteil von Valparaíso. An einem endlos breiten und endlos schönen Sandstrand wäre die Stadt gern ein chilenisches Monte Carlo. Die mondäne Küstenstadt beherbergt den einen oder anderen Prominenten, ist sauber, schick und schnöselig. Mit zahlreichen Spielcasinos, Filmfestivals und internationalen Sportturnieren wird geprotzt. Die chilenische Schickeria verbringt hier ihren Urlaub und fotografiert sich vor dem Wahrzeichen der Stadt – einer aus Blumen gebauten Uhr.
Während in Valparaíso vor wenigen Jahren noch heftig gegen den geplanten Bau des ersten Shoppingcenters der Stadt demonstriert wurde, reihen sich in Viña del Mar große gläserne Einkaufspaläste aneinander. Ständig joggen hier alle, werfen mit Brocken englischer Sprache um sich, weil das weltgewandt und geschäftig klingt. Hier fühlen sich die Menschen toll, wenn sie ihre Gesichter liften lassen können.
Unsere Gastgeber in Viña del Mar sind ein homosexuelles, sehr gut betuchtes junges Paar im Reichenviertel Reñaca. Ihre pompöse Wohnung liegt direkt am Meer. Jedes Zimmer ist mit einem gigantischen Panoramafenster ausgestattet, das den Blick auf den Pazifik und bei Nacht auf die Lichter von Valparaíso freigibt.
Viña del Mar bietet Luxus und doch wirkt die Stadt kühl; zu sauber, zu steril. Das ungeordnete Lichtermeer Valparaísos weckt dagegen Sehnsucht. Wir sitzen in einer der unzähligen schummrigen Hafenspelunken und trinken Bier an einem Ecktisch. Am Tresen kommen sie zusammen, die Verrückten, die fragwürdigen Erscheinungen, die Sammler und Jäger in einer heruntergekommenen und doch so charmanten Stadt. So wie einst Christian Buddenbrook zieht Valparaíso auch uns in ihren Bann. Wir verstehen, warum Thomas Mann nie wissen ließ, was genau Christian Buddenbrook in Valparaíso erlebte. Denn so ist jeder aufgefordert, es selbst herauszufinden.
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Aus dem hohen Norden Deutschlands hinaus in die Welt: 2011 zieht es Morten und Rochssare für zwei Jahre per Anhalter und mit Couchsurfing auf den südamerikanischen Kontinent. Genauso geht es nun weiter. Jetzt jedoch in die andere Richtung. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Es gibt noch viel zu entdecken.
Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen in der National Geographic Reihe bei Malik.