Meghalaya
Per Anhalter durch den Nordosten Indiens

Road Trippinˈ – Heroin am Straßenrand


15. Juni 2019
Indien
6 Kommentare

Ist das das Dümmste, was wir jemals getan haben?!

Wir stehen vor einer kleinen, provisorisch zusammengezimmerten Bude am Straßenrand kurz hinter Shillong und bestellen den viel zu süßen Chai, an den wir uns nach all der Zeit in Indien so gewöhnt haben. Mittlerweile akzeptieren wir den Chai als das, was er für die Inder ist: Eine kleine Stärkung, wenn man eigentlich etwas zu essen bräuchte, ein Energielieferant, der gerade durch den vielen Zucker die Lebensgeister wieder wecken soll. In trüben Glasbehältern, die sorgsam aufgereiht auf der Theke stehen, schwirren Fliegen um alte Glukose-Kekse (für den Extrakick an Energie), während der Chai Wallah den mit Kardamom, Ingwer und Zimt verfeinerten Milchtee in hohem Bogen gekonnt durch ein Sieb schüttet, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan.

Auch wenn hier im abgelegenen Nordosten Indiens alles anders zu sein scheint, die Gesichter der Bewohner mehr an Südostasien, China und Bhutan erinnern, als an die der Metropolen Mumbai, Neu-Delhi oder Chennai – die Liebe zum Chai bleibt unverändert.

Wir wollen nach Guwahati, die Provinzhauptstadt des benachbarten Bundesstaates Assam. Es liegen etwas mehr als 100 km vor uns; drei Stunden, wenn alles gut läuft. In zahlreichen Kurven werden wir Stück für Stück fast 1.500 Höhenmeter absteigen, bis sich in Guwahati, fast auf Meereshöhe gelegen, die klebrige Hitze des Julis wieder auf unsere Haut legt.

Meghalaya
Meghalaya: saftig grüne Hügel und viel Regen

Einsteigen, losfahren

Wir warten noch nicht lange, als ein Kleinwagen hält. Drei junge Männer winken uns lässig ins Wageninnere. Wir haben dasselbe Ziel. Die Jungs aus Guwahati wollen zurück nach Hause und nehmen uns mit. Ein schneller Blick auf den Fahrer mit dem sympathischen Lockenkopf – vielleicht ist er Anfang 20 – genügt, um zu wissen, zu wem wir ins Auto steigen: indische Rich Kids. Innig geliebte, überversorgte und bereitwillig verwöhnte Vorzeigekinder gut betuchter indischer Familien der Oberschicht. Ein geschniegeltes Äußeres, schicke Markenklamotten aus Übersee, ein so selbstsicheres Auftreten, das man nur haben kann, wenn man von dem Gros der indischen Gesellschaft ein Leben lang mit unterwürfigem Respekt auf Händen getragen wurde. Das einwandfreie Englisch, das an den hiesigen Privatschulen gelehrt wird, schwirrt durch den Raum.

„Und?“, fragt Morten, um das Eis zu brechen. „Wart ihr übers Wochenende in Shillong?“

Shillong ist an den Wochenenden überfüllt mit Besuchern aus Guwahati, die vor der Hitze Assams in die kühlen Berge Meghalayas fliehen. Sie machen es den britischen Kolonialherren gleich, die damals den Bundesstaat Meghalaya liebevoll „das Schottland des Ostens“ tauften. Wir haben gestern nicht einmal mehr ein Hotelzimmer ergattern können und haben die Nacht in unserem Zelt im Garten des eleganten Shillong Clubs mitten in der Stadt verbracht. Irgendjemand hatte vergessen, die großen, verschnörkelten Gittertore zu verschließen.

„Nein“, antwortet der Lockenkopf unbekümmert. „Wir sind vor fünf Minuten erst angekommen.“

Aha! Innerlich muss ich über dieses unverhohlene Geständnis schmunzeln. Es gibt wohl nur einen Grund, warum drei junge Männer 100 km in die nächste Stadt fahren, um fünf Minuten später wieder davon zu rauschen: Drogen.

Der Fall ist so gut wie gelöst, Sherlock.

wandern durch den Regen
Meghalaya ist der regenreichste Bundesstaat Indiens

Falsche Fährte

Die Jungs werden sich was zu rauchen geholt haben, sage ich mir noch und merke nicht, wie naiv dieser Gedanke ist. In Indien muss man nicht 100 km fahren, um Haschisch zu besorgen. In Indien muss man fünf Meter bis zum nächsten Rikschafahrer gehen.

Doch auch die aufgekratzte Stimmung im Auto passt zu meiner Theorie der kürzlich stattgefundenen Drogenbeschaffung. Es ist ganz eindeutig die Euphorie vor dem Konsum.

Mortens Gesprächsversuch wird weitestgehend ignoriert. Die Jungs sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, zu aufgedreht. Der Lockenkopf drückt beharrlich auf die Hupe und brüllt die anderen Verkehrsteilnehmer durch das offene Fenster hindurch an. Der Beifahrer, dessen Gesicht ich noch immer nicht gesehen habe, lacht unentwegt glucksend. Worüber ist nicht eindeutig erkennbar. Der Dritte, der neben uns auf der Rückbank sitzt, ruft ständig etwas auf Assamesisch dazwischen und amüsiert sich über das Gesagte selbst am meisten.

Wir sitzen schweigend dazwischen.   

Etwa 20 Minuten nachdem wir eingestiegen sind, schickt sich der Lockenkopf an links ranzufahren. „Sorry guys!“, beginnt er unvermittelt. „Um ehrlich zu sein sind wir alle drei drogenabhängige Junkies. Wir haben uns gerade Heroin gekauft und müssen uns jetzt kurz einen Schuss setzen. Ihr habt doch nichts dagegen, oder?“ Dann lächelt er sein einnehmendes Oberschicht-Lächeln.

typisches Frühstück in Indien; Puri Sabzi und Chai am Straßenrand

Noch während er redet, wird mir schlagartig flau im Magen. Mir gehen tausend Sachen gleichzeitig durch den Kopf. Aber eigentlich denke ich nur: Raus hier! Wir müssen so schnell wie möglich raus aus diesem Auto.

Doch eine vertraute Stimme neben mir kommt mir knarzend zuvor: „Das hier ist dein Auto, bhai. Solange du noch fahren kannst, kannst du hier drin machen, was du willst.“

Ruckartig blicke ich Morten mit weit aufgerissenen Augen an. Die anderen quittieren seine Antwort nur mit stummem Nicken, als hätten sie nichts anderes erwartet. Was zum Teufel? Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Doch in der erwartungsvollen Stille des Autos bleibe auch ich stumm. Der Dritte neben uns auf der Rückbank kramt auch schon eine kleine Tasche aus seinem Rucksack hervor, reicht wortlos Utensilien nach vorne. Ich bin wie gelähmt.

An dieser Stelle muss ich zugeben, dass ich noch nie viel mit Drogen am Hut hatte. Erst Recht kenne ich niemanden, der schon mal Heroin genommen hat. Ich kenne nicht mal jemanden, der jemanden kennt, der schon mal Heroin genommen hat. Kurzum: Ich habe keine Ahnung, was hier gleich passieren wird; in diesem sehr kleinen Raum, den wir uns mit drei Typen teilen, die von sich selbst behaupten Junkies zu sein. Liegen die Jungs gleich völlig benommen mit nach hinten abgeknickten Köpfen, die Spritze noch in der Vene neben uns im Auto? Und kann man, wenn man Heroin genommen hat, überhaupt noch einiger Maßen fahren?

posen in traditioneller Kleidung, Schillong
Erinnerungsfotos in traditioneller Kleidung

Ich bin noch damit beschäftigt, irgendwo einen klaren Gedanken aufzutreiben, da bereiten die Jungs auch schon behutsam ihren Schuss vor. Es ist jetzt ganz still im Auto. Verstohlen beobachte ich jeden ihrer Schritte, blicke aus den Augenwinkeln über Morten hinweg zu dem Dritten, der neben uns sitzt. Wie er das weiße Pulver aus dem gewissenhaft gefalteten Päckchen aus Alufolie mit Wasser mischt, es auf einem eigens dafür vorgesehenen großen Löffel mit hohem Rand über seinem Feuerzeug erhitzt. Wie er, total konzentriert, alles auf seinen gegeneinandergedrückten Knien anrichtet.

Warum steigen wir nicht einfach aus?

Wie er eine Spritze aus ihrer Verpackung befreit, seinen Arm abbindet, das nun köchelnde Gemisch durch einen rosafarbenen Filter auf die Spritze zieht, eine Vene sucht.

Heroin im Blut

Mit Erleichterung stelle ich fest, dass der Lockenkopf – anders als der gesichtslose Beifahrer, der auch mit einem Löffel hantiert – das Heroin schnupft und rede mir ein, dass er so bestimmt besser fahren kann.

Währenddessen setzen die beiden anderen Jungs die Nadeln an, injizieren das Heroin. Ein paar Sekunden später fahren wir schon wieder, als sei nichts gewesen. Die Stimmung im Auto ist gelöst, viel angenehmer als am Anfang der Fahrt. Hin und wieder wechseln die Jungs ein paar Worte miteinander. Ansonsten herrscht Stille. Der Lockenkopf macht einen ganz vernünftigen Eindruck, lenkt das Auto kontrolliert und diesmal sogar entspannt durch das indische Verkehrschaos. Da habe ich schon schlimmere Fahrer erlebt – und die waren nüchtern. Ich beruhige mich ein wenig.

Meghalaya
Meghalaya, das Schottland des Ostens

Keine 30 Minuten später halten wir erneut links an. Der Dritte braucht den nächsten Schuss. Wieder kramt er die kleine Tasche aus seinem Rucksack hervor, bereitet alles sorgfältig zu. Jetzt ist es ihm sichtlich unangenehm. Er schämt sich für seine Abhängigkeit, entschuldigt sich kleinlaut für die Umstände, als er das Heroin anmischt. Vier Augenpaare sind lautlos auf ihn gerichtet.

„Fangt bloß nicht damit an. Heroin ist die beschissenste Droge, die es gibt.“, warnt er uns, als die aufgelöste Droge bereits auf seinem Löffel köchelt.

Der Lockenkopf und der Gesichtslose pflichten ihm bei. Seit acht Jahren ist er schon heroinabhängig, erzählt uns der Dritte, als er sich den Arm mit einem alten Stück Stoff abbindet. Mit 17 hat er angefangen. Gemeinsam fahren sie jeden Tag 100 km nach Shillong, um das Heroin zu besorgen.

„Wäre es da nicht einfacher, direkt nach Shillong zu ziehen, als acht Jahre lang jeden Tag sechs Stunden im Auto zu sitzen?“ Solch pragmatische Fragen kann in so einer Situation auch nur Morten stellen. Die drei Jungs fangen gleichzeitig an verstohlen zu grinsen. Sie wohnten doch noch alle bei ihren Eltern.

Packliste

Packliste

Unsere Ausrüstung muss einiges aushalten. Seit über 7,5 Jahren sind wir dauerhaft unterwegs und strapazieren unser Hab und Gut im täglichen Einsatz. Einiges hat bei uns nur kurze Zeit überlebt, doch anderes bewährt sich mittlerweile seit Jahren und wir sind von der Qualität überzeugt. Unsere Empfehlungen könnt ihr hier nachlesen.

Familienpflichten

„Für die beiden ist das alles kein Problem.“ Mit dem Kinn deutet der Dritte auf seine Freunde. Der Schuss ist gesetzt, wir fahren wieder. „Die haben reiche Eltern. Meine Familie ist nicht reich. Für mich ist das hier viel Geld.“ Erst jetzt, da er das Wort an uns richtet, blicke ich ihm direkt ins Gesicht. Seine Augen liegen in tiefen Höhlen, seine Zähne sind schlecht. Seine längeren Haare werden von einem Haarband gezähmt.

Für ein Gramm Heroin, so berichtet der Dritte, zahlt er in Shillong 500 Rupien, etwas mehr als sechs Euro. Schlechtere Qualität gibt es bereits für weniger als vier Euro pro Gramm. Die Droge kommt aus dem benachbarten Myanmar, dem weltweit zweitgrößten Produzenten für Opium, der Basis für Heroin. Über den unwegsamen Nordosten Indiens gelangt die Droge bis in die Megastädte Mumbai und Neu-Delhi.

Die beiden anderen Jungs werden bald lebhafter.

Der Lockenkopf sagt Mantras in Sanskrit auf. Schneller und schneller formen sich die immer gleichen Worte in seinem Mund, sind mehr zeitgemäßer Sprechgesang als Gebet. Zuhause in Guwahati spielen die drei in einer Band, erzählen sie. Digital Suicide*.

Fleischer in Meghalaya
Fleischer in Meghalaya
Straßenbau in Meghalaya
Straßenbau in Meghalaya

Die Gesangseinlage erfährt ein abruptes Ende. Mit einem eindringlichen „Schhh“ und hektischen Armbewegungen fordert der Gesichtslose sofortige und absolute Ruhe. Seine Mutter ruft an.

Auch sonst erfüllen die jungen Männer nicht die üblichen Klischees Heroinabhängiger. Da ist kein Erbrochenes, keine schmutzige Bahnhofstoilette, kein Rausch unter der Brücke. Mit dem Lockenkopf posieren wir auf Selfies für seine Verlobte. Die mehrtägige Hochzeitsfeier findet noch in diesem Jahr statt.

Und bald schon halten wir an einem Obststand am Straßenrand und begutachten eingehend die Auslage. Die Mutter des Dritten hat ebenfalls angerufen. Er soll doch bitte Ananas und Gurken mitbringen, wenn er nach Hause kommt. Und die prüft er vor dem Kauf gewissenhaft. Die Ananas aus Meghalaya sind über die Provinzgrenzen hinaus als die schmackhaftesten Ananas in ganz Indien bekannt. So süß und saftig wie hier sind sie nirgendwo sonst. Und außerdem sind sie überdurchschnittlich groß. Auch uns werden zwei riesige Exemplare als Geschenk in die Hand gedrückt.

Fürsorgliche Heroin-Junkies

In Guwahati angekommen, halten wir an einer Bushaltestelle. Die Jungs wohnen hier um die Ecke, wir müssen ans andere Ende der Stadt. Unser Bus lässt auf sich warten. Doch die drei bestehen darauf, gemeinsam mit uns auszuharren. „Ihr seid Ausländer. Der Busfahrer verlangt von euch bestimmt den doppelten Preis.“ Sie wollen bei uns bleiben und sichergehen, dass wir nicht übers Ohr gehauen werden. Ein Ticket kostet 8 Rupien, umgerechnet 10 Cent.

Eine halbe Stunde später nähert sich endlich der Bus. Zum Abschied falten die drei fürsorglichen Junkies ihre Hände höflich vor der Brust und nicken mir leicht mit dem Kopf zu, bevor sie Morten herzlich die Hand schütteln. In zwei Tagen sei die Geburtstagsparty eines Freundes. Wir sollten doch vorbeikommen.

* Name geändert

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Baum Trippinˈ in Guwahati
Promenade in Guwahati
der Brahmaputra in Guwahati
Sonnenuntergang über dem Brahmaputra in Guwahati

Und jetzt du!

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  • Steve
    16. Juni 2019

    Hallo, ihr seid euch hoffentlich darüber im Klaren, dass dieser Artikel und die Erwähnung des bandnamens für die drei katastrophale folgen haben wird ?
    Löscht den bandnamen doch so schnell wie möglich; evtl stimmt er ja doch iwie.


    • Morten & Rochssare
      16. Juni 2019

      Hallo Steve,
      vielen Dank für deinen Kommentar. Opium und Heroin sind im Nordosten Indiens so weit verbreitet, dass ein Artikel wie dieser nicht viel Aufsehen erheben würde. Du hast mit dem Bandnamen aber natürlich Recht. Wir haben es geändert.
      Liebe Grüße


  • Tobias Hebert
    16. Juni 2019

    Ich beneide euch sooo für das Leben das Ihr führt .. Ich bin so kurz davor hier alles hin zu schmeißen und abzuhauen .. <3 Love & Greets Toby


    • Morten & Rochssare
      16. Juni 2019

      Hey Toby, es ist schon irre, was wir so erleben. Aber ob diese Heroingeschichte jetzt dein Grund sein sollte alles hinzuschmeißen…vielleicht nicht 🙂
      Liebe Grüße


  • 20. Juni 2019

    Wow! Was für eine Wahnsinns-Geschichte. Es war unglaublich spannend zu lesen und wieder mal interessant zu erfahren, dass man Menschen nicht von vorn herein in Schubladen stecken und mit Vorurteilen begegnen sollte. Ich freue mich riesig, euren Blog gerade entdeckt zu haben! Endlich richtige Geschichten vom Reisen statt der 100sten Ultimativen Packliste und den 10 besten Hotspots in XY … 😉

    Beste Grüße,
    Josephine


    • Morten & Rochssare
      20. Juni 2019

      Liebe Josephine,
      wir danken dir für deine herzlichen Worte und deine Unterstützung! Es freut uns ungemein, dass wir dich mit unserem Blog erreichen.